Er war von der Richtigkeit seines Befundes und Heilverfahrens so fest überzeugt, daß ich alle Mühe hatte, ihm seine Pläne auszureden. Ihm zuliebe ging ich schlafen, und er folgte mir fürsorglich in mein Zimmer, um mich mit meinem neuen Mantel zuzudecken. Nach einer Weile brachte seine Tochter mir eine dampfende Schüssel voll stark gewürzter Suppe und sah mir beim Essen zu, während sie hinter der vorgehaltenen Hand verschämt kicherte. Die Suppe war so scharf, daß sie mir im Munde brannte; aber die heiße Flüssigkeit schien meine taumelige Beschwingtheit nur noch zu steigern.
Das Mädchen füllte noch meinen Wasserkrug und ging dann. Aber mich hielt es nicht im Bett. Auf den Zehenspitzen schlich ich mich auf das Dach. Während die Sterne immer leuchtender hervortraten, saß ich, in meinen neuen Mantel gehüllt, und horchte den verklingenden Stimmen der Stadt und dem Atmen der kühler werdenden Luft. Dann und wann strich mir ein leichter Windhauch über das heiße Gesicht, und in meiner Glückseligkeit schien es mir, als streichelte eine unsichtbare Hand mir die Wangen. Die Vergänglichkeit zitterte in mir, der Erdenstaub zitterte in mir; aber irgend etwas anderes flößte mir zum erstenmal im Leben die Gewißheit ein, daß ich mehr war als nur Staub und Schemen. Dieses Wissen machte mich still.
»Du auferstandener Gottessohn«, betete ich in der nächtlichen Dunkelheit, »tilge alle eitle Bücherweisheit aus meinem Kopf! Nimm mich auf in dein Reich! Führe mich den einzigen Weg! Ich muß wohl von Sinnen sein, krank, durch dich verzaubert. Aber ich glaube, daß du mehr bist als alles, was jemals sonst in der Welt bestand.«
Frierend und steif erwachte ich durch das schrille Schmettern der Tempeltrompeten. Die Sonne beschien die Osthänge der Hügel; die Stadt aber lag noch in unbestimmtem Dämmerlicht, und der Morgenstern schwebte hell über dem Horizont. Mein Kopf war klar geworden. Mich fröstelte. Ich raffte den Wollmantel fester um mich und schlich in mein Zimmer und mein Bett zurück. Ich versuchte, mich meiner Nachtgedanken zu schämen; aber ich schämte mich nicht. Im Gegenteil, ich hatte die Empfindung, daß in mir, mochte auch die Fieberglut erloschen sein, immer noch ein kühles Licht schimmerte.
So ließ ich getrost meinen Bart unberührt und blieb in meinem Zimmer, um in aller Gelassenheit die Ereignisse des vergangenen Tages zu überdenken und niederzuschreiben. Sobald ich mit dem Schreiben fertig bin, will ich zum Quelltor gehen. Ich bin innerlich fest überzeugt davon, daß alles, was mir widerfuhr und noch widerfahren wird, einem bestimmten Zwecke dient. Diese Überzeugung gibt mir ein Gefühl der Sicherheit. Mag ich auch allerlei Ungereimtheiten niederschreiben, ich schäme mich keines einzigen meiner Worte.
6
Marcus grüßt Tullia.
Mit diesem Gruße an Dich grüße ich eine merkwürdig ferne Vergangenheit. Selbst von den leidenschaftlichen Nächten in Rom scheint es mir, als hätte jemand anderer sie erlebt und nicht ich. Uns trennt ein einziges kurzes Jahr; aber es war für mich länger als andere Jahre. Die letzten paar Tage allein kommen mir wie Jahre vor. Du bist mir abhanden gekommen, und ich selbst habe mich geändert. Ich bin ein anderer Marcus. Du würdest mich nicht mehr verstehen. Wenn ich mir Dich ins Gedächtnis zurückrufe, so sehe ich Dich beim Lesen meiner Berichte den launischen Mund zu einem spöttischen Lächeln verziehen.
Du lebst inmitten all der Dinge, die auch ich einst für wichtig hielt. Du achtest darauf, wer Dich grüßt und wie er es tut. Du überlegst Dir sorgfältig, welchen Schmuck Du jeweils bei einer Gesellschaft tragen sollst, damit Deine Freunde sich freuen, die Neider scheele Augen machen und die Feinde sich entrüsten. Du hüllst die dünne Seide Deines Gewandes eng um Deinen glatten Leib und musterst Deine Gestalt in der polierten Marmortafel an der Wand. Dann versetzt Du der jungen Sklavin, die sich beim Aufstecken Deines Haares ungeschickt anstellt, unversehens einen Nadelstich. Schließlich nimmst Du an der Abendgesellschan teil, hebst mit müdem Lächeln Deinen Weinbecher, tust, als hörtest Du dem Vortrag irgendeines Philosophen oder Geschichtsschreibers zu, bist von dem letzten Liedschlager begeistert, läßt Deine Sandale von den Zehen baumeln, damit Dein Tischnachbar, wer immer es sei, nur ja bemerke, wie klein Deine weißen Füße sind. Trotz Deiner Schlankheit bist Du kräftig und ausdauernd. Deine unbändige Genußsucht kann Dich ganze Nächte in dem heißen Rom wachhalten. In Gesellschaft fremder Leute knusperst Du, zerstreut und mäkelig, an Vogelzungen, Schnecken und Meerestieren, als fändest Du mit solchen Leckerbissen Dein Auslangen. Aber wenn Du Dich mit Deinem Liebhaber ermattet hast, fällt es Dir nicht schwer, mitten in der Nacht ein halbgares Bratenstück hinunterzuschlingen, um wieder Kräfte für das Spiel zu sammeln, dessen Du nie müde wirst.
So sehe ich Deinen Schatten, Tullia. Nicht mehr voll Leben, sondern wie den Widerschein in poliertem schwarzem Marmor. Und dieser Schatten peinigt meine Sinne nicht mehr wie im letzten Winter in Alexandria, als ich Dich vergebens zu vergessen suchte. Etwas anderes erfüllt jetzt, ohne eigenes Zutun, ganz meine Seele. Du würdest mich nicht mehr erkennen, Tullia. Vielleicht würde auch ich Dich nicht erkennen.
Darum schreibe ich diese Briefe, auch wenn ich sie mit einem Gruß an Dich beginne, wohl eigentlich eher mir selber als Dir. Ich schreibe, um mich selbst und alles, was mir widerfahren ist, zu erforschen, nach den Weisungen meines verehrten Lehrers in Rhodos, der mir immer wieder einschärfte, ich möge über selbst Gesehenes und selbst Gehörtes berichten und nicht bloß fremdes Gedankengut in anderen Worten wiedergeben. Nein, ich schreibe nicht mehr nur zum Zeitvertreib und aus Langeweile. Wenn ich meine Briefe abfasse, bist Du mir nicht mehr nahe; Du rückst dabei sogar weiter von mir ab als sonst. Das betrübt mich nicht, Tullia; ich habe keineswegs das Gefühl, etwas verloren zu haben.
Es kümmert mich nicht einmal, ob Du je meine Briefe' zu Gesicht bekommst. Dennoch grüße ich Dich. Du warst ja, von Sinnenlust und Leidenschaft ganz abgesehen, der einzige mit mir wirklich befreundete Mensch. Von den Dingen dieser Welt hast du viel verstanden, und mehr als ich. Deiner Anbahnungskunst verdanke ich ja in letzter Linie jenes Vermächtnis, das mich wohlhabend gemacht hat, so daß ich nach eigenem Gutdünken mein Leben führen konnte, ohne anderen gehorchen oder auch nur schmeicheln zu müssen. Du warst ein Verstandesmensch, grausam, herrschsüchtig. Und vor allem hattest Du Deine Fähigkeiten schon Jahre vor mir entfaltet. Es dürfte Dich ja keineswegs kränken, wenn ich das sage; Du magst meine Feststellung im Gegenteil eher als rühmlich empfinden. Den Zauber Deiner Augen, Deines Mundes, Deines Leibes kennst du selbst genau. Aber nicht einmal dieser Zauber bindet mich mehr an Dich. So erfüllt bin ich jetzt von anderen Dingen.
Bärtig, mit einfachen Sandalen an den Füßen, in meinen gestreiften jüdischen Mantel gehüllt, ging ich am frühen Abend wieder zum Quelltor. Ich habe mir die Nägel nicht gepflegt, und nicht einmal Bimsstein könnte die Tintenflecke von den Fingern meiner rechten Hand entfernen. An Dampfbad und heißes Wasser gewöhnt, habe ich mich bloß kalt gewaschen, weil man mich beim Betreten des Männerbades im Gymnasion wegen meines Bartes so anstarrte, daß ich wieder ging. Nicht einmal in die Achselhöhlen habe ich mir Enthaarungssalbe verrieben. Ich bin am ganzen Körper behaart wie ein Barbar. Aber daran liegt mir nichts, und ich halte es nicht einmal für einen Nachteil. Ich wünsche mich meiner Umgebung anzugleichen, damit man mir mehr Vertrauen schenkt. Später mag ich ja zu den alten Lebensgewohnheiten, in denen ich aufgewachsen bin, zurückkehren.