Eigentlich glaubte auch ich ihr nicht. Ich hatte einfach den Eindruck, daß sie zu jenen Frauen gehörte, die sich leicht von Gefühlen fortreißen lassen, und daß sie beim Erzählen die Dinge durcheinanderbrachte. Doch ich kehrte zu dem Hauptpunkt zurück und fragte wieder: »Und hast du nun bemerkt, wie die Grabtücher dalagen?«
Sie sah mich erstaunt an. »Wie hätte ich so etwas bemerken sollen? Der Glanz des Engels blendete mich derart, daß ich den Blick abwenden mußte. Und ich war sehr erschrocken. Die Frauen haben mir geglaubt – nur die Jünger nicht; sie fürchten noch immer um ihr Leben und können keinen anderen Gedanken fassen.«
Nach Frauenart redete sie sich in Überschwang hinein und fuhr aufgeregt fort: »Es muß, wie du sagst, das Erdbeben gewesen sein, das den Stein vom Grabe schob. Andere Leute allerdings sind davon überzeugt, daß der Engel es tat, und haben auch erzählt, durch das gleiche Erdbeben seien im Tempel die Stufen zum Heiligtum geborsten. Zwei seiner Jünger haben Jesus auch nicht erkannt, als er sich ihnen am gleichen Tage auf dem Wege nach Emmaus anschloß. Sie erkannten ihn nicht, obwohl er ihnen die Schrift Stelle für Stelle auslegte und ihnen erläuterte, warum alles so hatte geschehen müssen. Erst als sie gegen Abend das Dorf erreichten und ihn zu sich einluden, als er das Brot nahm, es brach und ihnen reichte – erst da gingen ihnen die Augen auf. Dann aber entschwand er ihren Blicken.«
»Du meinst also«, sagte ich, und die Zunge wurde mir schwer, »daß er noch hier auf Erden ist, daß er nach Belieben kommt und geht und mit Leuten seiner Wahl spricht? Und daß manche ihn erkennen, andere aber nicht?«
»Ganz richtig«, erwiderte Maria Magdalena entschieden. »Davon bin ich überzeugt, und deshalb warte ich. Vielleicht brennen unsere Herzen noch nicht so, wie sie sollten; vielleicht ist unser Verstand zu träge. Darum gewährt der Herr uns Frist, bis wir reif dazu geworden sind, den Sinn all dieser Dinge zu begreifen.«
»Sagtest du wirklich, daß er auf dem Wasser wandelte?« fragte ich, um mir selbst sinnfällig zu machen, wie unmöglich und vernunftwidrig das alles klang.
Maria Magdalena blickte mich treuherzig an und erklärte: »Er hat so viele Wunder gewirkt, daß auch ein Herz von Stein hätte glauben müssen. Aber wir wissen noch immer nicht, was wir jetzt von ihm halten sollen. Allerdings steht geschrieben, daß der Gesandte des Herrn blind und sein Knecht taub ist. Vielleicht dienen wir unbewußt seinen Zwecken.«
»Aber warum vertraust du einem Fremdling wie mir?« fragte ich. »Du bist eine gebildete Frau, sprichst griechisch und kennst die Propheten auswendig, in der heiligen Sprache der Juden. Soweit ich gehört habe, bist du auch wohlhabend. Erzähle mir etwas von dir selbst, damit ich dich besser verstehe!«
Stolz entgegnete sie: »Ich habe keine Scheu vor Fremden. In meinem Haus haben Griechen und Syrer verkehrt, auch Römer – und sogar Hofleute. Wenn Jesus wirklich der ist, als den ich ihn ansehe und bezeuge, so richtet sich meine Botschaft nicht an Israel allein, sondern seine Lehre ist, wie geschrieben steht, ein Licht für die ganze Welt. Auch wegen dieser meiner Überzeugung verlacht man mich. Als die bösen Geister sich meiner bemächtigt hatten, erlitt ich manches, von dem gewöhnliche Menschen keine Ahnung haben. Ein Zauberer kann den Leib einer besessenen Person derart in ein Wasserbecken bannen, daß sie aufschreit, wenn er in einem anderen Räume eine Nadel in Wasser sticht. Jesus aber dachte nicht daran, sich meiner so wie anderer zu bedienen; ihm war nur daran gelegen, mich von den bösen Geistern zu befreien, sobald er sich vergewissert hatte, daß ich von ganzem Herzen ihrer ledig zu werden wünschte. Mein Gesicht trägt ebensowenig Spuren meines früheren Lebens wie ein Fels, von dem der Regen das Erdreich abgespült hat. Frage mich nicht nach meiner Vergangenheit; sprich bloß zu dem Menschen, der ich jetzt bin!«
»Ganz, wie du willst!« sagte ich. »Aber du hast meine Frage nicht beantwortet. Warum vertraust du gerade mir?«
Ihr Antlitz erglühte wieder, und sie rief: »Weil du bei der Kreuzigung für Jesus gegen die Spötter Partei ergriffen hast. Weil du, ohne mehr von ihm zu wissen, als was zum Hohne auf der Kreuzestafel stand, vor seinem Leiden Achtung empfandest. Du hast ihn verteidigt, während die Seinen eingeschüchtert entflohen. Niemand war bei ihm außer uns Frauen und dem jungen Johannes, der nichts zu befürchten hatte, weil seine Verwandten Freunde des Hohenpriesters sind. Sogar für die beiden mitgekreuzigten Schacher erkühnten sich deren Spießgesellen, Hetzrufe gegen die Römer auszustoßen. Für Jesus erhob sich keine einzige Stimme.«
Ich erkannte, daß sie ihren Groll gegen die Jünger in Freundschaftsgefühle zu mir verwandelte. Nach kurzer Überlegung antwortete ich behutsam: »Soweit ich dich verstehe, meinst du, als leidgeprüfte Frau mehr über ihn zu wissen, als seine Jünger je erfaßt haben. Sie aber mißtrauen dir, weil du ein Weib und leicht beeinflußbar bist, und sie glauben nicht an das, was du gesehen haben willst. Darum brauchst du mich als Zeugen.«
Maria Magdalene unterbrach mich und rief: »Verstehst du noch immer nicht? Bist du so schwer von Begriff? Unser Herr nahm auch Frauen als Gefolgsleute an. Er war gut zu Maria, der Schwester des Lazarus, und auch zu Martha. Als er bei einem Pharisäer zu Tisch geladen war, ließ er zu, daß eine Sünderin an sein Speiselager kniete, ihm mit ihren Tränen die Füße benetzte und sie mit ihrem Haar trocknete. Dadurch verlor Jesus in den Augen der Pharisäer den Ruf der Untadeligkeit. Seitdem waren sie geneigt, ihm alles Schlechte zuzutrauen. Aber höre weiter! Einmal erbarmte er sich sogar einer Samariterin, die er am Brunnen traf. Und eine andere Frau, die beim Ehebruch ertappt worden war, rettete er aus den Händen der Schriftgelehrten, als man schon daran war, sie nach dem Gesetz zu steinigen. Glaube mir, Fremdling, er verstand die Frauen besser als jeder andere. Daran wird es auch liegen, daß wir Frauen ihn besser verstanden haben und verstehen als seine feigen Jünger.«
Die Stimme versagte ihr; sie keuchte vor Zorn. Nach einer kleinen Pause fuhr sie fort: »Oh, diese Jünger! Eine Zeitlang waren sie großmächtig und haben mit der Kraft ihres Meisters Kranke geheilt. Aber der Tag kam, da sie sich mit ihm nach Jerusalem aufmachen sollten, zu jener letzten Wanderung, da hatte jeder eine andere Ausrede bereit und versuchte, sich zu drücken. Dabei wären sie sich kurz vorher fast in die Haare geraten wegen der Thronsessel in seinem Reich. Zum Volke sprach Jesus in Gleichnissen; ihnen aber gab er für alles Auslegung. Doch auch so verstanden sie ihn nicht; immer wieder wurden sie widerspenstig. Nur Thomas, der hellste Kopf unter ihnen allen, war so vernünftig, seinen Mitjüngern zu sagen: ›Also wollen wir hingehen, mit ihm zu sterben.‹ Aber meinst du vielleicht, daß auch nur einer wirklich für ihn starb, obwohl sie sich zwei Schwerter verschafft hatten, zu seiner Verteidigung, in jener letzten Nacht, vor den Mauern der Stadt? Zwei Schwerter kamen ihnen in die Hände, wo doch in Jerusalem die heimliche Erwerbung von Waffen bei strenger Strafe verboten ist. Aber, so frage ich bloß, haben sie ihn verteidigt?«
Sie war ganz außer Atem gekommen. Dann beruhigte sie sich wieder, sann ein wenig nach und gab zu: »Nun ja, er selbst hat es ihnen verboten. Er hat gesagt: ›Alle, die zum Schwerte greifen, werden durch das Schwert umkommen.‹ Andererseits hat er ihnen auf dem Wege nach Jerusalem angeraten: ›Wer einen Mantel hat, verkaufe ihn, um sich dafür ein Schwert zu kaufen!‹ Ich verstehe das nicht. Wahrscheinlich wollte er sie auf die Probe stellen. Oder aber ihnen Selbstvertrauen einflößen. Ich weiß es nicht. Jedenfalls hat Simon Petrus, als die Häscher im Nachtdunkel zur Gefangennahme des Herrn gekommen waren, einem Knecht des Hohenpriesters ein Ohr abgehauen. Jesus aber hat dem Knecht das Ohr wieder angeheilt, so daß man jetzt nur eine schmale Narbe sieht. Diesem Malchus wurde streng verboten, etwas davon verlauten zu lassen; doch seine Verwandten haben die Geschichte herumerzählt.«