Ich blickte in Susannas ledriges Greisengesicht, verglich ihren verschrumpelten Mund mit Marias schwellenden Lippen und kam darauf, daß Maria mich schlau in eine Falle gelockt hatte. Ich lief zu Susanna, faßte sie am Ellbogen, zog sie hoch und sagte: »Falls ich dich irgendwie gekränkt habe, so küsse mich zum Zeichen der Vergebung!«
Mitleidig meinte Susanna: »Ach, du armer Mann! So läßt du diese Schelmin mit dir ihr Spiel treiben! Aber Maria ist im Herzen kein schlechter Kerl.«
Sie wischte sich verlegen mit dem Handrücken den Mund und küßte mich mit einem belustigten Blick auf die junge Reisegefährtin. Maria sah erst verblüfft zu; dann stieß sie Susanna weg und rief: »Wie kannst du, ein Kind Israels, einen unbeschnittenen Römer küssen? Ich darf das, weil ich ohnedies schon eine Sünderin bin; aber du hast dich verunreinigt.«
Susanna verteidigte sich: »Mit meiner Kenntnis des Gesetzes ist es nicht sehr weit her, aber ich habe doch schon mit dem Manne aus der gleichen Schüssel gegessen. Ich weiß, daß er, trotz seiner römischen Abstammung, im Gemüt ein Kind des gleichen Vaters ist wie ich.«
Ihre Worte rührten mich, und ich fand Susanna nicht mehr so abstoßend wie bisher, obwohl sie mächtig nach Knoblauch roch, den sie während des Reitens ständig zur Erfrischung zu kauen pflegte. Ich sagte: »Susanna, nachdem Jesus dich seine Kleider waschen ließ, ist mir durch deinen Kuß große Gnade widerfahren.«
Als wir aber gegessen hatten, zog ich Maria in einen dunklen Winkel und fragte sie geradeheraus: »Mir scheint, du willst mich zur Sünde mit dir verleiten, wie? Anders kann ich mir dein Gehabe nicht erklären. Dabei habe ich dich doch mitgenommen, um dich aus der Sünde zu retten.«
Maria flüsterte mir ins Ohr: »Du warst freundlicher zu mir als andere Männer. Ich verstehe mich selber nicht; aber deine Gleichgültigkeit tut mir weh. Dann wüßte ich wenigstens, daß ich dir etwas bedeute.«
»Körper ist Körper«, erwiderte ich barsch. »Du würdest mich nicht lange locken müssen, um mich herumzukriegen. Ich bin durch kein Gelübde gebunden und durch keinen Treueschwur. Aber in diesem Falle könnten wir ebensogut gleich nach Jerusalem zurückkehren.«
Maria seufzte. »Das Leben ist merkwürdig, und ich habe große Angst vor Jesus von Nazareth. Doch ich bin überzeugt, daß er allein mich wieder rein und schuldlos machen kann; und man hat mir versichert, er gehe auch mit den ärgsten Sündern nicht strenge ins Gericht, sobald sie nur ihre Verfehlungen bereuen und an ihn glauben. Aber wenn ich mit dir sündigen sollte, würde ich mir daraus kaum ein Gewissen machen. Im Gegenteil, ich habe die Empfindung, daß es mir nur gut täte, wenn du deine Arme schützend um mich breiten würdest. Da zeigt sich, welch eine verstockte Sünderin ich schon bin. Ein unschuldiges Mädchen würde bestimmt nicht so denken. Aber kein Mensch kann Fehltritte ganz vermeiden. Als Maria Magdalena mich über meine Sünden hinwegtrösten wollte, erzählte sie mir von einem Ausspruch Jesu, wonach jeder Mann, der eine Frau auch nur begehrlich anblickt, in seinem Herzen schon Buhlerei mit ihr begangen hat. In dieser Hinsicht stellte der Nazarener ganz unmögliche Forderungen, die niemand erfüllen kann.«
»Maria von Beeroth«, beschwor ich sie, »muten wir auf dieser anstrengenden Reise unseren Körpern nicht schon genug zu? Müssen wir uns noch mit sündigen Gedanken plagen? Heute nacht darfst du keinen Löwen zum Vorwand nehmen, um dich enge an mich zu schmiegen. Das würde uns nur beide entflammen.«
Maria seufzte noch tiefer auf. Dann sagte sie: »Ich werde dich nicht mehr behelligen oder in Versuchung bringen, wenn du mir bloß zugestehst, daß du gerne mit mir sündigen würdest, wenn du nur den Mut dazu hättest.«
Ich erwiderte in rauhem Ton: »Meinetwegen! Im Geiste habe ich ohnedies schon gesündigt. Laß es dir daran genügen!«
Sie preßte meine Hände an ihre heißen Wangen und flüsterte: »Wie würde ich wünschen, unberührt und schuldlos zu sein!« Aber sie versuchte nicht länger, mir den Kopf zu verdrehen und schmiegte sich beim Schlafen nicht mehr an meine Seite.
Ich dachte bei mir selber, sie habe offenbar keine rechte Vorstellung von dem Reich, zu dem sie den Weg suchte; aber man könne schließlich von ihr keine besonderen Einsichten verlangen. Dann fragte ich mich, was wohl Nathan von Jesus wünsche, da er sich ihm zuliebe den Kopf geschoren hatte. Richtete sich vielleicht auch sein Verlangen auf Dinge, die, mit den Maßen des Reiches gemessen, ebenso kindisch waren wie dasjenige, was Maria sich erhoffte?
Am nächsten Tag verließen wir die gewundene Furche des Jordantales. Sobald wir von der Karawanenstraße weg auf die Berghänge gelangt waren, sahen wir vor uns den See Genezareth hingebreitet. Ein frischer Wind blies uns ins Gesicht, die Wellen hatten weiße Schaumkronen, und jenseits des Sees konnten wir in der Ferne eben noch eine Kette verschneiter Gipfel sich gegen den Himmel abheben sehen. Wir folgten dem Westufer des Sees und erreichten gegen Abend die heißen Quellen von Tiberias. Etwas weiter erblickten wir die Säulenhallen der Residenzstadt des Herodes Antipas. Heilsamer Schwefelgeruch schlug uns entgegen, da die Quellwasser in viele Becken und Teiche geleitet waren, um die herum der Tetrarch eine Badeanstalt hatte erbauen lassen. Am Seeufer lagen Villen in griechischem Stil und einige Fischerhütten. In die Badebauten einbezogen waren Gasthöfe, teils für Griechen, teils für Juden.
Ich hatte die Reisestrapazen satt und mietete mich deshalb mit Maria in einem bequemen griechischen Gasthof ein. Nathan und Susanna aber begaben sich mit den Eseln zu einer jüdischen Herberge. Ich hielt es für klüger, mich hier in Galiläa, da Jesu Jünger mir mißtrauten, nicht in Gesellschaft Nathans und Susannas zu zeigen; es erschien mir auch am günstigsten, wenn Susanna unabhängig von mir den Stand der Dinge erkundete. Ich baute darauf, daß sie mir alle ihre Beobachtungen weitergeben würde, nachdem ich ihr den großen Gefallen erwiesen hatte, sie nach Galiläa mitzunehmen. Nathan kannte ich jetzt so gut, daß ich ihm beruhigt meine Reisekasse und die Betreuung der Esel überlassen konnte; das erschien mir gleichzeitig als die beste Art, ihn an mich zu binden. Die beiden gedachten, bei Tagesanbruch nach Kapernaum am Nordufer des Sees weiterzuwandern, wo Jesus von Nazareth gewirkt hatte – keine ganze Tagesreise mehr von Tiberias, der Griechenstadt, die Jesus, soweit Susanna wußte, nie betrat.
Tags darauf erwachte ich beim Morgengrauen und stieg, ein wenig hinkend, auf das Dach. Nach dem glühend heißen Jordantal war es erquickend, die Luft Galiläas zu atmen. Der See lag wie ein Spiegel da, vom Feuerschein des Sonnenaufgangs gestreift, und ich roch den starken Duft der Myrtensträucher. Ich meinte, alles um mich her klarer und schärfer zu sehen als je und alle Wohlgerüche der Erde zu verspüren. Es war mir, als schwebte ich körperlos. Mich überkam es wie ein Rausch, und ich schwelgte in dieser Entrückung, bis mich ein fiebriger Schauer überlief und ich bemerkte, daß einer meiner Füße angeschwollen war.
Am Nachmittag bekam ich starken Schüttelfrost, der Unterschenkel schwoll bis zum Knie an, und von einer wundgescheuerten, vereiterten Stelle an der Ferse lief ein roter Streifen über das Bein. Der griechische Badearzt schnitt die Beule auf und gab mir blutkühlende Arzneien. Vierzehn Tage lang lag ich krank in dem griechischen Gasthof und glaubte mein letztes Stündchen gekommen. Aber Maria von Beeroth pflegte mich, und wahrscheinlich trug auch das heiße, schwefelhaltige Wasser der Quellen zu meiner Heilung bei. Tagelang behielt ich keine Nahrung bei mir, und als ich mich zu erholen begann, fühlte ich mich sehr schwach. Der Arzt warnte mich davor, den Fuß zu überanstrengen, und so verbrachte ich die Zeit damit, meine Abreise aus Jerusalem und die ganze Wanderung hierher aufzuzeichnen. Von Nathan und Susanna kam keine Nachricht.
9
Marcus an Tullia.
Nach meiner Wiederherstellung fühlte ich mich erschöpft und niedergeschlagen. Ich konnte mich der Vorstellung nicht erwehren, meine unerwartete, lebensgefährliche Erkrankung sei eine Warnung an mich gewesen, mich nicht in Geheimnisse einzudrängen, die mich nichts angingen. Ich blieb in meinem Zimmer und vermied es, mit anderen Fremden zusammenzukommen, obwohl die berühmten Bäder von Tiberias Kurgäste aus vielen Ländern und allen Völkerstämmen zählten. Meist waren es reiche, durch Wohlstand und Verweichlichung krank gewordene Leute; aber es gab auch einige römische Offiziere, die von den Folgen langen Lagerlebens Heilung suchten.