In diesem Augenblick flackerte die Flamme in meiner öllos gewordenen Lampe auf, wurde blau und erlosch; es roch brandig. Aber mir wurden Finsternis und Einsamkeit jetzt nicht – wie es manchmal geschieht, wenn plötzlich eine Lampe ausgeht – unheimlich. Um mich her war es dunkel; doch wenn ich die Augen schloß, wurde es in mir licht – eine Empfindung, die ich bisher nie gekannt hatte. Es war, als besäße ich ein zweites, inneres Augenpaar. Dieses seelische Organ sah ein helles Leuchten, während sich den körperlichen Augen nur Dunkelheit bot. Mir fiel der Gärtner ein, dem ich begegnet war, und durch mein Sinnen klangen seine Worte: »Ich kenne die Meinen, und die Meinen kennen mich.«
Demütig und bebend sprach ich laut, noch immer mit geschlossenen Augen: »Ich wage nicht zu sagen, daß ich dich kenne. Aber von ganzem Herzen begehre ich, dich zu erkennen, und wünsche mir, daß auch du um mich weißt und dich nicht von mir abwendest.«
Als ich das gesagt hatte, trat Friede in meine Seele und mit ihm die schlichte Gewißheit, daß an mir alles so geschieht, wie es geschehen muß, und daß ich ohne Geduld nichts gewinnen kann. Ich muß mich bescheiden fügen und warten. Die Zeit stand still; auch in der Welt hielt alles Kreisen inne und wartete.
Aus dieser Verzückung riß mich eine Hand, die sich mir auf die Schulter legte. Ich fuhr auf und öffnete die Augen. Noch immer saß ich auf dem Bettrand, und der Mann, der mit einer brennenden Lampe eingetreten war und jetzt meine Schulter berührte, war mein syrischer Hausherr.
Er stellte die Lampe hin, kauerte sich vor mir auf den Boden, schüttelte besorgt den Kopf, strich sich den Bart, zupfte an seinen Ohrringen und sagte: »Was fehlt dir? Bist du krank? Warum hältst du Selbstgespräche im Finstern? Das ist ein schlimmes Anzeichen. Ich fürchte, deine jüdischen Gäste haben dich behext, so daß du nicht mehr du selber bist.«
Diese ängstlichen Worte versetzten mich in die Wirklichkeit und in das Zimmer zurück, worin ich saß. Aber ich bedauerte nicht, daß Karanthes gekommen war. Ich lachte vielmehr, tätschelte ihm den Kopf und erwiderte: »Nein. Ich bin keineswegs krank, sondern gesünder als jemals. Ich habe nämlich endlich erkannt, daß ein einfaches Leben besser ist als ständige Abwechslung. Mich verfolgen keine beklemmenden Gedanken mehr. Und meine jüdischen Gäste haben mich mir selber überlassen und wollten nichts mehr mit mir zu tun haben. Du brauchst dich um mich nicht zu sorgen, ich bin von meinen Krankheiten geheilt.«
Angesichts meiner offenkundigen Wohlgelauntheit beruhigte sich Karanthes, klagte aber: »Der kleinere Jude hat meine Türschwelle verlästert, und seit dem Abgang der beiden liegt so viel Unruhe in der Luft, daß die Kinder im Schlaf aufschreien; und als ich selbst zu schlafen versuchte, war mir, als ginge ein Regen auf mich nieder. Deswegen wollte ich nach dir sehen und habe eine frische Lampe mitgebracht, damit dich nicht das Alleinsein und die Finsternis ängstigen.«
Ich versicherte ihm, daß mir das Erlöschen der Lampe nichts ausgemacht habe, und fügte hinzu: »Ich habe die Empfindung, daß ich mich überhaupt vor der Dunkelheit nicht mehr fürchten und auch in der Einsamkeit nie allein sein werde. Die Welt ist launisch und unberechenbar; ich gebe es auf, sie mit Vernunft ergründen zu wollen. In der Stunde meiner größten Niedergeschlagenheit, als ich so ausgebrannt war wie diese öllose Lampe hier, ist plötzlich in mir Freude aufgeblüht. Unermeßlicher Jubel erfüllt mich, und ich würde dich gern am Bart zupfen, um meinen Frohsinn auf dich zu übertragen.«
Aber Karanthes riet: »Bau dir ein Haus, pflanze Bäume, nimm ein Weib und zeuge Kinder! Dann wird deine Freude vollkommen sein. Erst dann wirst du spüren, daß du lebst.«
»Alles zu seiner Zeit!« erwiderte ich. »Ich glaube, so weit bin ich noch nicht, um deine Ratschläge zu befolgen.«
Ich wollte ihn nicht durch ein Gespräch über Jesus von Nazareth in Verlegenheit bringen. Ich sagte ihm, ich sei sehr hungrig, weil ich während des Schreibens keine Lust zum Essen gehabt hätte. Das freute ihn mehr als alles andere, was ich ihm mitteilen konnte. Wir gingen hinunter, leise, weil seine Familie noch schlief. Er brachte Brot, Oliven und Salat, und wir aßen miteinander und tranken so viel Wein, daß Karanthes laut zu kichern anfing.
8
Marcus an Tullia.
Meine schlichte Freude hielt an. Sie entsprang wohl der Erleichterung darüber, daß ich nicht länger den Drang verspürte, mich mit unfruchtbaren Grübeleien abzuquälen oder in wißbegierigem Neid zu verzehren, weil andere Menschen vieles erlebt hatten, was mir versagt blieb.
Als alles Berichtenswerte niedergeschrieben war, ging ich aus und wanderte durch die Gassen Jerusalems, sah den Kupferschmieden bei der Arbeit zu, und auch den Webern und Töpfern. Ich nahm einen Fremdenführer, ließ mir den Hasmonäerpalast zeigen und stieg auf die Türme des von Herodes erbauten Palastes, ja sogar auf einen ganz alten, nur mehr von Fledermäusen bewohnten Turm. Ich besuchte den Tempelvorhof und verbrachte einige Zeit auf dem Forum; dann verließ ich die Stadt, um sie von den umliegenden Hügeln aus zu betrachten, und kehrte wieder zurück. Hier in Jerusalem geht alles seinen gewohnten Gang, als wäre nichts geschehen. Ich glaube, schon nach einer Woche hatten die meisten Bewohner Jesus von Nazareth und seinen schrecklichen Tod vergessen und wollten nichts mehr von ihm hören.
Ich wurde dieser Judenstadt müde, deren Bräuche mir fremd sind. Nicht einmal an dem so hochgepriesenen Tempel konnte ich noch etwas Bemerkenswertes entdecken. Eigentlich gleichen sich ja alle großen Städte; nur in den Lebensgewohnheiten der Einwohner gibt es Unterschiede. Ebenso ähneln die berühmten Tempel einander, mögen auch die Opfer und Kultformen jeweils verschieden sein. Eines der ihnen gemeinsamen Merkmale ist das Einsammeln von Geld in der einen oder anderen Art. Wenn die Juden im Tempelvorhof heilige Texte in kunstvoll ausgeführten Kästchen verkaufen, die man mit Riemen an Arm oder Stirn bindet, so erinnert mich das lebhaft an die Epheser, die den Pilgern und Touristen Amulette und kleine Artemisstatuen anbieten.
Als ich abends heimging, sah mein Hausherr Karanthes mich von weitem in der schon dämmerigen Gasse und kam mir, als hätte er auf mich gelauert, eilends entgegen. Pfiffig lächelnd und händereibend erzählte er mir: »Jemand hat nach dir gefragt und erwartet dich.«
Freudig überrascht erkundigte ich mich: »Wer kann das sein? Ich habe keine Freunde in der Stadt. Warum tust du so geheimnisvoll?«
Mein Syrer konnte sich nicht mehr zurückhalten; er brach in Lachen aus und rief: »Oh, wie froh bin ich, daß du jetzt wieder in jeder Beziehung wohlauf bist und dich wie ein Mann aufführst! Es liegt mir fern, auf dein Tun und Treiben neugierig zu sein; aber ich habe sie gebeten, in deinem Zimmer zu bleiben, damit nicht böse Zungen sich rühren. Sie sitzt bescheiden auf dem Fußboden, den Mantel um die Beine gehüllt. Natürlich hättest du dir etwas Schöneres finden können, aber die Geschmäcker sind verschieden. Zumindest ist sie gut gewachsen und hat jedenfalls schöne Augen.«
Ich konnte mir nicht vorstellen, welche Frau auf mich warten sollte. Ich lief in mein Zimmer, erkannte aber die Besucherin nicht, obwohl sie bei meinem Kommen demütig das Gesicht enthüllte und mich wie einen Bekannten ansah. Erst der Klang ihrer Stimme – ich hatte mit ihr seinerzeit nur im Dunkeln gesprochen – brachte mir Gewißheit, als sie sagte: »Es ist bestimmt nicht in Ordnung, daß ich mich dir so aufdränge; und ich möchte deinen Ruf, wenn du in dieser Beziehung empfindlich bist, nicht gefährden. Eine Frau wie ich darf ja einen Mann, mit dem sie in der Nacht gesprochen hat, bei Tage nicht kennen. Aber ich habe dir etwas zu erzählen, worüber du sicher staunen wirst.«