Trotzdem blieb in mir die jubelnde Gewißheit, daß Jesus und sein Reich lebendige Wirklichkeit waren. Diese heimliche Gewißheit war stärker als meine Vernunft, und ich wünschte aufrichtig zu glauben. Ich dachte: Wozu diese zwecklose Eile? Warum möchte ich alles zugleich haben, und alles in vollem Ausmaße?
Wohlgemut faßte ich den Bettler am Arm und sagte aufmunternd: »Komm! Nur mehr ein paar Schritte, und wir sind am Tor.«
Aber der Mann sträubte sich, wollte von mir loskommen und jammerte: »Hier ist die Straße abschüssig. Wohin führst du mich? Doch nicht zum Abgrund, um mich in die Schlucht hinunterzustoßen, aus Rache, weil auch ich ›Kreuzige ihn!‹ gerufen habe?«
Ich antwortete: »Ich weiß wenig von Jesus. Aber ich glaube nicht, daß er auferstanden ist, um Rache zu nehmen. Nein, bestimmt nicht!«
Wir kamen zum Stadttor. Die Wächter kannten den Blinden und begrüßten ihn mit einigen Spottworten und mit der Frage, wieviel er tagsüber erbeutet habe. Wenn ich nicht dabeigewesen wäre, hätten sie ihn wahrscheinlich durchsucht und sich ihren Anteil genommen. An mich stellten sie keine Fragen, weil der Stoff meines quastenlosen Mantels und mein eingefettetes Haar mich hinreichend auswiesen.
Als der Bettler die vertrauten Stimmen der Wächter hörte, war er beruhigt. Im Nu machte er sich von mir los, tastete mit dem Stock an dem Torbogen hin und ging weiter, weil er hie* den Weg schon kannte. Bald nach dem Tor kam ein kleiner offener Platz, und hier hockten noch ein paar Lahme und Krüppel, streckten die Hände aus und sagten mit eintönigen Stimmen ihre Sprüchlein her. Sonst aber war der abendliche Straßenverkehr in der Stadt im großen und ganzen zu Ende; aus den Häusern drang der Geruch von Herdfeuer, frischgebackenem Brot, Knoblauch und heißem Speiseöl.
Als der Blinde mir ein paar Schritte voraus war, begann er seinen Stock zu schwingen und seine Bettlerkameraden zu rufen. »Israeliten!« schrie er. »Der Mann hinter mir hat mich hergeführt, und ich kann gegen ihn Zeugnis ablegen. Er ist besessen. Er hat den Namen des gekreuzigten Jesus angerufen und dadurch einen Stein unter meinen Händen in Käse verwandelt. Macht euch auf und steinigt ihn! Er ist bestimmt ein Jünger dieses verfluchten Mannes und bringt Unheil über uns.«
Er bückte sich, faßte einen Klumpen frischen Dung und warf ihn so zielsicher in die Richtung, aus der er meine Schritte hörte, daß sein Geschoß mich traf und mir den Mantel beschmutzte. Als die anderen Bettler das sahen, beeilten sie sich, den Blinden zu packen und festzuhalten. Mich baten sie seinetwegen um Entschuldigung und ihn warnten sie: »Bist du zu deiner Blindheit auch noch übergeschnappt? Das ist doch ein reicher Ausländer! Wie könnte der ein Jünger des Nazareners sein? Er ist kein Galiläer, das sehen wir an seinem Gesicht.«
Sie begannen im Chor zu jammern, streckten mir die Hände hin und zeigten ihre Gebrechen. Ich verteilte eine Handvoll Münzen unter sie, nahm meinen beschmutzten Mantel ab, legte ihn dem Blinden um die Schultern und sagte laut lachend: »Da hast du den Mantel, den du so habgierig befingert hast! Er wird dir zustatten kommen, wenn du einmal über Nacht am Straßenrand bleiben und frieren mußt, weil dich niemand in die Stadt führt.«
Der Blinde schüttelte die Fäuste gegen seine Kameraden und brüllte: »Glaubt ihr wenigstens jetzt, daß er besessen ist? Also, ich möchte schwören, wenn ich ihm eine Maulschelle gebe, der ist imstande, mir die andere Wange hinzuhalten. Der ist verrückt genug dazu!«
Über seine Worte mußte ich herzlich lachen. Vielleicht war die Befolgung von Jesu Lehre nicht ganz so unmöglich, wie ich gedacht hatte. Je mehr ich mich bemühte, diesem Kerl hier Böses mit Gutem zu vergelten, desto froher fühlte ich mich. Ich hatte die Empfindung, nur auf diese Weise seiner Tücke Herr werden zu können. Ihn zu schlagen oder den Wächtern zu überstellen, hätte bloß bedeutet, ein Übel mit einem anderen zu bekämpfen.
Die anderen Bettler stimmten beflissen in mein Gelächter ein und riefen ihrem Zunftgenossen zu: »Besessen ist der Mann nicht, sondern einfach betrunken. Merkst du das nicht? Da muß einer schon einen tüchtigen Rausch haben, wenn er dir den Führer macht und dann noch seinen Mantel abnimmt und dir schenkt. Und nur ein sinnlos Besoffener kann aus vollem Halse lachen, wenn man ihn anpöbelt!«
In gewisser Beziehung hatten die Leute recht. Eine Trunkenheit, die menschliche Begriffe überstieg, brauste in meinem Kopf, ließ mich laut lachen und trübte meine Sehkraft derart, daß mir die Blicke der Passanten nicht das mindeste ausmachten, als ich nun, nur mit einer Tunika bekleidet, durch die Stadt ging. Alles andere, dachte ich, konnte vielleicht im voraus zurechtgestellt worden sein – nur nicht jener harte Käse, auf den der Blinde mitten unter allen anderen ähnlich runden Steinen mit dem Stock gestoßen war!
Die Frau des syrischen Krämers schlug die Hände zusammen, als sie mich ohne Obergewand zurückkommen sah, und ihr Mann erschrak, in der Meinung, ich wäre von Räubern überfallen worden. Als ich aber nur lachte, aus meinem Zimmer Geld holte und ihn bat, mir einen neuen Mantel zu besorgen, beruhigte er sich. Auch er nahm an, ich hätte mich betrunken; meinen Überwurf mochte ich, so dachte er wohl, verspielt haben.
Nach einiger Zeit brachte er mir unter vielen Entschuldigungen einen hübschen Wollmantel mit kleinen Quasten an den Zipfeln. Das Stück sei aus feiner judäischer Wolle, erklärte er; er drückte und knitterte das Gewebe zwischen den Fingern, um zu zeigen, wie gediegen und wie untadelig gefärbt es war. Er versicherte auch, er habe für mich den Preis auf einen angemessenen Betrag heruntergefeilscht.
Schließlich sagte er: »Das ist ein jüdischer Mantel. Wegen eines fremdländischen Überwurfes hätte ich bis zum Forum gehen und das Vielfache des Preises bezahlen müssen. Die Quasten kannst du natürlich abschneiden; aber es wird niemand etwas daran finden, wenn du sie behältst, nachdem du dir jetzt einen Bart wachsen läßt. Auch ich fürchte und verehre den Gott Israels und werfe dann und wann im Vorhof der Heiden eine Münze in seinen Opferschrein, um mir einen guten Geschäftsgang zu sichern.«
Er blickte mich mit einem schlauen Lächeln in seinen schwarzen Augen an und gab mir, sorgfältig gezählt, das Restgeld zurück. Ich wollte ihn für seine Mühe entschädigen. Aber er hob abwehrend die Hände und erklärte: »Von dir brauche ich nichts. Der Kleiderhändler hat mir schon eine Vermittlungsgebühr bezahlt. Du bist jetzt viel zu gebefreudig aufgelegt; heute darfst du nicht mehr ausgehen. Zieh dich lieber auf dein Zimmer zurück, schlafe dich aus und laß deinen Kopf ausrauchen! Vorher aber iß von der guten Suppe, die meine Frau dir macht! Sie kocht reichlich Zwiebeln hinein und Kräuter, die dich davor bewahren werden, mit Kopfweh aufzuwachen.«
Als ich mich nicht gleich entschließen konnte, auf mein Zimmer zu gehen, schüttelte er besorgt den Kopf, breitete die Arme aus und rief: »Schön, schön, ich habe es nur gut mit dir gemeint. Wenn du durchaus willst, kann ich ja meinen Jungen noch um einen Krug süßen Wein schicken. Aber mehr darfst du keinesfalls trinken. Und versuche nicht, in der Nacht noch einmal die Treppe hinunterzustolpern, sonst kannst du dir den Hals brechen oder in schlechte Gesellschaft geraten.«
Ich versuchte mich zu verteidigen und mit ungelenker Zunge auseinanderzusetzen, daß ich stocknüchtern sei. Doch er hob sehr bekümmert die Hände und meinte: »Dein Gesicht ist rot, und deine Augen glänzen. Aber wie du willst! Da rufe ich dir lieber eine junge Frau her, die Ausländern Gesellschaft leistet. Nur kann sie erst erscheinen, wenn es ganz finster ist, weil sie sonst in unserem Stadtviertel in Verruf käme. Gedulde dich also ein bißchen! Sie wird das Bett mit dir teilen und dich so gründlich beruhigen, daß du nachher einfach schlafen und den Kopf klarkriegen mußt. Singen und ein Instrument spielen kann sie allerdings nicht; aber sie ist gesund und hübsch und wird bestimmt dafür sorgen, daß du ohne Wiegenlied einschlummerst.«