Und tatsächlich erfüllte den ganzen Hof ein köstlicher Wohlgeruch, seit Simon das kleine Gefäß aufgebrochen hatte. Er selbst ging umher und strich mit dem Daumen den Bettlern etwas Salbe ins Haar. Er gebärdete sich ganz, als wäre er von Sinnen; bald wieherte er vor Lachen, bald stieß er schreckliche Flüche aus. Als er aber zu einem Knaben kam, der heißhungrig aß, stellte er das Salbengefäß hin, kniete nieder und verlangte mit völlig besonnener Stimme: »Holt mir einen engzahnigen Kamm! Ich möchte diesem Jungen die Läuse aus den Haaren kämmen.«
Als man seinem Auftrag nachgekommen war, begann er wirklich, dem schmierigen Jungen aus dem verfilzten Haar die Läuse zu kämmen und sie zu knacken; er machte das so geschickt, als hätte er sein ganzes Leben lang diese widerliche Arbeit getan. Die Kopfhaut des Knaben war von Ungezieferbissen grindig, und er schrie während des Kämmens immer wieder auf, hatte es aber so eilig, sich den Bauch vollzuschlagen, daß ihm zur Abwehr keine Zeit blieb.
Die Bettler wurden unruhig und flüsterten einander zu: »Simon von Kyrene hat wegen Jesus von Nazareth den Verstand verloren. Das ist ja kein Wunder nach der Schmach, die ihm die Römer angetan haben! Das Kreuz dieses Gotteslästerers tragen zu müssen! Wir tun wohl gut, rasch zu essen und zu trinken, seine Geschenke zu nehmen und zu verschwinden, bevor er die Gaben zurückverlangt!«
Der älteste unter ihnen murmelte: »Es ist auch schon vorgekommen, daß reiche Leute zu ihren Festen in Weinlaune ungeladene Bettler zuließen, dann aber in Wut gerieten und so lange auf den Leibern der Armen herumtrampelten, bis sie das Gegessene und Getrunkene wieder von sich gaben. Schauen wir also, daß wir wegkommen!«
Sie blickten Simon von Kyrene verstohlen und ängstlich an; aber er war so in seine Läusesuche vertieft, daß er nichts anderes sah und hörte. Als er den Knaben gründlich gekämmt hatte, schleppte er ihn zu den Wasserbecken, riß ihm seine Lumpen vom Leib und wusch ihm, ohne auf sein Kreischen zu achten, den ganzen Körper. Dann verstrich er ihm den Rest der Salbe auf Kopf, Brust und Füße. Schließlich wählte er aus den Kleidern seiner Söhne ein Untergewand, einen Überwurf und rote Sandalen, bekleidete den Jungen damit und sagte: »Jetzt bist du wie ein Prinz angezogen und duftest auch wie ein Prinz. Wenn du nun nicht stattlich genug bist für sein Reich, soll er mir eins hinter die Ohren geben!«
Die Bettler packten die Kleider, die Eleasar unter sie verteilte, und begannen sich behutsam gegen das Tor hin zurückzuziehen; sie warteten nur noch eine Gelegenheit ab, um den Jungen den Händen des offenbar um den Verstand gekommenen Hausherrn zu entreißen. Aber Simon merkte ihr Vorhaben und schrie: »Geht noch nicht, o Gäste des Jesus von Nazareth! Jeder von euch bekommt ein Abschiedsgeschenk von ihm.«
Er winkte Zachäus und mir, ihm ins Haus zu folgen, und wir halfen ihm, die vielen Schlösser einer eisenbeschlagenen Truhe zu öffnen. Aus ihr nahm er einen versiegelten Lederbeutel, eilte in den Hof zurück, brach das Siegel auf und begann, unter die Bettler, die alle ihre Hände ausstreckten, Silbermünzen zu verteilen. Einigen schenkte er eine Drachme, anderen ein Vier- oder gar ein Zehndrachmenstück; er gab das Geld aufs Geratewohl hin, ohne darauf zu achten, was jeder bekam.
Viele Bettler fingen zu murren an und sagten: »Warum hat der so viel bekommen und ich so wenig?«
Aber Simon erwiderte: »Darüber rechtet mit Jesus von Nazareth! Er sammelt, wo er nicht ausgestreut hat, und erntet, wo er nicht gesät hat.« Und wieder faßte er den Beutel und gab denen, die offenbar am meisten erhalten hatten, noch mehr. Als er aber begann, den Empfängern der kleinsten Münzen diese Geldstücke wieder wegzunehmen, hielten die Bettler es für geraten zu verschwinden, und die ganze Schar entfloh, den Jungen mit sich schleppend, durch das Tor.
Simon wischte sich den Schweiß von der Stirn, klimperte verwundert mit dem Geldbeutel und murmelte: »So etwas ist mir auch noch nicht passiert. Soll ich das als Zeichen und Wink nehmen? Ich war willens, das ganze Geld zu verteilen, und jetzt ist mir die Hälfte noch im Beutel geblieben.«
Ich drängte ihn: »Lege nur schön dein Geld beizeiten in die Truhe zurück und versperre sie. Dann kämme dir den Bart nach Läusen aus und laß den Hof aufräumen! Ob du klug oder töricht gehandelt hast, weiß ich nicht. Aber zumindest werden die Bettler bestimmt zufrieden sein und dürften dich jetzt für lange Zeit nicht belästigen.«
Zachäus saß neben Eleasar auf dem Rande des großen Mischkessels. Er lachte fröhlich und sagte: »Komm her, Römer! Nimm einen Becher und schöpfe dir hier Wein heraus! Am Boden gibt es noch genug davon, und so teuren Wein darf man nicht verderben lassen.«
Er trank selbst und rief: »Gesegnet sei das Gewächs des Weinstockes im Namen dessen, der gestorben und wieder auferstanden ist, um für uns alle ein Reich zu bereiten! Wir drei haben ihn mit eigenen Augen erblickt; und du, Eleasar, sahst wenigstens seine Fußspuren auf dem Steinboden, so daß du, ein simpler Ackerknecht und Hirte, uns, den höhergestellten Männern, glauben mußt.«
Liebevoll legte er Eleasar den Arm um den Hals, gab ihm einen Kuß und meinte: »Nichts für ungut! Nur hier auf Erden bin ich ja angesehener als du; in seinem Reich wirst vielleicht du den Vorrang haben. Jesus hat gesagt, viele Erste würden zu Letzten werden und die Letzten zu Ersten.«
Eleasar riß sich von ihm los und schalt: »Ihr seid alle wie in Verzückung; besonders mein Herr ist außer Rand und Band. Aber auch ich bin in gehobener Stimmung, seit ich neue Kleider bekommen und so viele gute, teure Sachen an besitzlose Leute verteilt habe. Offenbar ist mir der Trunk zu Kopf gestiegen; so starken Wein bin ich nicht gewöhnt.«
Aber Simon strich sich über den Kopf und sagte: »Friede sei mit euch! Ich bin todmüde und gehe in mein verdunkeltes Zimmer zurück. Die letzten Nächte habe ich über Jesus von Nazareth nachgegrübelt und kein Auge zugetan. Jetzt fühle ich wieder Frieden in meiner Seele und werde wahrscheinlich den ganzen Sabbat durchschlafen.«
Unsicheren Schrittes entfernte er sich. Wir folgten ihm nicht, weil wir beide, Zachäus und ich, einsahen, daß in seiner Verfassung Schlaf das beste für ihn war. Aber er gedachte noch seiner Hausvaterpflichten, drehte sich um, blinzelte uns unter seinem zerzausten Haar von der Tür her an, und sagte: »Ich hoffe, das alles ist nur ein böser Traum; endgültig werde ich das erst wissen, wenn ich erwache und niemanden mehr sehe. Aber du, mein Traum-Zachäus, bleibe, wenn du willst, über Nacht in meinem Gästezimmer! Eleasar soll sich hier mit einem Schläfchen ausnüchtern; dann wird er heimgehen und, ehe noch drei Sterne am Himmel erscheinen, die Sabbatfeier beginnen. Was ich jedoch dir sagen soll, Römer, weiß ich nicht; denn du mußt bestimmt ein Traum sein, und dich werde ich nicht mehr treffen.«
Eleasar gehorchte; er legte sich im Schatten der Säulenhalle auf den Boden und zog sich den Mantel über den Kopf. Wir aber, Zachäus und ich, blieben stehen, wo wir standen, und musterten einander lange. Sein Antlitz schien mir nicht länger ein abstoßendes Zwergengesicht; seine Augen leuchteten und seine Wangen waren rot – wohl vom Wein, ganz wie bei einem beliebigen anderen Menschen.
Er fragte mich, ob ich etwas von den Jüngern wüßte, die Jesus sich zu Sendboten erwählt hatte. Ich teilte ihm mit, was ich erkundet und was Maria Magdalena beobachtet hatte; ich erzählte ihm auch, daß der Auferstandene einigen Jüngern in einem versperrten Raum erschienen war; ich berichtete ihm von meiner Begegnung mit Thomas und Johannes und gab freimütig zu, daß sie mich nur widerwillig empfangen und mir nicht getraut hatten. Schließlich sagte ich: »Mir brennt das Herz in der Brust. Wenn ich aber hinginge und den Jüngern von den heutigen Begebenheiten spräche, würden sie mir nicht glauben. Auf dich werden sie eher hören, weil sie dich kennen. Vielleicht fassen sie dann doch Zutrauen und offenbaren uns ihr Geheimnis. Sie müssen doch mehr wissen als wir und müssen auch Jesu Geheimlehren kennen, die sie natürlich Außenstehenden nicht preisgeben wollen.«