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Widerwillig sagte ich: »Es gibt viele Wege und manche falsche Wegweiser. Woher weißt du, daß ich dich nicht irreführen und in die Schlucht stoßen werde, um mich deiner zu entledigen?«

Als der Blinde diese Worte hörte, erstarrte er zur Reglosigkeit, und der Stock entfiel seiner Hand. »Friede sei mit dir! Friede sei mit dir!« rief er dann, in Hoffnung und Schreck zugleich. »Ich vertraue dir. Was bleibt mir, einem Blinden, anderes übrig, als dem zu vertrauen, der mich führt, da ich ja selber meinen Weg nicht finden kann?«

Seine Frage traf mich mitten ins Herz. Auch ich war blind geworden, durch die eigene Zwiespältigkeit. Was konnte ich selber anderes tun als hoffen, daß jemand mich die rechte Straße führen würde? Mir fiel die geheimnisvolle Erscheinung in meinem Traume ein, die verschwunden war, als ich aufwachte und die Augen öffnete. Kurz entschlossen ging ich zu dem Blinden zurück, packte mit beiden Händen seine knochigen Arme und half ihm auf die Beine. Demütig hielt er mir seinen Stock entgegen und gab zu verstehen, ich sollte ein Ende fassen und ihn derart, ohne mich durch seine Berührung zu beschmutzen, führen. Aber mir war der Gedanke zuwider, den Blinden so zu schleppen, wie man ein Stück Vieh am Stricke hinter sich herzerrt; so schob ich die Hand unter seine Achsel und begann ihn stadtwärts zu geleiten. Trotzdem tastete er noch mit dem Stock ängstlich den Boden vor sich ab; der Kidronweg war ja keine glatte römische Heerstraße.

Wir kamen nur langsam vorwärts, weil mein Schützling so gebrechlich und ausgemergelt war, daß ihm die Knie schlotterten. Ich hatte die Empfindung, nicht einen menschlichen Arm zu umfassen, sondern einen abgenagten Knochen in der Hand zu halten. Ungeduldig fragte ich: »Warum hat man dich so weit weg vom Stadttor gebracht, wenn du derart hilflos bist?«

Er jammerte: »Ach, Fremdling, ich bin zu schwach, um mich auf einem Platz in der Nähe des Tores zu behaupten. Aber es hat Zeiten gegeben, da war ich so kräftig, daß ich in der Straße vor dem Tempel gebettelt habe.«

Darauf war er sichtlich stolz und wiederholte, er habe in nächster Nähe des Tempels gebettelt, als wäre das eine hohe Auszeichnung. Verwundert dachte ich mir: Wie zähe doch das Menschengeschlecht ist! Sogar das jämmerlichste Geschöpf findet etwas, worauf es stolz sein kann.

»Trotz meiner Blindheit habe ich meinen guten Platz verteidigt, indem ich mit dem Stock um mich geschlagen und gestoßen habe«, rühmte er sich. »Aber als ich von Kräften kam, mußte ich selber Püffe und Hiebe einstecken. Schließlich hat man mich zum Stadttor hinausgeprügelt, so daß mir nichts übrigblieb, als jedesmal einen barmherzigen Menschen zu bitten, mich für den Tag an einen Platz irgendwo draußen am Straßenrand zu führen. Es gibt viel zuviel Bettler in der heiligen Stadt, und manche sind sehr kräftige Burschen.«

Er betastete den Saum meines Überwurfs und sagte: »Aus feinem Stoff ist dein Mantel, Fremdling. Du riechst gut. Du mußt reich sein. Warum wanderst du am Abend ohne Begleitung außerhalb der Stadtmauern umher? Wieso hast du keinen Vorläufer, der dir den Weg bahnt?«

Ich war ihm keinerlei Aufklärung schuldig. Immerhin sagte ich: »Es hat sich so ergeben, daß ich mir meinen Weg selbst suchen mußte.« Dann konnte ich der Versuchung nicht wiederstehen, ihn zu fragen: »Sag einmal, hast du auch von dem Judenkönig gehört, von Jesus, dem Nazarener, den man gekreuzigt hat? Was hältst du von ihm?«

Der Bettler wurde so zornig, daß er zu zittern anfing. Er fuchtelte mit seinem Stock und schrie: »Ja, von dem habe ich gerade genug gehört. Recht hat man daran getan, ihn zu kreuzigen.«

Ich wunderte mich sehr. »Aber soviel ich gehört habe«, erklärte ich, »war er ein guter und liebreicher Mensch. Er hat Kranke geheilt und hat die Mühseligen und Beladenen aufgefordert, zu ihm zu kommen, weil er ihnen Frieden bringen würde.«

»Was? Frieden?« höhnte der Blinde. »Umstürzen und zerstören wollte er alles, sogar den Tempel. Ein arger Unruhestifter, das war er, und ein böswilliger Mensch. Hör nur zu! Beim Bethesda-Teich lag immer ein allgemein bekannter Lahmer auf seinem Bett, und ab und zu hatte er sich von jemandem ins Wasser bringen lassen, um das nötige Mitleid zu erregen. In dem Teich hat seit Menschengedenken niemand Heilung gefunden – da mochte das Wasser wallen, soviel es wollte, und der Betreffende mochte, wie es angeblich erforderlich ist, nach dem Aufwallen als erster eintauchen oder nicht. Aber die Örtlichkeit liegt vor dem Schaftor, und in den schattigen Säulenhallen bettelt es sich gut. Was hätte also dieser Jesus Ungeschickteres tun können, als den Lahmen anzusprechen und ihn zu fragen: ›Möchtest du gesund werden?‹ Der Mann hat eine ausweichende Antwort gegeben, nämlich, wenn das Wasser walle, steige immer jemand anderer vor ihm hinein. Und da hat dann der Nazarener ihm gesagt, er möge aufstehen, sein Bett nehmen und seines Weges gehen.«

»Und der Lahme war geheilt?« fragte ich ungläubig.

»Ja, ja, gewiß. Er hat sein Bett genommen und ist gegangen«, erwiderte der Blinde. »So furchtbare Kräfte standen dem Galiläer zu Gebote. Damit hat aber der Unglücksrabe von Bettler sein gutes Auskommen verloren, das er achtunddreißig Jahre lang gehabt hat. Und jetzt, auf seine alten Tage, muß er anfangen, sich sein Brot mit seiner Hände Arbeit zu verdienen, weil er keine Berechtigung mehr hat, zu betteln.«

Der Blinde wurde immer wütender. »Und obendrein war noch Sabbat. Der arme Kerl hat die größten Unannehmlichkeiten gehabt, weil er sein Bett trug, und hat sich mit Priestern herumstreiten müssen. Aber nicht genug damit! Schließlich hat Jesus ihn im Tempel wiedergetroffen und ihm eingeschärft, ja nicht mehr zu sündigen, sonst würde ihm etwas Ärgeres widerfahren. Da hat sich dann der Arme zu seinem Schutz den Priestern gegenüber auf den Wundertäter berufen und bezeugt, Jesus habe ihn geheilt und ihm, obwohl Sabbat war, ausdrücklich befohlen, sein Bett zu tragen. Aber was konnten die Priester tun? Dieser Nazarener hatte ja alle seine Anhänger um sich herum. Er hat gelästert und klipp und klar erklärt, er habe die Macht, den Sabbat zu brechen, weil er als Menschensohn auch Herr sei über den Sabbat. Ja, ja, mit Gott hat er sich auf eine Stufe gestellt! Selbstverständlich mußte er dafür ans Kreuz genagelt werden.«

Aus meinem Schweigen schloß der Blinde, daß ich nicht der gleichen Meinung war, und er fuhr deshalb fort: »Was sollte aus der Welt werden, wenn der Tempel zerstört würde? Wo bekämen die Krüppel ihre Almosen, wenn es keine reichen Sünder mehr gäbe, die ihre Verfehlungen wiedergutmachen, indem sie die Armen beschenken?«

Er stieß mit dem Stock heftig auf den Boden und brüstete sich hämisch: »Auch ich habe es mir nicht nehmen lassen, damals gleich am frühen Morgen mit der Menge zu ziehen und zu schreien: ›Kreuzige ihn! Kreuzige ihn!‹ Der Römer wußte ja nicht recht, welches Urteil er fällen sollte. Er kennt unsere Gesetze nicht, oder vielleicht machte es ihm Spaß, wenn jemand unseren Tempel entweiht und unseren Gott lästert. Wer von uns Bettlern nur ein bißchen auf Standesehre hält, der fühlt sich dem Tempel und den Hütern der Ordnung verpflichtet. Deshalb hat man uns von unseren Plätzen beim Tempel und an den Stadttoren rasch zusammengetrommelt, damit wir mit aufmarschieren und in das allgemeine Geschrei einstimmen. Wahrhaftig, ich war bei allem dabei und habe auch die Freilassung des Barabbas verlangt. Im Vergleich zu Jesus war Barabbas ein Ehrenmann; er hat nichts Besonderes angestellt – nur einen Römer umgebracht.«

Voll Abscheu rief ich: »Da komme ich einfach nicht mit! Wie gründlich verroht mußt du sein, daß du mit dieser Kreuzigung noch großtust! Vielleicht hätte er auch dich heilen können, wenn du an ihn geglaubt hättest.«

Der Blinde wandte mir die leeren Augenhöhlen zu und grinste hinterhältig, so daß seine Zahnstummel sichtbar wurden. »Wofür hältst du dich? Was für Weisheiten gibst du da von dir? Du bist sicher unrein, Fremdling!« jammerte er. »Du tätest besser, mich nur am Stock zu führen, damit ich dich nicht berühren muß. Ich brauche dich nur zu verfluchen, und der Gott Israels zerbläst dich mit einem einzigen Hauch zu Asche. Wenn du aber gar ein Anhänger dieses Jesus bist, so sollen dich bei lebendigem Leib die Würmer auffressen!«