»Friede sei mit euch!« grüßte ich.
Aber sie erwiderten nicht. Schließlich wandte Johannes sich mit einem fragenden Blick zu dem älteren Manne, als wollte er ihn zum Sprechen auffordern. Doch der Unbekannte fuhr fort, mich mit unverändert argwöhnischen Augen von oben bis unten zu mustern. Die Stille wurde lastend. Schließlich sagte Nathanael entschuldigend: »Er ist dem Wasserkrug gefolgt.«
»Ich suche den einzigen Weg«, beteuerte ich eindringlich, da ich sehr befürchtete, die beiden könnten mich aus Mißtrauen wegschicken.
In dem Zimmer standen um einen großen Tisch mehrere Ruhebetten. Das Gemach war offenbar der Speisesaal eines reichen Hauses. Als der argwöhnische Mann mich genügend gemustert hatte, winkte er und sagte: »Nathanael, Markus, ihr könnt gehen. Aber haltet für alle Fälle Wache im Hof!«
Als sie gegangen waren, drehte er den großen Schlüssel im Türschloß um und sagte: »Friede sei mit dir, Fremdling!-Was willst du von uns? Ich fürchte, der Weg, den du suchst, ist zu schmal für dich.«
Aber Johannes fiel ihm ins Wort und rügte ihn. »Thomas, warum mußt du jeden und alles zunächst einmal anzweifeln?« Zu mir sagte er aufmunternd: »Wer suchet, der findet; und wer anklopft, dem wird aufgetan. Wir haben gehört, daß du still und demütig im Herzen bist. Du hast reinen Sinnes angeklopft; darum haben wir die Tür aufgetan.« Er lud mich ein, Platz zu nehmen, setzte sich mir gegenüber und sah mich mit den kristallklaren Augen eines Träumers an.
Nach einigem Zögern setzte auch Thomas sich und erklärte: »Ich bin einer der zwölf, von denen du gehört hast. Der Herr hat uns zu seinen Sendboten erwählt und berufen, und wir sind ihm gefolgt. Johannes ist der jüngste unter uns. Ich muß immer wieder seinen Ungestüm zügeln.«
»Du darfst uns nicht übervorsichtig schelten«, fuhr er nach einer kleinen Pause fort. »Sicherlich weißt du, daß die Behörden auch gegen uns eine Anklage zusammenbrauen. Sie behaupten, wir hätten uns verschworen, den Tempel in Brand zu stecken, als Zeichen für das Volk. Sie behaupten, wir hätten unseren Mitjünger, der Jesus verraten hat, umgebracht. Warum soll ich nicht offen zugeben, daß wir deinetwegen Auseinandersetzungen hatten? Bis auf Petrus, der von dir, einem Ausländer, überhaupt nichts wissen wollte, habe ich als einziger ernstlich gegen dich Stellung genommen. Aber Maria Magdalena machte sich zu deiner Fürsprecherin.«
»Ich kenne dich«, sagte Johannes. »Ich habe dich beim Kreuz stehen sehen. Du hast nicht mit den Spöttern gemeinsame Sache gemacht.«
»Auch ich kenne dich und habe von dir gehört«, erwiderte ich. Es, fiel mir schwer, ihn nicht anzustarren. Noch nie hatte ich einen jungen Mann mit derart schönen Gesichtszügen gesehen; sie waren so rein, als hätte niemals ein böser Gedanke sie gestreift. Aber diese Schönheit war nicht leblos wie die Pracht einer Bildsäule; es war ein lebendiges, leidenschaftliches Antlitz, dem ich einen Hauch von Friedsamkeit und Wärme entströmen fühlte.
»Nun, und was willst du von uns?« fragte Thomas wieder, mit mürrischer Stimme.
Seine Feindseligkeit hemmte mich. Es war, als bemühte er sich, ein den Sendboten gemeinsam anvertrautes Geheimnis eifersüchtig vor Außenstehenden zu hüten. »Ich wollte euch nur bitten, mir den Weg zu zeigen«, antwortete ich zurückhaltend.
Thomas warf seinem Gefährten einen unwilligen Blick zu und sagte: »Vor seiner Gefangennahme hat der Herr uns zugesichert, in seines Vaters Hause seien viele Wohnungen; er werde hingehen, uns eine Stätte zu bereiten. Er muß uns alle zwölf gemeint haben, obwohl dann Judas ihm untreu wurde. Und er hat gesagt: ›Ihr wißt, wo ich hingehe, und kennt den Weg.‹«
Er rieb sich die gefurchte Stirn, und sein Blick verriet seine Ratlosigkeit. »Damals habe ich erwidert, wir hätten keine Ahnung, wohin er gehe – wie sollten wir da den Weg wissen? Und jetzt kommst du, Fremdling, und fragst mich nach dem Wege, den ich selbst nicht kenne.«
Johannes erinnerte ihn. »Thomas, Thomas, er hat dir ja geantwortet und gesagt, er selbst sei der Weg – so war es doch! –, der Weg und die Wahrheit. Also kannst du nicht abstreiten, es zu wissen.«
Aber Thomas sprang voll Verzweiflung auf, schlug mit der Faust auf die Fläche der anderen Hand und rief: »Ja, was bedeutet denn dieser Ausspruch? Ich verstehe ihn nicht. Erkläre ihn mir!«
Johannes wäre dieser Aufforderung sichtlich gerne nachgekommen, wagte es aber in meiner Gegenwart nicht. Ich überlegte und warf dann ein: »Jedenfalls ist Jesus am dritten Tage auferstanden.«
»Ja, ganz richtig!« bekräftigte Johannes. »Maria Magdalena hat uns berichtet, der Stein sei von der Gruft gewälzt. Wir sind hingeeilt, Petrus und ich, und fanden das Grab leer.«
»Alles recht schön«, meinte Thomas. »Maria Magdalena hat auch Engel gesehen und einen umherspukenden Gärtner.«
»Einen Gärtner?« fragte ich erschrocken, und ein Schauder überlief mich.
»Weibisches Geschwätz!« fuhr Thomas, ohne meine Frage zu beachten, fort. »Genau so wie die Geschichte mit Nathanael und Kleophas auf dem Wege nach Emmaus. Nicht einmal erkannt haben die beiden ihn.«
Johannes sagte voll Überzeugung: »Hier in diesem Gemach, wo wir alle eingeschüchtert bei verschlossenen Türen saßen, hat er sich uns am gleichen Abend gezeigt. Er hat mit uns geredet und uns eine Zusage gegeben, an die ich kaum zu denken wage, geschweige denn, daß ich darüber vor einem Fremden sprechen könnte. Aber ich versichere dir, daß er leibhaft hier in unserer Mitte stand und dann so plötzlich, wie er gekommen war, wieder verschwunden ist. Und wir haben geglaubt.«
»Nun ja!« spottete Thomas. »Ihr seid einer Sinnestäuschung zum Opfer gefallen, genau so wie die beiden Emmausjünger, von Maria gar nicht zu reden. Ich war nicht dabei, und ich glaube nicht an derartige Erscheinungen. Ich müßte das Mal der Nägel an seinen Händen sehen und meinen Finger in diese Male legen können – das allein und nichts anderes kann mich überzeugen. Dabei bleibt es, und wenn ich auf der Stelle tot hinfallen sollte!«
Diese Worte und dieser Zweifel bekümmerten den jungen Johannes derart, daß er den Kopf abwandte. Aber er widersprach nicht. Mir kam vor, als hätte während der wenigen Tage seit der Erscheinung die Ungläubigkeit des Thomas auch den Glauben der Augenzeugen erschüttert, so daß sie insgeheim an dem gemeinsam Gesehenen irre zu werden begannen.
Ein seltsamer Frohsinn erfaßte mich, und ich erklärte entschieden: »Ich brauche nicht zu sehen, um zu glauben. Mir ist jetzt schon klar, daß er auferstanden ist und noch auf Erden weilt. Wie das alles zugeht, weiß ich nicht. Aber ich harre der kommenden Ereignisse. Dinge, die sich bisher nie zugetragen haben, sind in diesen Tagen geschehen, und ebenso Unerhörtes wird bestimmt noch kommen.«
Doch Thomas sagte geringschätzig: »Du gehörst nicht einmal zu den Kindern Israels, obwohl du dir anscheinend Proselytenquasten an deine Mantelzipfel hast nähen lassen. Ich verstehe nicht, warum du uns so hartnäckig ausspionierst. Ich traue dir nicht. Glaube ja nicht, es wäre mir unbekannt geblieben, daß du als Gast des Statthalters in Antonia warst. Du versuchst uns in eine Falle zu locken, damit wir uns selbst den Kreuzestod oder die Steinigung an den Hals reden.«
Er rang die knorrigen Hände, starrte verängstigt vor sich hin und fuhr fort: »Ich weiß nicht, ob du je gesehen hast, wie es bei einer Steinigung hergeht. Ich habe dabei zugeschaut und möchte nicht selber das Opfer sein. Wenigstens nicht jetzt, nachdem Jesus gestorben ist, mag nun sein Grab leer sein oder nicht.«
»Warum bleibst du dann in Jerusalem?« fragte ich im gleichen barschen Töne, wie er ihn angeschlagen hatte. »Weshalb kehrst du dann nicht sang- und klanglos in deinen Heimatort zurück? Worauf wartest du noch?«
Er senkte den Blick, als wäre er seit jeher gewohnt, sich einer Befehlsstimme zu beugen, und fingerte an einer Mantelfalte. Dann entgegnete er zu seiner Rechtfertigung: »Allein kann ich die Stadt nicht verlassen. Aber meiner persönlichen. Meinung nach vergeuden wir hier wirklich bloß die Zeit. Das Vernünftigste wäre, auf eine Weile in die Wüste zu gehen und dann heimzuwandern, jeder dorthin, wo er zu Hause ist. Statt dessen drehen wir uns hier herum, zaudern und streiten, ohne uns über irgend etwas schlüssig zu werden.«