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Dabei kann ich nicht einmal sagen, daß ich diese Stadt und ihre Menschen liebe. Den Tempel habe ich oft mit seinem Marmor und Gold im vollen Sonnenlicht des Tages strahlen sehen. Die Abendröte wandelt den Bau zu einem Ungetüm mit blutfarbenem Haarkleid. In der Morgenfrühe ist er wie ein blauer Traum. Den ganzen Tag über steigt, dem Judengott zu Ehren, vom Brandopferaltar dichter Rauch zum Himmel. Aber mir ist der Tempel fremd geblieben. Ich kann ihm gegenüber nicht die gleiche Ehrfurcht empfinden wie die Juden. Er ist für mich nicht heilig. Als heiliger und gewaltiger empfand ich in meiner Jugendzeit den Artemistempel zu Ephesos. Oder Antiochia. Oder Rhodos. Oder Athen. Gar nicht zu reden vom Forum in Rom.

Nein, Zuneigung kann ich für diese Stadt, deren Bewohner Jesu Blut auf sich herabgerufen haben, nicht empfinden. Als die Frauen Jerusalems über den Herrn weinten, der am Wege zum Kreuzigungshügel unter Geißelhieben wankte, da hat er, heißt es, zu ihnen gesagt, sie sollten nicht über ihn weinen, sondern über sich selbst und ihre Kinder. Und ich empfinde unwillkürlich böse Vorahnungen, wenn ich den Tempel betrachte, dessen geweihter Vorhang durch das Erdbeben von oben bis unten entzweiriß und an dessen Treppe zum Heiligtum beim zweiten Beben einige Stufen einbrachen. Das genügt wohl als Omen.

An all das dachte ich auf dem Wege zum Quelltor. Noch drängten sich die Menschen in den Basarstraßen, alle Sprachen der Welt hallten von den Buden wider, Kamelglöckchen klingelten, und Esel schrien. Ich muß zugeben, daß die heilige Stadt der Juden eine Metropole ist wie nur irgendeine andere; aber für mich hat sie etwas Fremdes.

Jetzt am frühen Abend, am Ende eines Arbeitstages, bot die ganze Stadt für mich Fremden ein durchaus trauriges Bild. Mein Herz glühte in stiller Erwartung; aber die Trübsal der Einsamkeit bedrückte mein Gemüt. Es ist viel wert, frei zu sein und unabhängig von allen Menschen; doch die abendliche Einsamkeit in einer fremden Stadt ist eine bittere Pille.

Dennoch brach Freude in mir hervor, weil ich etwas zu erhoffen hatte. Ich wußte, daß ich in einer Welt des Umbruchs, der Erwartung lebte. Jesus ist aus dem Grabe erstanden, sein Reich bleibt für immer auf Erden. Nur ein paar Menschen wissen und glauben das; selbst sie zweifeln manchmal im Herzen, weil sich noch nie etwas dergleichen ereignet hat. Zu diesen Zweiflern gehöre auch ich; aber zugleich mit dem Zweifel glaube, hoffe, erwarte ich, daß etwas geschehen wird, was alles klärt.

Nur einige Bettler hockten noch, ohne mich zu erkennen, beim Tor; vom Blinden sah ich keine Spur. Frauen mit Wasserkrügen auf den Köpfen kamen durch den Torbogen in die Stadt und schwatzten angeregt miteinander. Sie nahmen sich nicht einmal die Mühe, meinetwegen den Mantelsaum über den Mund zu schieben; ich war ihnen gleichgültig.

Der Himmel wurde dunkelblau. Die Dämmerung vertiefte sich. Schon schimmerten drei Sterne am Firmament; schon zündeten die Wächter eine Pechfackel an und steckten sie in den Ring neben dem Tor. Ich war enttäuscht. Doch mit dieser Enttäuschung hatte ich gerechnet und mich darauf gefaßt gemacht, lange Zeit Tag für Tag hierherkommen zu müssen, ehe ich ein Zeichen empfing. Ich wollte schon nach Hause gehen, zögerte aber noch. Es spielte keine Rolle, ob ich hier oder dort war.

Da erschien im Torbogen ein Mann mit einem Wasserkrug. Er trug das Gefäß auf der Schulter und stützte es mit der Hand, weniger geschickt als die Frauen; er schritt langsam und vorsichtig, um nicht im Halbdunkel zu stolpern. Erst als er in einer ansteigenden Straße verschwunden war, folgte ich ihm. Die steile Gasse wurde zu einer Reihe seichter Stufen. Ich hörte, wie der Mann, hinter dem ich ging, seine Schritte setzte, wie er unter dem Gewicht des Kruges mühsam atmete.

Ohne sich zu beeilen, bog der Wasserträger immer wieder in gekrümmte Seitengassen ein. Wir stiegen in die Oberstadt. Lange waren wir schon unterwegs; ich merkte, daß der Mann nicht den kürzesten Weg zu seinem Bestimmungsort nahm. An einem einsamen Platz stellte er sein Gefäß nieder, rückte es zurecht und wartete. Ich ging auf ihn zu und blieb wortlos neben ihm stehen. Lange standen wir so nebeneinander, an eine Hausmauer gelehnt, bis er nicht mehr keuchte. Dann wandte er sich endlich zu mir, grüßte und fragte: »Hast du den Weg verloren?«

Ich grüßte zurück und fügte hinzu: »Es gibt viele Wege und mancherlei falsche Wegweiser.«

»Es gibt nur zwei Wege«, bemerkte er klügelnd. »Der eine führt zum Leben, der andere zum Tode.«

»Dann bleibt für mich bloß ein einziger«, entgegnete ich. »Aus eigenem kann ich ihn nicht finden. Aber ich hoffe und vertraue darauf, daß jemand mich geleiten wird.«

Ohne mir zu antworten, hob er wieder den Krug auf die Schulter und ging weiter. Ich schritt neben ihm, und er verwehrte es mir nicht. Nach einer Weile schlug ich vor: »Die Stufen sind steil. Darf ich dir helfen? Sonst kommst du wieder außer Atem.«

Er sagte: »Nicht das Tragen macht mich atemlos, sondern die Angst. Ich fürchte, aus dieser Sache wird nichts Gutes herauskommen.« Aber er ließ mich das Gefäß auf die Schulter nehmen. Es schien mir nicht sehr schwer. Er ging voraus und machte mich auf Unebenheiten aufmerksam, über die ich hätte stolpern können. Die Gasse war voll Unrat und roch nach Harn; ich beschmutzte mir die Sandalen.

Wir durchschritten ein Tor in der alten Mauer und stiegen dann noch höher in die Oberstadt hinauf. Das Haus, vor dem wir schließlich stehenblieben, schien groß und stattlicher als die Nachbargebäude; im Sternenlicht konnte ich nur die Umrisse erkennen. Der Wasserträger klopfte an die Tür, die gleich von einer Magd geöffnet wurde. Sie grüßte mich nicht, nahm mir aber sofort den Krug ab. Dem Manne bezeugte sie soviel Achtung, daß er offenbar mehr sein mußte als ein Bedienter, für den ich ihn gehalten hatte.

Er führte mich in einen stillen Hof, wo Bäume wuchsen. Dort kam mir ein Junge von etwa fünfzehn Jahren entgegen. »Friede sei mit dir!« grüßte er bescheiden. »Mein Vater und mein Onkel haben sich schon zurückgezogen; aber gestatte mir, daß ich dich in das Obergemach geleite! Willst du dir die Hände waschen?«

Ohne meine Antwort abzuwarten, begoß die Magd mir aus eben dem Krug, den ich gebracht hatte, reichlich die Hände, wie, um zu zeigen, daß es hier keineswegs an Wasser mangelte. Der Knabe reichte mir ein Leinenhandtuch und sagte: »Ich heiße Markus.«

Während ich mir die Hände trocknete, begann er zu erzählen, mit einem Eifer, als hätte das Gefühl der eigenen Bedeutsamkeit alle Dämme gesprengt: »Damals, in der Nacht, als unser Herr gefangengenommen wurde, bin ich dabeigewesen. Ich war einfach im Hemd aus dem Bett gesprungen und in den Gethsemane-Garten gelaufen, um Jesus zu warnen, weil ich wußte, daß er dort die Nacht verbringen wollte. Mich hat man auch gepackt; dabei ist mein Hemd zerrissen und den Häschern in den Händen geblieben. Ich mußte nackt davonrennen, zusammen mit den anderen.«

»Plappere nicht so viel, Markus!« ermahnte mein Begleiter ihn. Aber jetzt, da er wohlbehalten im Hofe stand und seine Furcht überwunden hatte, war er selbst so erfüllt von verhaltenem Eifer wie der Junge. »Ich bin Nathanael«, sagte er. »Warum sollte ich dir meinen Namen verheimlichen? Ich bin dem Herrn auf dem Wege nach Emmaus begegnet, an dem Tage, als er sein Grab verlassen hatte.«

»Aber zuerst hast du ihn nicht erkannt«, platzte Markus heraus. Nathanael legte dem Jungen, um seinen Mitteilungsdrang zu hemmen, die Hand auf den Nacken. Markus umfaßte mit fiebrig heißen Fingern vertrauensvoll meine Hand, und ich erkannte an seiner zarten Haut, daß er nie nennenswerte körperliche Arbeit geleistet hatte. Er führte mich über eine Treppe zu einem Söller, der längs des Daches lief, und von dort in das Obergemach des Hauses.

Es war ein großer Raum, den eine einzige Lampe schwach erhellte, so daß die Ecken im Schatten lagen. Als ich eintrat, sah ich, daß zwei Männer mich erwarteten. Sie standen Hand in Hand da, ganz still im Halbdunkel. Einen erkannte ich: es war der stattliche junge Mann, Johannes, den ich bei den Frauen am Kreuzigungshügel gesehen hatte. Als ich ihn nun im schwachen Lampenschein erblickte, fiel mir wieder die unsagbare Reinheit dieses Jünglingsantlitzes auf. Der andere Mann war älter, mit gefurchter Stirn und forschenden, mißtrauischen Augen.