Er fuhr sich mit seiner gelblichen Hand über die Stirn und fügte hinzu: »Ich habe Kopfweh, und meine Gedanken zerflattern mir. Als ich dich meinen Namen rufen hörte, bin ich erschrocken. Ich bekomme jetzt immer Angst, wenn jemand mich ruft. Ich möchte dir ein Gleichnis sagen. Wenn wir, du und ich, beide nur so groß wie Nadelspitzen wären und alles um uns herum wäre auch nadelspitzenklein oder noch kleiner, so würden wir uns gegenseitig dennoch weiter für ebenso groß halten wie bisher, weil wir nur einander zum Vergleich hätten. Für mich aber ist die Welt und alles um mich so klein geworden wie eine Nadelspitze. Warum hat er sich bereit gefunden, geboren zu werden, zu sterben und wieder in diese Nadelspitzenwelt aufzuerstehen? Das vermag ich einfach nicht zu fassen.«
Ich konnte nur annehmen, daß während der Tage, da er tot im Grab gewesen war, sein Hirn irgendwie Schaden genommen hatte und er nicht mehr so zu denken vermochte wie andere Menschen. Ich wandte mich schweigend ab und kehrte zur Straße zurück. Nathan blickte mich prüfend an, und in seiner Miene lag die gleiche Verwunderung, die ich schon einmal an ihm bemerkt hatte. Aber er sagte nichts. Wir setzten unseren Weg fort.
Die Straße führte in einen Talboden und querte einen Wasserlauf. Wir wanderten am Fuß der Berghänge und hielten nur einmal an, um an einem Brunnen die Esel zu tränken. Nathans Schweigsamkeit steckte auch Maria an, so daß wir wenig sprachen. Aber die Redescheu des Mannes hatte nichts von mürrischem Mißmut; ich hatte volles Vertrauen zu seiner Führung. Auch gegen die kranke Frau hegte ich keinen Groll mehr; sie ritt als letzte und bemühte sich, so wenig wie möglich aufzufallen. Als die Schatten länger wurden, begann ich mich sogar ihretwegen zu sorgen und fragte mich, wie weit ihre Kräfte reichen würden. Nathan trieb die Tiere ununterbrochen an; er ging mit langen, unermüdlichen Schritten einher, als hätte er es eiliger als wir selbst. Ich stellte fest, daß er Samaria meiden wollte und dem Weg der galiläischen Pilger folgte, die für ihre Tempelreisen zu den großen jüdischen Festen über Jericho wanderten.
Erst als einzelne Sterne auftauchten, machten wir in einem kleinen Dorfe halt, und Nathan führte die Esel in den umzäunten Hof einer bescheidenen Herberge. Hier mußten wir selbst für uns sorgen. Rasch und geschickt entlud Nathan die Tiere und trug unsere Schlafmatten in einen leeren, nach Dung riechenden, aber reinen Raum. Susanna beeilte sich, im Hof ein Feuer anzuzünden und klapperte sehr vernehmlich mit den Kochtöpfen, um zu zeigen, daß sie sich nützlich zu machen und uns ein Essen zu bereiten gedachte.
Sie mischte Hammelfleischstücke in die dicke Suppe, die sie an das Feuer gesetzt hatte, und ließ das Fleisch schmoren. Dann holte sie Wasser und bestand darauf, mir die Füße zu waschen. Sie wusch auch Marias Füße und behandelte die junge Frau in jeder Beziehung mit Ehrerbietung. Als das Essen fertig war, reichte sie zuerst mir und dann Maria davon. Ich fühlte mich sehr wohl.
In herzlichem Töne lud ich Nathan und Susanna ein: »Ich weiß nicht, ob ich gegen eure Gesetze verstoße; aber schließlich reisen wir miteinander und werden im selben Raum schlafen. Wenn ihr das gleiche essen wollt wie ich, so setzt euch und greift zu!«
Sie wuschen sich die Hände und kauerten sich zum Essen auf den Boden hin. Nathan brach das Brot, segnete es auf jüdische Art und reichte mir ein Stück; den Frauen schenkte er keine Beachtung. Er aß wenig, das Fleisch berührte er überhaupt nicht. Während des Mahles starrte er in Gedanken versunken vor sich hin, und ich versuchte nicht, ihn ins Gespräch zu ziehen. Nachher sah er nochmals nach den Tieren, hüllte sich in seinen Mantel, bedeckte den Kopf und legte sich an der Schwelle schlafen, als wollte er damit andeuten, wir täten gut, seinem Beispiel zu folgen. Als aber Susanna fertiggegessen hatte, warf sie sich vor mir nieder und wollte mir die Füße küssen, zum Dank dafür, daß ich sie unter meinen Schutz genommen hatte.
Ich sagte: »Danke nicht mir, sondern Nathan! Ich hoffe bloß, daß die Reise dich nicht zu sehr hernimmt; sonst wirst du gar von neuem krank.«
Sie widersprach: »Nein, nein! Wir galiläischen Frauen sind zähe wie Leder. Meine Krankheit ist hauptsächlich Kummer; aber wenn ich heimkomme, an das Ufer des Galiläischen Meeres, wird die Freude mich wieder ganz gesund machen.«
Am nächsten Morgen weckte Nathan uns vor Sonnenaufgang und setzte uns so rasch in Bewegung, daß ich, vor Schläfrigkeit und Kälte zitternd und einen Bissen Brot kauend, schon auf meinem Esel saß, als gerade die rote Sonne über den Hügeln aufstieg. Sobald aber allmählich das Sonnenlicht heller und wärmender wurde, erfüllte mich Freude. Die blauen Höhen, die Weinberge und die silbergrauen Ölbäume auf den Hängen waren schön anzusehen. Ich glaube, wir alle empfanden den gleichen Frohsinn; denn plötzlich stimmte Nathan zu meinem größten Erstaunen mit heiserer Stimme ein hebräisches Lied an.
Ich warf Maria einen fragenden Blick zu; doch sie schüttelte nur den Kopf, zum Zeichen, daß sie die Liedworte nicht verstand. In dem auf- und absteigenden Singsang Nathans war etwas zugleich Jubelndes und Feierliches. Als er verstummte, stieg ich von meinem Esel und wartete, bis Susanna herankam. Auf meine Frage blickte sie mich vertrauensvoll an und erläuterte: »Das ist ein Pilgerlied und besagt: ›Der Herr ist dein Hüter; zu deiner Rechten steht der Herr, dein Beschützer. Bei Tage wird dir die Sonne nicht schaden, der Mond nicht bei Nacht. Der Herr wird dich vor jedem Übel bewahren; er wird deine Seele behüten. Der Herr wird behüten dein Gehen und Kommen, von nun an bis in die Ewigkeit.‹«
Ich verstand Susannas Mundart nicht recht, und sie begann daher die gleichen Worte in der Umgangssprache zu summen, den Oberkörper hin und her wiegend. Und plötzlich brach sie zu meiner Überraschung in Tränen aus. Ich berührte ' tröstend ihre Schulter und sagte, etwas erschrocken: »Weine nicht, Susanna! Erzähle mir, was dich bedrückt! Vielleicht kann ich dir helfen.«
Sie erwiderte: »Nein, nein. Ich weine nur vor Freude, weil ich aus tiefstem Leid und eigentlich aus den Klauen des Todes wieder an das Licht des Tages gekommen bin.«
Mir wurde unwillkürlich etwas merkwürdig zumute, weil ich offenbar gleich zwei Menschen, die nicht ganz richtig im Kopfe waren, zu Reisegefährten hatte. Aber ich mußte lächeln: schließlich war ich nach allen vernünftigen Maßstäben selber ein verrückter Römer, der ohne Rast und Ruhe einem auferstandenen Judenkönig nachlief.
Gegen Mittag kamen wir ins Jordantal hinunter und erblickten vor uns weites, fruchtbares Ackerland und die grauen Mauern Jerichos. Die Luft wurde glühend heiß; doch immer wieder führte ein Windhauch uns den milden, aber durchdringenden Duft der Palmenhaine zu, die Jerichos Reichtum sind.
Hier war der Frühling weiter fortgeschritten als in Jerusalem, und wir sahen schon Landleute den Weizen mit Sicheln schneiden. Nathan führte uns nicht in die Stadt, sondern auf Viehsteigen längs der Umfassungsmauern, und zu Mittag rasteten wir im Schatten dieser Mauern neben einer Quelle und ließen die Esel grasen. Nathan entfernte sich ein Stückchen, um zu beten, und hielt, als er zurückkam, noch die Arme gegen Jerusalem hin erhoben. Dadurch erinnerte sich auch Maria an ihre Gebetspflicht, und Susanna murmelte ebenfalls fromme Worte. Das schied diese Menschen von mir. Ich pflege ja nur dann zu beten, wenn das Herkommen es fordert, bei Opfern und an den Götterfesten des Ortes, wo ich mich gerade aufhalte – eine Form des Betens, die meinem Empfinden nach nichts fruchten kann. Ich passe mich einfach den Sitten und Gebräuchen der verschiedenen Länder an, um nicht aufzufallen. Jetzt erfüllte mich eine Art Neid, und am liebsten hätte ich meine Gefährten ersucht, mich ihre Gebete zu lehren. Doch sie waren Juden und betrachteten ihr Volk als von Gott auserwählt; so befürchtete ich, Nathan und Susanna würden mir meine Bitte abschlagen. Marias Beten aber schien mir nicht viel mehr als kindliche Gewohnheit und konnte mir wohl keinen Nutzen bringen.
Während unserer Rast aßen wir Brot, Zwiebeln und Käse. Maria und ich tranken sauren Wein, Nathan und Susanna aber nur Wasser. Als ich Nathan Wein anbot, zeigte er wortlos auf sein kurzgeschnittenes Haar, und ich begriff, daß irgendein Gelübde ihn band. Doch er sah mich so treuherzig an, daß ich ihn fragte: »Hast du auch ein Schweigegelübde abgelegt?«