Es war, als hätte Matthäus meine Gedanken gelesen. Denn er sagte: »Wir selber tappen im dunkeln, zwischen Altem und Neuem, und verstehen sein Reich noch nicht. Wir meinten, er hätte uns Zwölfe ausgesucht als Herrscher über die zwölf Stämme Israels. Nach den Weissagungen soll ja Israel durch den Messias alle Völker der Erde beherrschen. Wir können doch nicht die Propheten und alle heiligen Bücher verwerfen. Hier liegt ein unfaßbar schrecklicher Widerspruch. Als Jesus den Tempel reinigte, nannte er ihn selbst seines Vaters Haus. Wie könnten wir einen Bund verleugnen, den Gott mit Abraham und Moses geschlossen hat? Ganz Israel würde gespalten werden. Darum dürfen wir seinen Weg Ausländern und Heiden nicht öffnen. Ebensogut könnten wir Unreines essen. Laß also ab von mir, Versucher!«
Zachäus stieß ins gleiche Horn: »Ich habe seinerzeit den Römern gedient und sie kennengelernt. Deshalb empfand ich es als Wohltat, von ihnen loszukommen. Es war herrlich, nach meinen Irrfahrten heimzukehren in Abrahams Schoß. Quäle uns nicht länger! Wir leiden auch so schon genug.«
Angesichts der Selbstgefälligkeit dieses Zwerges fand ich meinen eigenen Stolz wieder und sagte: »Nun, wie es euch beliebt! Ich habe euch angewinselt gleich einem Hund. Aber ihr seid beide von jüdischer Eigensucht angekränkelt. Dir wollt, was ihr habt, mit niemandem teilen. Dabei erfaßt ihr selber nicht einmal noch den Sinn des Geschehens. Auch mir ergeht es nicht anders. Aber wenigstens eines ist mir klar: Wenn Gott als Mensch auf Erden geboren wird, als Mensch leidet und stirbt, schließlich aber von den Toten aufersteht, so geht das jedes Menschenwesen auf der ganzen Welt an und nicht bloß euch Juden. Darum will ich mich auch weiterhin mühen, sein Rätsel zu lösen und ihn zu suchen – wenn nicht mit euch, so ohne euch. Geht in Frieden!«
Matthäus erhob sich zum Weggehen, und Zachäus tat, mit einem feindseligen Blick auf mich, das gleiche. Der Sendbote aber zürnte mir nicht; er rieb sich die Stirn und sagte: »Deine Gedankengänge widersprechen derart jeder Vernunft, daß ich ihnen nicht folgen kann. Wie sollte das zugehen? Könnte der Gott Israels seine Macht derart über alle Völker ausdehnen, daß niemand mehr dem Verderben anheimfiele? Nein, nein! Er selbst hat gesagt: ›Viele sind berufen, aber wenige auserwählt.‹«
Er begann, sich heftig über Gesicht und Rumpf zu streichen, als wollte er Spinnweben wegwischen, und schrie: »Nein, nein! Das ist Lug und Trug! Er hat uns eingeschärft, es würden keineswegs alle, die ihn als ihren Herrn anerkennen, in sein Reich eingehen. Ich entsinne mich sehr deutlich seiner Worte: ›Viele werden an jenem Tage zu mir sagen: Herr, Herr, haben wir nicht in deinem Namen geweissagt, in deinem Namen böse Geister ausgetrieben und viele Taten der Macht in deinem Namen gewirkt? Alsdann werde ich ihnen erklären: Ich habe euch niemals gekannt! Weichet von mir, ihr Übeltäter!‹ Diese Worte verurteilen auch dich, was immer du durch Mißbrauch seines Namens mit deinen Beschwörungen auszurichten vermagst. Du wirst damit nur dir selber schaden – nicht uns, die er kannte und kennt.«
Diese Drohung ließ mich vor Furcht erschauern; denn ich mußte an jenen Vorfall mit dem Blinden an der Straße denken, als ich die Wirksamkeit des Königsnamens erprobt und der Stein in des Bettlers Hand sich in menschliche Nahrung verwandelt hatte. Aber ich wollte damit niemandem schaden. Darum vertraute ich darauf, daß Jesus von Nazareth mir mein Tun vergeben würde, auch wenn seine Jünger es unverzeihlich fanden. Indes wurde mir in diesem Augenblick klar, daß ich die Macht seiner Anrufung nicht in Anspruch nehmen durfte, weil ich ihm fremd war, während seine Auserwählten ihn kannten.
Darum sagte ich demütig: »Ich gestehe, daß ich nur wenig von ihm weiß. Ich habe kein Recht, mich seines Namens zu bedienen. Aber du hast mir viel Stoff zum Nachdenken geboten. Anscheinend ist Jesus von Nazareth nicht so gütig und barmherzig, wie ich meinte, wenn er von mir verlangt, ich sollte mir, um ihm nachfolgen zu können, ein Auge aus dem Kopf reißen oder eine Hand abschlagen. Hast du ihn da bestimmt richtig verstanden?«
Matthäus beantwortete meine Frage nicht, sondern sagte: »Ich glaube kaum, daß der Herr überhaupt etwas von dir verlangt, nachdem du ja außerhalb des Heilskreises stehst und zur Verdammnis bestimmt bist. Ich glaube nicht, daß du in sein Reich Aufnahme finden wirst, ohne dich vorher dem Gott und dem Gesetz Abrahams, Isaaks und Jakobs zu unterwerfen. Erst wenn du das getan hast, könntest du beginnen, seinen Weg zu suchen.«
Er raffte den Mantel um sich und zog ihn über den Kopf; dann verließ er den Raum und stieg die finstere Treppe hinab; Zachäus folgte ihm, und keiner der beiden entbot mir den Friedensgruß.
Als sie gegangen waren, warf ich mich verzweifelt auf das Bett und wünschte mir nichts als den Tod. Ich faßte den Kopf in beide Hände und fragte mich, was aus mir geworden sei und was mich in diese hoffnungslose Lage gebracht habe. Vielleicht, so dachte ich, täte ich besser, diese gespenstische Stadt zu verlassen, in der ein statuenloser Gott herrscht und nichts so vor sich geht wie anderswo. Die Leute fliehen mich hier und schauen mich über die Achsel an, weil ich Römer bin. Das unergründliche Reich des Nazareners ist mir verschlossen. Wenn ich meine Sachen packe und in die römische Stadt Cäsarea reise, kann ich in Theater und Zirkus Zerstreuung suchen, bei Wagenrennen Wetten abschließen und sonstige Vergnügungen in Hülle und Fülle genießen.
Während ich so dachte, erblickte ich plötzlich vor mir ein deutliches Bild des Mannes, der ich dann nach Jahren werden würde. Ich sah mich von außen: dickwanstig, mit aufgedunsenem Gesicht, mit Glatze und Zahnlücken. Lallend wiederholte ich mit den gleichen Worten eine Geschichte, die ich schon tausendmal erzählt hatte; meine Tunika war von Wein und Brechsel beschmutzt; Flötenspieler und Tanzmädchen mühten sich vergebens, meine abgestumpften Sinne zur Wollust anzustacheln. Das würde meine Zukunft sein, wenn ich jetzt aufgab und wieder meinen sogenannten Mittelweg einschlagen wollte. Und dann? Die Flamme eines Scheiterhaufens, Asche und ein Schattendasein.
Ich begehrte gegen dieses Zukunftsbild nicht auf, obwohl es häßlicher und abstoßender war, als meine Philosophie es mir vorgegaukelt hatte. Ich konnte mir vorstellen, daß ich mich in dieses Schicksal fügen würde; aber es lockte mich keineswegs. Nun hatte sich mir ja ein anderer Weg eröffnet; er hatte mich von Alexandria nach Joppe geführt und dann zum Kreuzigungshügel vor den Mauern Jerusalems und weiter zu einem leeren Grab. Die Wahrheit, die mir dabei zuteil geworden war, konnte mir niemand rauben. Langsam fand ich die innere Gewißheit wieder, daß nichts von meinen Erlebnissen Zufall gewesen war, daß ich vielmehr die ganze Zeit über auf meine eigene Art Zeugnis für etwas abzulegen half, was die Welt bisher nie geschaut hatte. Seit Jesu Auferstehung weilt sein Reich hier auf Erden. In meiner trostlosen Einsamkeit im Dunkel dieser Gespensterstadt hatte ich das Gefühl, als wäre das Reich stets irgendwo in meiner nächsten Nähe – nicht ferner von mir als eine Berührung, ein Schritt, ein Erzittern. Unsagbar mächtig wandelte mich die Versuchung an, mit lauter Stimme Jesus von Nazareth, den Sohn Gottes, zu rufen. Aber ich war ja aus seinem Reiche verwiesen worden und durfte nicht mehr wagen, seinen starken Namen zu beschwören.
Dennoch wurde mir plötzlich etwas klar, und diese neue Schau der Dinge überraschte mich derart, daß ich mich verwundert im Bett aufsetzte. Hätten seine Jünger mich nicht zurückgewiesen, sondern in ihren Kreis aufgenommen und belehrt und auf jede Weise von seinen Wundern und seiner Auferstehung zu überzeugen versucht, so wäre ich sicherlich, von Zweifeln geplagt, daran gegangen, sie im Netz meiner Fragen zu verstricken und in Widersprüche zu verwickeln. Gerade ihre schroffe Ablehnung aber bestärkte nur meine Überzeugung von der Wirklichkeit des Reiches und von Jesu Auferstehung, so daß ich an diese beiden höchst unglaublichen Wahrheiten nun fest glaube. Die Jünger haben so viel auf einmal erlebt, daß sie nicht alles verdauen können. Im Vergleich mit ihnen ist mir nur ein winziges Bruchstück an Erleben zugefallen; aber dieses Bruchstück ist mein, und ich glaube daran. Mein Leben und meine Philosophie sind so weit zur Reife gediehen, daß ich einen neuen Maßstab übernehmen kann. Der Mensch als Maß aller Dinge befriedigt mich nicht mehr, und andererseits bindet mich keine Fessel jüdischen Gesetzes und Brauchtums an die Vergangenheit.