Zachäus erwiderte voll Zuversicht: »Ja, ich suche sie auf. Zumindest Matthäus vertraut mir; er war ja auch Zöllner. Wir verstehen uns, und er kann vielleicht bei den anderen ein Wörtchen für mich einlegen.«
»Sehr gut!« pflichtete ich bei. »Selber will und kann ich mich nicht aufdrängen.« Ich beschrieb ihm, wo ich mit Thomas und Johannes gesprochen hatte. Zachäus schien das Haus und seinen Eigentümer zu kennen, nannte mir aber den Namen nicht.
»Geh in Frieden in deine Wohnung und warte ab, bis ich dir den Weg bereitet habe!« sagte Zachäus.
So schieden wir voneinander, und ich ging heim, voll Verwunderung über all die Dinge, die mir im Hause Simons von Kyrene widerfahren waren.
7
Marcus an Tullia.
Noch immer schreibe ich Dir, Tullia, als wollte ich dich begrüßen. Mein verehrter Lehrer in Rhodos hat mir die Einsicht dafür geöffnet, wie trügerisch das menschliche Gedächtnis ist, wie rasch Eindrücke verblassen und ineinanderfließen und durcheinandergeraten. Auch wenn mehrere Menschen das gleiche erlebt haben, bewahren sie verschiedene Erinnerungen davon und schildern dasselbe Ereignis ganz abweichend, je nachdem, welche Seite des Vorfalles ihr Interesse besonders erregt hat. Darum schreibe ich jetzt nur mehr, um festzuhalten, wie und in welcher Reihenfolge meine Erlebnisse abgelaufen sind.
Ich begann diesen Brief an einem Sabbatvorabend, als die Tempeltore sich mit einem Dröhnen schlossen, das man über die ganze Stadt hin bis in die fernsten Täler hörte. Auch während des Sabbats blieb ich zu Hause und schrieb. Darauf, daß die Fremden diesen Tag achten und nicht in den Straßen umherlaufen, legen ja die Juden viel Wert. Sie selbst besuchen in Festtagskleidung ihre Synagogen, um zu beten und die Schriftlesung zu hören. Die Anzahl der Schritte, die sie am Sabbat tun dürfen, ist beschränkt. Im Tempel vollbringen die Priester, wie man mir erzählte, doppelte Opfer; doch das gilt nicht als Sabbatverletzung.
Vor Sonnenuntergang, noch während des Festes, kam der Zenturio Adenabar zu mir auf Besuch. Er hatte den Helm zu Hause gelassen und sich in einen syrischen Mantel gehüllt, um in den Straßen nicht aufzufallen. Herzhaft gähnend begrüßte er mich mit den Worten: »Wie geht es dir? Lebst du noch? Bist du gesund? Schon eine Ewigkeit lang habe ich nichts von dir gehört. Etwas Langweiligeres als den jüdischen Sabbat gibt es wohl kaum. Nicht einmal ins Amphitheater zum Exerzieren dürfen wir ausrücken, damit nicht etwa gar unsere Marschtritte den Juden lästig fallen. Gib mir einen Schluck Wein! In Antonia hält man an Sabbaten auch den Wein unter Verschluß. Sonst würden die Soldaten sich vor lauter Langeweile betrinken und untereinander Raufereien anfangen oder in die Stadt hinuntergehen und den Juden zu ihrem Ärger ein Schweinsohr vor die Nase halten.«
Mein syrischer Hausherr hatte gut für mich vorgesorgt. Um mich friedsam und bei froher Laune zu erhalten, hatte er mir einen Krug galiläischen Weins gebracht, den er als den zuträglichsten Rebensaft preist. Tatsächlich scheint dieser Wein nicht zu schwer und schlägt sich kaum auf den Magen; man braucht ihm auch, wenn man ihn nur vor dem Sauerwerden austrinkt, nicht Harz zur Haltbarmachung beizumengen.
Adenabar trank gierig, wischte sich den Mund, musterte mich aufmerksam und meinte: »Meiner Treu, du hast dich so verändert, daß dich niemand von einem hellenisierten Juden unterscheiden könnte. Du hast einen Bart, Tintenflecke auf den Fingern und einen Ausdruck in den Augen, der mir nicht gefällt. Was ist mit dir? Hoffentlich hat dich nicht gar der statuenlose Judengott aus den Fugen gebracht, wie? Das passiert nämlich oft fremden Reisenden, die nur den Tempel besichtigen kommen und dann über Dinge zu grübeln anfangen, denen kein normales Hirn gewachsen ist. Nur jüdische Köpfe halten das aus, weil die Hebräer von Kind auf im Verständnis ihres Gottes geschult werden und mit zwölf Jahren schon mit göttlicher Lohe so vollgesogen sind, daß sie zum Brotsegnen und Vorbeten die Eltern nicht mehr brauchen.«
»Adenabar, lieber Freund«, sagte ich, »wir beide, du und ich, haben gemeinsam gewisse Dinge gesehen und erlebt. So kann ich dir gestehen, daß ich wirklich aus den Fugen gegangen bin. Und ich schäme mich dessen nicht einmal.«
Aber er unterbrach mich rasch: »Nenne mich lieber mit meinem römischen Namen! Ich fühle mich jetzt mehr denn je als Römer. Petronius heiße ich. Mit diesem Namen unterschreibe ich dem Legionsquästor die Soldquittungen und erhalte ich meine schriftlichen Befehle – sofern sich jemand die Mühe nimmt, diese Befehle auf ein Wachstäfelchen zu kritzeln. Du mußt nämlich wissen, ich habe Aussicht, Kohortenführer zu werden, mit Garnison in Gallien oder Spanien oder vielleicht sogar in Rom selber. Darum trachte ich, mein Latein aufzufrischen, und möchte mich auch an meinen römischen Namen gewöhnen.«
Wieder blickte er mich prüfend an, als wollte er herausbekommen, wie verrückt ich wirklich war und wieweit mir zu trauen sein mochte.
»Für mich bist du Adenabar«, sagte ich. »Ich verachte dich nicht deiner syrischen Abkunft wegen. Nicht einmal den Juden gegenüber empfinde ich Fremdheit; ich versuche, mich mit ihren Bräuchen und religiösen Anschauungen vertraut zu machen. Was mich wundert, ist nur, daß sie nicht deine Abkommandierung auf Erkundungsstreife in die Wüste betreiben oder in irgendeine Gegend, wo skythische Pfeile umherschwirren. Da würdest du rascher ums Leben kommen, so daß dein Wissen niemandem Ungelegenheiten bereiten könnte.«
»Mein Wissen? Was faselst du da? Bist du ganz von Sinnen oder hast du dich schon seit der Morgenfrühe diesem guten Wein gewidmet?« schalt Adenabar gutmütig. »Aber in einem hast du recht. Ich fühle mich beträchtlich bedeutsamer als früher. Nur von der Wüste sprich mir nicht! Sie blendet auch dem unempfindlichsten Menschen die Augen und gaukelt einem Trugbilder vor. Wenn ich jetzt im Wachdienst in die Wüste geriete, würde ich mich sicher ohne langes Überlegen mit Dingen befassen, auf die selbst die spitzfindigsten Leute der Welt nicht verfallen.«
Er schielte mich mit pfiffigem Lächeln an und fuhr fort: »Du hast sicherlich gehört, daß Jerusalem für Leute mit schwachen Nerven zu einem unangenehmen Aufenthaltsort geworden ist. Erinnerst du dich an das Erdbeben, das es eines Morgens gab? Angeblich haben sich dabei die Gräber vieler Heiliger geöffnet, und die teuren Entschlafenen sollen herumspazieren und schon vielen Juden erschienen sein.«
»Mir ist nur von einem bekannt, daß er auferstanden ist«, erklärte ich. »Du weißt, wen ich meine. Damit du über ihn schweigst, bietet man dir jetzt eine Rangerhöhung und die Versetzung in ein anderes Land an. Einem Zenturio kann man ja nicht so leicht den Mund stopfen wie einem gewöhnlichen Soldaten.«
Adenabar starrte mich mit gespielter Bestürzung an und erwiderte: »Ich habe keine Ahnung, wovon du redest. Aber entsinnst du dich noch des Legionärs Longinus? Sooft er jetzt seine Lanze faßt, verhält sie sich sehr merkwürdig. Bei den Übungen kann er sie nie geradeaus werfen. Sie hat ihm schon den Fuß verwundet; und einmal, bei einer Zielübung mit dem Heusack, entglitt sie seiner Hand und hätte mich, obwohl ich hinter ihm stand, fast durchbohrt. Aber die Lanze ist ganz in Ordnung; der Fehler liegt bei Longinus. Zur Beruhigung der übrigen, die diese Waffe nicht mehr anrühren wollten, habe ich selbst damit geworfen und den Sack auf vierzig Schritte tadellos getroffen. Und Longinus wieder kann mit jeder anderen Lanze umgehen, nur nicht mit dieser.«
»Es handelt sich offenbar um jene Lanze, die er dem Sohn Gottes in die Seite gestoßen hat«, bemerkte ich.
Adenabar machte eine Bewegung, als wollte er eine lästige Raupe abschütteln, und beschwor mich: »Nenne doch diesen Mann nicht Sohn Gottes! Das klingt mir schrecklich in den Ohren. Aber auch der Legionsprofos hat so steife Arme bekommen, daß er nicht einmal mehr die Geißel zu schwingen vermag. Er kann gerade noch seine Nahrung zum Munde führen, und auch nur das sehr mühsam, mit beiden Händen. Der Feldscher in Antonia findet nichts an seinen Armen und verdächtigt ihn, daß er simuliert, um etwas früher ein Stück Ackerland zu bekommen und behaglich in der Veteranensiedlung leben zu können. Ihm fehlen nur noch zwei Jahre auf seine zwanzigjährige Dienstzeit. Man hat ihn ausgepeitscht, weil nach den Erkenntnissen der militärärztlichen Wissenschaft eine Auspeitschung viele von außen nicht erkennbare Leiden und Schmerzen heilt. Er ertrug die Prozedur nach alter Legionärssitte mit einem Stück Leder zwischen den Zähnen; aber seine Arme wurden davon nicht besser. Ich glaube, man wird ihn für dienstuntauglich erklären, wegen Rheumatismus. Diese Krankheit wird nämlich beim Heere anerkannt. Wir Offiziere leiden daran sogar mehr als die Mannschaft, weil wir von Zeit zu Zeit auf unseren bequemen Garnisonsdienst verzichten und im Freien auf dem harten Boden in Kälte und Nässe liegen müssen.«