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Ich erinnerte ihn: »Gestern noch klangen deine Worte ganz anders. Du hast mir sogar den Arm um den Nacken gelegt und mir den Bruderkuß gegeben.« Aber schon während ich das sagte, spürte ich deutlich, wie sehr diese beiden Juden auf ihren Bund mit dem Gott Israels pochten und alle Außenstehenden ablehnten. Zachäus wurde in meinen Augen wieder häßlich.

Er entgegnete: »Ich war erschöpft nach meiner Reise und noch ganz bestürzt über die Nachrichten aus Jerusalem. Außerdem hast du versucht, mich mit diesem starken Wein betrunken zu machen. Ich wußte nicht, was ich tat. Aber jetzt sehe ich klarer.«

Adenabar hänselte mich: »Mir an deiner Stelle würde weniger zur Ernüchterung reichen. Zuerst haben sie dich auf die eine, dann auf die andere Backe geschlagen. Und je tiefer du den Kopf beugst, desto härtere Hiebe setzt es. Mach jetzt Schluß mit diesem Unsinn und nimm endlich zur Kenntnis, daß ihr König nicht deinetwegen auferstanden ist!«

Ich hatte zwar selbst auch schon alle Hoffnung aufgegeben, erwiderte jedoch eigensinnig: »Mein Kopf gehört mir, und ich kann mit ihm tun, was mir beliebt. Mir ihn abzuschlagen hat niemand außer Cäsar das Recht. Geh jetzt in Frieden, Adenabar! Angst um mich brauchst du ja keine mehr zu haben.«

Widerstrebend meinte der Zenturio: »Ich möchte dich nicht schutzlos mit diesen beiden Männern lassen.«

Zachäus nahm den Sendboten Jesu an der Hand und rief: »Nein, nein! Wir gehen schon selber. Bleibt schön unter euch, Römer! Eure Wege sind nicht die unseren.«

Aber ich wollte sie nicht ziehen lassen. Ohne Adenabars Mahnung zu beachten, begleitete ich ihn hinaus, kam dann zurück und demütigte mich so weit, daß ich vor dem unerbittlichen Zöllner auf die Knie fiel und flehte: »Erbarme dich meiner, du von Jesus Berufener und Erwählter! Was ist an der neuen Lehre so Außergewöhnliches, wenn sie Freundschaft nur innerhalb des eigenen Volkes zuläßt? Diese Art von Gemeinsinn kennen auch wir Römer. Ich dachte, Jesu Gebot wäre die Menschenliebe. Aber dein Herz muß von Stein sein, wenn du mich so zurückweisen kannst. Der Reiche wirft vom Überfluß seiner Tafel Brosamen dem Bettler hin, auch wenn er ihn verachtet. Deshalb belehre mich!«

Adenabars Weggang hatte Matthäus beruhigt; er setzte sich wieder. Und plötzlich ließ er alle Zurückhaltung fallen; er barg das Gesicht in den Händen, unverkennbar von noch größerer Qual erfüllt als ich. Seine Stimme klang ganz verändert, als er sagte: »Versuche mich zu verstehen und wirf mir nicht Gefühllosigkeit vor! Diese Bezichtigung rührt mir ans Herz, und mein Herz ist schon gebrochen. Wir sind wie Schafe, die ein Rudel Wölfe auseinandergejagt hat. Zwar können wir vor drohender Gefahr beieinander Zuflucht suchen; aber seit unser Herr von uns gegangen ist, haben wir alle innerlich den Weg verloren. Ach, Römer, warum setzt du mir so zu? Wir wissen uns keinen; anderen Rat, als standhaft zu verteidigen, was uns verblieben ist. Sogar unter uns streiten wir und kränken einander; Petrus sagt eines, und Johannes etwas anderes. Noch vermögen wir nicht einmal alle seine Auferstehung zu glauben und zu erfassen. Du drängst dich, in einen Schafpelz gehüllt, in unsere Mitte; aber woher wissen wir, ob du nicht inwendig ein Wolf bist? Von Dornensträuchern kann man keine Trauben lesen. Wie sollen wir von einem Römer etwas Gutes erwarten?«

Händeringend schüttete er mir sein Herz aus: »Er hieß uns unsere Feinde lieben und für die beten, die uns verfolgen. Aber welcher Mensch bringt das zuwege? Und er hat auch gesagt: ›Wenn dein Auge dir Ärgernis bereitet, so reiß es aus und wirf es von dir! Wenn deine Hand oder dein Fuß dir Ärgernis bereiten, so haue sie ab und wirf sie von dir!‹ Solange er bei uns war, glaubten wir ihm; aber mit seinem Hingang hat alle Kraft uns verlassen, und wir finden nicht mehr unseren Weg. Wie können wir an einem fremden Menschen echtes und geheucheltes Verständnis unterscheiden, wenn wir selbst uns noch nicht zum wahren Verstehen durchgerungen haben?«

»Aber«, wandte ich verzweifelt ein, »Jesus muß euch doch sicherlich gelehrt haben, in der rechten Weise zu beten; er muß einen Bund mit euch geschlossen und euch ein Geheimnis offenbart haben, durch das ihr mit ihm Verbindung finden könnt! Er war doch mehr als bloß ein Mensch.«

Zachäus stieß den Sendboten warnend an und flüsterte: »Siehst du! Da schnüffelt er schon deinen Geheimnissen nach – Dingen, die sogar mir unbekannt sind! Er ist ein Schlaukopf, trotz seiner biederen Miene. Mich hat er betrunken gemacht, um mir herauszulocken, was der Messias mir als mein Gast anvertraut hat.«

Aber Matthäus wurde nicht zornig. Er schien sich im Gegenteil beruhigt zu haben und meine Worte zu überdenken. Nach einer Weile entgegnete er: »Du hast recht, Fremdling. Er hat uns tatsächlich das richtige Gebet gelehrt und einen Bund mit uns geschlossen. Aber was er uns allein mitteilte, kann ich dir nicht weitergeben.«

Es war, als hätte er sich nun mit mir ausgesöhnt, und Güte erfüllte jetzt sein ganzes Wesen. Kindlich lächelnd legte er die Handflächen aneinander und sagte: »Er wußte genau, warum er gerade uns berief. An jedem von uns hatte er zweifellos etwas entdeckt, was er für den Aufbau seines Reiches brauchte, obwohl wir das seinerzeit nicht verstanden. Weshalb er allerdings auch Judas Ischariot berief und ihm die Verwaltung der gemeinsamen Kasse anvertraute, das begreife ich gar nicht; aber sicherlich hatte er dazu seine besonderen Gründe.«

Er preßte die Handflächen noch fester aneinander, starrte wie ein Kind vor sich hin und erklärte: »Als Zollbeamter kann ich lesen und schreiben – auch griechisch –, schwierige Rechnungen durchführen und mit verschiedenen Maßen und Gewichten umgehen. So ermesse und erwäge ich im Geiste auch immer wieder zwangsläufig sehr sorgsam alle seine Worte und Werke. Da mir dafür kein neues Maß zur Verfügung steht, muß ich das alte benützen: Moses und die Propheten und die heiligen Schriften. Und mit diesem Maße kann kein Heide gemessen werden. Nein, das geht nicht, auch wenn ich mich noch so sehr darum mühe. Dennoch wird mir bei dieser Entscheidung schwer ums Herz, weil gerade jene persönlichen Eigenschaften, um derentwillen der Herr mich wohl erwählt hat, mich einen seiner Aussprüche ganz besonders ernst nehmen lassen: ›Mit dem Maße, mit dem ihr meßt, wird auch euch gemessen werden.‹ Ich ahne, daß er uns ein völlig neues Maß gegeben hat; aber noch weiß ich nicht, welches. So muß ich stets wieder auf die alten, mir von Kind auf vertrauten Maße zurückgreifen.«

Seine Worte machten mir tiefen Eindruck, und ich mußte an meinen verehrten Lehrer in Rhodos denken, der mir gesagt hatte, der Mensch sei das Maß aller Dinge. Deshalb waren bisher menschliche Unzulänglichkeit, Zweifelsucht und Fehlerhaftigkeit meine einzigen Maßstäbe für die Ereignisse meines Lebens und die Geschehnisse in der Welt gewesen. Diese Lehre hatte mich für fremde Schwächen ebenso nachsichtig gemacht wie für die eigenen, und ich konnte innerlich mit niemandem allzu strenge ins Gericht gehen. Ich begnügte mich damit, einen Mittelweg, einen Weg des Ausgleichs, zu suchen, weil ich es ebenso anstrengend fand, den überharten Anforderungen stoischer Tugendhaftigkeit gerecht zu werden, wie ein Dasein zügelloser Lust zu führen.

Aber wie im Lichte eines Blitzstrahls leuchtete mir nun plötzlich ein, was Matthäus gesagt hatte, und ich spürte, daß Jesus von Nazareth wirklich der Welt neue Maßstäbe geschenkt hatte. Als Mensch und als Gottes Sohn zugleich war er über die Erde geschritten und hatte das Grab verlassen, um seinen göttlichen Ursprung zu bezeugen. Hätte nur der Mensch in Jesus ein neues Maß der Dinge gebracht, so wäre es eines der vielen menschlichen Maße geworden, dem Meinungsstreit und der Nachprüfung unterworfen; aber da es vom Sohne Gottes stammt, kann der Verstand es weder fassen noch in Frage stellen. Es ist das einzige wahre Maß, das allein demjenigen, der es sich zu eigen macht, Heil zu bringen vermag.

Welche Art von Maß aber ist es? Wie sollte ich das wissen, wenn selbst Jesu eigene Sendboten es bisher nur dunkel ahnen können? Gilt es vielleicht nur für die Juden, die sich als auserwähltes Volk Gottes betrachten und deshalb von allen anderen Völkern Abstand halten? Aber gerade sie waren es doch, die ihren König von sich gestoßen hatten.