Er entgegnete: »Wo viele Worte sind, da geht's nicht ohne Sünde ab.« Aber er lächelte dabei gutmütig.
Nun jedoch hatte er keine Geduld mehr, länger zu rasten, sondern drängte zum Aufbruch. Wir kehrten zur Landstraße zurück und sahen, über die Ebene hinweg, in der Ferne den hochgehenden Jordan fließen. Unsere Wanderung in der Hitze trieb uns derart den Schweiß aus den Poren, daß jeder von uns an seiner eigenen Mühe genug hatte. Dazu wurden Mensch und Tier von stechenden Fliegen überfallen; diese Schwärme kamen meiner Meinung nach von den Ochsen, die aus den Feldern Weizengarben zu den Dreschtennen schleppten.
Als der Abend kam, hatten wir einen langen Tagesmarsch hinter uns und waren alle müde, durstig und steif. Wir nächtigten in einem Dorf, das einen quellgespeisten Brunnen hatte, so daß wir uns gründlich waschen konnten. Ich hatte schon festgestellt, daß Nathan die Herbergen der größeren Ortschaften, wo wir bequemer untergebracht gewesen wären und fertiggekochtes Essen bekommen hätten, zu meiden schien. Als er mich aber prüfend anblickte, zeigte ich keinerlei Unzufriedenheit. Nach den entnervenden Tagen in Jerusalem tat ja dieses einfache Leben meinem Körper nur wohl.
Maria war des Nichtstuens müde, schürzte ihren Mantel und half Susanna beim Feuermachen und Kochen. Ich hörte die beiden nach Frauenart eifrig miteinander schwatzen, während vor meinen Augen die Sterne allmählich aufleuchteten.
Als wir gegessen hatten, schob Maria ihre Schlafmatte ganz nahe an die meine heran und flüsterte mir ins Ohr: »Diese Susanna ist völlig ungebildet, und man könnte sie fast für schwachsinnig halten. Aber ich vermute, daß sie zu den Stillen im Lande gehört und auch etwas von dem gekreuzigten Jesus weiß. Allerdings hat sie Angst vor uns und wird kaum aus sich herausgehen.«
Rasch setzte ich mich auf. Nathan hatte schon seinen Kopf verhüllt und sich vor der Schwelle schlafen gelegt; Susanna aber kniete noch und murmelte ihr Gebet. Ich konnte mich nicht enthalten, sie mit leiser Stimme beim Namen zu rufen und zu bitten: »Sag mir, wie du betest, damit ich auch richtig zu beten lerne!«
Susanna hob abwehrend die Hände und beteuerte: »Ich bin eine unwissende Frau. Ich kenne das Gesetz nicht. Ich verstehe nicht so zu beten, wie es sich gehört. Du würdest mich nur auslachen, wenn ich es dich lehren wollte.«
Ich versicherte ihr: »Lachen werde ich bestimmt nicht. Ich möchte still und demütig im Herzen werden.«
Auch Maria meinte: »Dein Gebet ist neu. Ich habe noch nie jemanden so beten hören.«
Verschreckt, aber eingedenk ihrer Dankespflicht mir gegenüber lehrte Susanna uns das Gebet. Zuerst erklärte sie: »Ich habe es erlernt, weil es leicht zu merken ist und – so sagte man mir – alle anderen Gebete ersetzt, da diesen Worten nichts hinzuzufügen ist.« Dann fuhr sie fort: »Ich bete so: ›Vater unser, der du bist in dem Himmel, geheiligt werde dein Name. Es komme dein Reich. Dein Wille geschehe, wie im Himmel, also auch auf Erden. Unser tägliches Brot gib uns heute. Und vergib uns unsere Schulden, wie auch wir vergeben haben unseren Schuldigern. Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen.‹«
Ich bat sie, das Gebet zu wiederholen, und fand es wirklich einfach und leicht zu behalten. Ich sprach es laut nach, jeden Satz überlegend, und erkannte, daß diesem Gebet tatsächlich nichts beizufügen war, weil darin alles ausgedrückt ist, was einem schlichten Menschen vonnöten sein kann. Es war nicht das ausgeklügelte Gebet eines Gelehrten; aber es gab mir so viel zu denken, daß ich Susanna nicht mit weiteren Fragen plagte.
Die nächste Nacht mußten wir in der Nähe eines zum Teil überfluteten Dickichts verbringen. Irgendwo weit im Norden, in den Bergen, wo der Jordan entspringt, schmolz der Schnee. So war der Strom, obwohl seine Zuflüsse fast ausgetrocknet lagen, über die Ufer getreten, und die Überschwemmung hatte die wilden Tiere aus ihren Lagern vertrieben. Als die Sterne erschienen, hörte ich im Bergland die Schakale aufgeregt bellen, und etwas später ertönte der Widerhall eines Brüllens, wie ferner Donner. Diesen Klang kannte ich; allerdings hatte ich ihn nie in der freien Natur vernommen, sondern nur in Rom, nachts, im Rund eines Amphitheaters. Die Esel begannen zu zittern, und wir mußten sie in den gleichen Raum führen, wo wir auf einer Art Estrade schliefen. Maria hatte noch nie Löwengebrüll gehört, und sie schmiegte sich enger an mich und bat mich mit bebender Stimme, die Arme um sie zu schlingen, obwohl die Nacht ohnedies schon erstickend heiß war.
Nathan beruhigte die Esel, verrammelte die Tür und lehnte sich mit dem Rücken gegen sie, gespannt horchend. Auch Susanna konnte nicht schlafen; so benützte ich die Gelegenheit dazu, sie zu fragen: »Von wem hast du das Gebet gelernt, das du mir gestern vorgesprochen hast?«
In der Ferne brüllte der Löwe wieder, und die dünnen Lehmmauern unseres Raumes schienen zu wanken. Susanna legte entsetzt die Hand auf die Lippen und murmelte: »Solche Dinge darfst du mich nicht fragen.«
Aber jetzt tat Nathan den Mund auf und sagte zu meinem Erstaunen: »Sprich nur! Vor ihm brauchst du keine Angst zu haben.«
Susanna blickte in dem flackernden Licht der Tonlampe unstet um sich, als wollte sie Reißaus nehmen, begann jedoch dann:
»Jesus von Nazareth, jener Mann, der in Jerusalem gekreuzigt wurde, hat das Gebet seine Jünger gelehrt und auch uns Frauen, die wir mit ihm durch Galiläa zogen. Er versicherte, das genüge für uns, andere Gebete brauchten wir nicht.«
Ich rief überrascht: »Du wirst mich doch nicht anlügen wollen! Bist du wirklich mit ihm durch Galiläa gezogen?«
Susanna erwiderte: »Ich bin sehr wenig mit Klugheit gesegnet und könnte gar nicht lügen, auch wenn ich wollte. Aber fünf Sperlinge kauft man um zwei Groschen, und doch ist keiner von ihnen vor Gottes Augen vergessen. Mein ganzes Leben lang war ich gierig nach Geld und Gut und habe mir nicht einmal genügend Nahrung gegönnt. Als alle anderen den neuen Propheten aufsuchten, tat ich es auch, weil ich dachte, ich würde bei ihm vielleicht etwas umsonst bekommen. Im Tempel gibt es nichts ohne Bezahlung. Ich hörte mir seine Lehren an, verstand sie aber nicht. Dann jedoch sprach er einmal zum Volk und blickte mich fest an, während er sagte: ›Hütet euch vor Habsucht! Das Leben des Menschen ist durch seine Güter nicht gesichert.‹ Das war unten am Seeufer. Ich hatte die Empfindung, daß er wußte, wer ich war, und von meinem Geiz gehört hatte. Dann erzählte er von einem Reichen, der sehr ergiebige Felder besaß und seine Scheuern niederriß, um neue und größere zu bauen; denn jetzt, da er so viel erwirtschaftet hatte, gedachte er, sich für viele Jahre zur Ruhe zu setzen. Aber Gott sprach zu ihm: ›Du Tor, noch heute nacht wird dir deine Seele abgefordert werden. Wem wird dann gehören, was du aufgehäuft hast?‹ Und Jesus schloß seine Rede mit den Worten: ›So ergeht es dem Menschen, der Schätze für sich sammelt, nicht aber für das Reich.‹«
Sie holte tief Atem und fuhr fort: »Ich ärgerte mich über ihn und kehrte nach Hause zurück. Aber ich konnte seine Worte nicht vergessen, und schließlich begannen sie, in mir zu bohren wie der Schmerz in einem eitrigen Zahn. Ich ging wieder zu Jesus und hörte seine Lehre. Da sprach er über die Raben, die Gott ernährt, und von den Lilien des Feldes, die weder spinnen noch weben und doch prächtiger gekleidet sind als ein König. Er verbot seinen Jüngern, sich um Speise und Trank zu sorgen, und trug ihnen auf, nur das Reich zu suchen, weil ihnen dann alles andere dazugegeben würde. Und nun tat er mir leid. Zwar soll er einmal eine große Menge Volkes mit nur wenigen Brotlaiben und Fischen gesättigt haben; doch so etwas kann man nicht jeden Tag tun. Mein Vermögen an faule, nichtsnutzige Arme zu verteilen, hatte ich keine Lust gehabt; jetzt aber verkaufte ich die Stoffe, die ich gewoben hatte, überließ meine Felder der Obsorge eines Verwalters und wanderte mit Jesus umher, um ihn und seine Jünger so lange zu unterstützen, wie mein Geld reichte. Mir kam nämlich vor, der Wundertäter würde selber bald Hungers sterben, wenn man ihn nicht verpflegte. Ein paar andere Frauen taten das gleiche wie ich, aus Mitleid. Er war ja im täglichen Leben so unbeholfen.«