Sie faltete krampfhaft die Hände und wiegte den Körper vor und zurück, als wollte sie irgendeinen Schmerz unterdrücken. Aber sie versuchte, mir gerade in die Augen zu sehen, und erklärte: »Von einem bin ich überzeugt, felsenfest überzeugt: Jesus war und ist das Licht, das volle und vollkommene Licht. Er, der Mensch – er, der Gott.« Doch unter dem Zwang, ein krankhaftes Mißtrauen, das sie verzehrt hatte, offenzulegen, beharrte sie auf ihrer Selbstrechtfertigung und betonte, mehr zu sich selber als zu mir: »Nein, er war weder ein Zauberer noch ein Dämon, obwohl er auf dem Wasser wandeln konnte. Wenn er nicht mehr gewesen wäre als der mächtigste aller Magier, hätte ich mich ihm bestimmt nicht angeschlossen; denn von Hexenmeistern hatte ich genug. Und er hat mir keineswegs befohlen, ihm zu folgen; er hat es mir bloß erlaubt. Das ist ein großer Unterschied, wie du einsehen wirst.«
Ich schämte mich meiner Verdächtigung; doch die Frage war meinem Empfinden nach nötig gewesen, weil ich Gewißheit wünschte, soweit man sie mit den Mitteln menschlicher Erforschung gewinnen kann. Ich merkte, daß ich Maria gekränkt hatte, und bat sie, so freundlich ich konnte, um Verzeihung. Dann rückte ich ohne Umschweife mit meinem Begehren heraus: »Maria Magdalena, führe mich zu einigen seiner Jünger, damit ich mir von ihnen ein klares Bild machen kann!«
Sie meinte ausweichend: »Dazu kannst du noch nicht reif sein. Und auch die Jünger sind es nicht. Wir alle können nichts tun als warten. Warte auch du geduldig!«
Als sie aber merkte, wie aufrichtig mein Streben war, wurde sie etwas weicher und sagte: »Ich halte dich nicht für einen römischen Spion. In deiner Seele wohnt kein Verrat; so viel Menschenkenntnis glaube ich zu haben. Solltest du aber doch doppelzüngig sein, so würde es dir sehr übel ergehen – nicht durch unser Zutun, sondern durch die Macht dessen, der seine Jünger auserwählte und sie noch am Leben zu erhalten wünscht, wie du selbst gemeint hast. Weißt du, wo das Quelltor ist?«
»Von dorther komme ich, obwohl es ein Umweg für mich war«, erwiderte ich lächelnd. »Ich wollte mir das Quelltor ansehen.«
»Dann weißt du auch von dem Mann, der Wasser trägt«, meinte sie. »Das ist gut so. Eines Tages, wenn du still und demütig im Herzen bist, wird er sich vielleicht am Quelltor zeigen. Aber bitte, überhaste nichts! Alles kommt zu seiner Zeit. Ohne diese Überzeugung könnte ich nicht weiterleben.«
Ich fragte sie, ob sie mit mir nach Jerusalem zurückkehren wolle; aber ihr war es lieber, noch eine Weile allein in dem Raum zu bleiben, wo Jesus von Nazareth oft geruht hatte. Sie sagte: »Geh, wenn du Lust hast. Und falls du unten niemanden siehst, so halte dich nicht damit auf, für die Gastfreundschaft danken zu wollen! Wir Frauen spüren Erkenntlichkeit auch ohne Worte. Du kannst hier kommen und gehen, wie es dir beliebt. Allerdings scheint mir, daß du noch nicht recht weißt, was du eigentlich willst. Aber ich denke, du wirst irgendwie dazu gezwungen werden, den einen, einzigen Weg einzuschlagen, auch wenn du es nicht magst. Friede sei mit dir!«
»Auch mit dir!« grüßte ich zurück. Und etwas trieb mich beizufügen: »Ja, Friede sei mit dir, Frau! Du bist mehr als eine Geliebte, eine Gattin, mehr als eine Tochter, weil Jesus dich ihm folgen ließ.«
Meine Worte freuten sie sichtlich. Denn als ich aufstand, streckte sie, weiter am Boden kauernd, die Hand aus und berührte, während ich mich nach meinen Sandalen bückte, meinen Fuß. Es war eine Geste, aus der so viel unsagbare Sehnsucht, so viel Begehren nach dem Unerreichbaren sprach, daß sie mich tiefer bewegte und erschütterte als je etwas in meinem Leben. Ich hätte die Gebärde kaum richtig verstanden, wäre mir nicht eben erst im Traum die Herabkunft des Reiches fühlbar geworden.
Als ich die Treppe zu dem von Blattwerk beschatteten Hof hinunterstieg, verspürte ich keinen Kummer mehr. Niemand war zu sehen, und auch die Gebäude ringsum lagen still. So ging ich, ohne mich zu verabschieden, meines Weges. Als ich zu der Steinbank hinauskam, merkte ich zu meinem Erstaunen am Sonnenstand, daß es schon die elfte Stunde war. Der Schatten des Hügels war länger geworden und streifte das Haus.
Rasch kehrte ich auf dem gleichen Wege, den ich gekommen war, in die Stadt zurück, derart in Gedanken vertieft, daß ich mich nur selten umblickte. Wieder kam ich an den uralten Ölbäumen am Hang vorbei, die jetzt Sonne hatten, während die Straße in kühlem Schatten lag. Auch an dem Kräutergarten ging ich wieder entlang, und jetzt, da es Abend wurde, strömten alle die Heilpflanzen starke Düfte aus.
Aus meinem Sinnen riß mich erst ein eintöniges Klopfen, nicht weit vor dem Stadttor. Ich sah einen Blinden, der am Straßenrand hockte und unaufhörlich mit seinem Stock gegen einen Stein schlug, um die Aufmerksamkeit der Vorübergehenden auf sich zu lenken. An Stelle der Augen gähnten in seinem Gesicht leere Höhlen, und der abgemagerte Leib war in schmutzstarrende Lumpen gehüllt. Als er mich innehalten hörte, begann er mit dem durchdringenden Tonfall eines Berufsbettlers zu winseln: »Erbarme dich! Ich bin blind.«
Mir fiel der Proviantbeutel ein, den die Frau meines syrischen Quartiergebers mir auf den Weg mitgegeben und den ich nicht benötigt hatte. Ich legte das Päckchen dem Bettler in die Hände und sagte rasch: »Friede sei mit dir! Nimm das und iß! Und den Beutel kannst du behalten. Ich brauche ihn nicht mehr.« Als ich nämlich näher herangetreten war und den entsetzlichen Schmutzgestank des Mannes roch, wollte ich mich nicht damit aufhalten, ihm den Beutel in den Schoß zu leeren.
Der Bettler aber dankte mir nicht einmal. Statt dessen streckte er die Hände aus, tastete nach meinem Mantel und flehte ängstlich: »Es ist Abend, bald wird es Nacht, und niemand ist gekommen, mich von meinem Platz hier, wo ich den ganzen Tag gesessen habe, abzuholen. Erbarme dich meiner, du mitleidiger Mann, und führe mich in die Stadt! Dort finde ich schon meinen Weg. Aber hier außerhalb der Stadtmauer kann ich fehlgehen, über Steine stolpern und in die Schlucht fallen.«
Bei der bloßen Vorstellung, dieses greuliche Geschöpf – Mensch konnte man hier kaum mehr sagen – berühren zu sollen, wurde mir übel. Ich dankte deshalb dem Schicksal, daß es mir noch rechtzeitig gelungen war, mich seiner nach mir greifenden Hand zu entziehen. Eilends setzte ich meinen Weg fort und bemühte mich, nicht hinzuhören, als der Mann mit seiner schrill jammernden Berufsbettlerstimme hinter mir herrief und wieder mit seinem Stock auf einen Stein zu schlagen begann, als wollte er sich an ihm für seine Enttäuschung rächen. Im Geiste schalt ich ihn wegen seiner Undankbarkeit aus; auf jeden Fall hatte ich ihm ja gute Eßwaren geschenkt und dazu noch einen Beutel, den er zu Geld machen konnte.
Nachdem ich jedoch etwa zehn Schritte gegangen war, hatte ich die Empfindung, gegen eine Mauer zu stoßen. Wie unter Zwang blieb ich stehen, drehte mich um und blickte zurück. Die Hoffnung des Bettlers lebte wieder auf, und er quengelte: »Erbarme dich eines Blinden, du Sehender! Führe mich den Weg in die Stadt, und Segen wird auf dein Haupt fallen. Wenn es finster wird, friert mich hier. Und Hunde schleichen her und lecken meine Geschwüre.«
Ich fragte mich, wer eigentlich blind war, ich oder dieses stinkende Geschöpf. Daß ich meinen Proviant, den ich ja gar nicht brauchte, hergegeben hatte, war kein besonders verdienstliches Werk. Wenn ich mich aber dazu zwang, den Mann zu berühren, seine Nähe zu spüren und ihn zum Stadttor zu geleiten – das könnte ich mir wirklich als gute Tat zurechnen. Doch der bloße Gedanke daran bereitete mir solchen Ekel, daß mich ein Brechreiz anwandelte.