»Allerdings«, fügte Adenabar sinnend hinzu, »kann ich mich nicht erinnern, daß der Nazarener einen von uns verflucht hätte. Er hat im Gegenteil noch vom Kreuze herab seinen Vater gerufen und ihn gebeten, uns zu verzeihen, weil wir nicht wüßten, was wir tun. Ich nehme an, daß er im Fieber sprach; sein Vater war ja bei der Hinrichtung gar nicht anwesend.«
Gereizt unterbrach ich ihn: »Ich verstehe nicht, was der Gekreuzigte mit Longinus und dem Legionsprofosen zu tun haben soll.«
»Ich glaube, die Sache mit dem Nazarener hat uns allen heillosen Schreck eingejagt«, meinte Adenabar. »Er war kein gewöhnlicher Mensch. Und als die Leute, die bei der Hinrichtung Hand angelegt hatten, von seiner angeblichen Auferstehung erfuhren, erschraken sie noch heftiger. Soldaten glauben ja jedes Gerücht, das etwas Abwechslung in ihr eintöniges Leben bringt. Je unsinniger ein solches Gerücht ist, desto leichter glauben sie es. Jetzt sind die Dinge so weit gediehen, daß beim geringsten Anlaß – wenn etwa in der Nacht ein Schild polternd zu Boden fällt oder wenn ein alter Ölkrug zerbricht und seinen Inhalt über den Hof ergießt – die ganze Besatzung auf den Beinen ist und alle Götter um Hilfe anfleht.«
»Aber«, fuhr er nach einer kurzen Pause fort, »auch die Juden in der Stadt haben anscheinend die gleichen Verdrießlichkeiten. Niemand wagt mehr, allein zu schlafen. Kinder wachen mitten in der Nacht auf und erzählen, ein fremder Mann habe sich über sie gebeugt und sie berührt. Manche Leute wieder behaupten, von etwas Warmem geweckt worden zu sein, das ihnen ins Gesicht träufelte; wenn sie aber die Lampe anzünden, finden sie nichts. Schließlich munkelt man, daß selbst Ratsmitglieder sich ständig die Hände waschen und sich den verschiedensten Reinigungszeremonien, streng nach dem Buchstaben des Gesetzes, unterziehen – sogar die Sadduzäer, die sonst solche Dinge nicht allzu genau nahmen. Mir persönlich ist allerdings nichts Übles widerfahren; ich hatte nicht einmal schlechte Träume. Wie steht es mit dir?«
»Mit mir?« rief ich. »Ich suche den Weg.«
Adenabar starrte mich merkwürdig an. Er hatte den Krug, ohne sich mit einer Wässerung des Weines aufzuhalten, halbleer getrunken; trotzdem konnte ich kein Zeichen von Trunkenheit an ihm merken. »Soviel man mir sagte«, erwiderte er, »gibt es viele Wege und manche falsche Wegweiser. Wie kannst du als Römer den Weg zu finden hoffen, wenn nicht einmal die Juden ihn recht kennen? Ich fürchte sehr, daß du in eine Sackgasse geraten und mit der Nase auf eine Mauer stoßen wirst.«
Diese Worte erstaunten mich sehr, und ich rief: »Du willst mir doch nicht damit andeuten, daß du, ein römischer Zenturio, die Stillen im Lande kennst und auch den Weg suchst?«
Adenabar lachte laut auf, schlug sich auf das Knie und schrie: »Ha, du bist also in die Falle gegangen! Bilde dir ja nicht ein, mir wäre es unbekannt, was du in den letzten Tagen getrieben hast. Ich habe auch Freunde in der Stadt – und zwar mehr als du Neuankömmling.«
Er wurde wieder ernst und sagte: »Ich glaube, die Römer begehen einen schweren Fehler damit, daß sie die gleiche Legion Jahr für Jahr hier im Lande belassen. Anderswo mag dieser Grundsatz sich bewähren: die Leute lernen das Land, in dem sie Ordnung halten, kennen; die Einwohner freunden sich mit ihnen an und lehren sie ihre Sitten und Bräuche; nach seinen zwanzig Dienstjahren bekommt der Legionär ein Stück Ackerboden im gleichen Lande, heiratet eine Einheimische und bringt seiner Umgebung römische Lebensart bei. Doch in Judäa und besonders in Jerusalem ist das anders. Je länger ein Fremder hier lebt, desto mehr beginnt er den jüdischen Gott zu fürchten oder aber einen bis zu blinder Wut gesteigerten Judenhaß zu entwickeln. Ob du es glaubst oder nicht, es gibt, besonders in den kleineren Garnisonen, sogar römische Offiziere, die heimlich zum jüdischen Glauben übertreten und sich beschneiden lassen. Aber zu denen gehöre ich nicht, dessen sei versichert! Nur aus purer Neugier habe ich mich nach den verschiedenen Wegen erkundigt, denen die Juden folgen – keineswegs, um sie auszuspionieren, sondern, um sie besser zu verstehen und nicht in den Bann ihres schrecklichen Gottes zu geraten.«
»Unter dem Kreuz hast du selber Jesus als Gottes Sohn anerkannt«, mahnte ich ihn. »Du selber bist mit mir in die Gruft getreten und hast gesehen, daß die Grablinnen nach seiner Auferstehung unberührt dalagen.«
»Allerdings!« gab Adenabar zu. Plötzlich schleuderte er den Tonbecher zu Boden, daß er in Stücke brach, sprang auf und brüllte mit wutverzerrtem Gesicht: »Verflucht sei dieser Judenkönig! Verflucht sei diese ganze Magierstadt und dieser Tempel, in dem es nicht einmal ein Götterbild gibt, das man zerschmettern könnte! Das wäre doch gelacht, wenn man nicht mehr einem einzelnen Menschen das Leben nehmen dürfte! Auch vor ihm sind schon Leute unschuldig gekreuzigt worden, ohne daß sie auferstanden wären und herumgespukt hätten. Dieser Nazarener untergräbt Zucht und Ordnung bei unseren Soldaten.«
»Er hatte es«, bemerkte ich nachdenklich, »aus irgendeinem uns unbegreiflichen Grunde offenbar darauf angelegt, daß alles genau so kommen sollte, wie es kam. Eines Tages werden wir vielleicht die Zusammenhänge verstehen; denn sein Reich ist noch immer bei uns auf Erden. Zweifellos fallen deshalb in der Festung Schilde von den Wänden und hört man nächtlicherweile Gespensterschritte: es ist ein Zeichen, daß er auch von uns Römern etwas will. Aber Angst brauchst du keine vor ihm zu haben. Er hat gelehrt, daß Böses nicht mit Bösem vergolten werden darf. ›Wenn jemand dich auf die eine Wange schlägt, so halte ihm auch die andere hin!‹ Und andere ähnliche Aussprüche, die wider alle Vernunft sind.«
Adenabar war über meine Worte nicht verwundert, sondern erklärte: »Auch ich habe schon Derartiges über seine Lehre gehört. Ich halte ihn deshalb für einen harmlosen Menschen und fürchte ihn nicht, obwohl es natürlich ungemütlich wäre, ihm zu begegnen, wenn er wirklich noch insgeheim in der Stadt umhergeistert. Wahrscheinlich würden mir die Haare zu Berge stehen, wenn er plötzlich erscheinen und mich anreden sollte. Aber er offenbart sich angeblich keinem Unbeschnittenen, nur seinen Jüngern und den Frauen, die mit ihm aus Galiläa kamen.«
Seine Klügeleien entflammten mich, so daß ich alle Vorsicht vergaß und ihm von der seltsamen Erscheinung im Hause Simons von Kyrene erzählte und auch davon, daß ich vielleicht Jesus schon am Tage seiner Auferstehung in Gestalt eines Gärtners gesehen hatte.
Adenabar schüttelte mitleidig den Kopf und meinte: »Du mußt in Alexandria ein schrecklich ausschweifendes Leben geführt und vermutlich auch mehr studiert haben, als dein Kopf vertrug. Überdies schlägt dir das hiesige Klima sichtlich nicht an. Du tätest also gut, diese Gegend unverzüglich zu verlassen. Zu deinem Glück bin ich dir wohlgesinnt und werde dich nicht anzeigen, wenn du mir versprichst, dich ruhig und besonnen zu verhalten.«
Als ich ihn so reden hörte, packte mich plötzlich die Wut, und ich rief: »Man hat mich oft genug verdächtigt, für die Römer zu spionieren. Mir ist es zuwider, umgekehrt selbst irgendwen zu verdächtigen; sonst würde ich vermuten, man hätte dich zu mir geschickt, um mich von einer Einmischung in jüdische Angelegenheiten abzuschrecken.«