Ich unterhielt mich mit den Ruderern, um die galiläische Mundart ins Ohr zu bekommen. Es waren wortkarge Männer, die auf meine Fragen nur kurze Antworten gaben. Als wir an Tiberias vorbeikamen, zeigte sich deutlich, daß sie diese hübsche, neue, erst vor wenigen Jahren von Herodes Antipas gegründete Griechenstadt verabscheuten. Um sie rascher hinter sich zu bringen, versuchten sie, das Segel zu setzen; aber der Wind war ungünstig und wechselnd, so daß sie schließlich doch mit den Rudern vorliebnehmen mußten.
Mir fiel ein, daß Jesus von Nazareth angeblich auf dem Wasser dieses Sees gewandelt war. Jetzt im hellen Tageslicht, mit den bräunlich und bläulich verschwimmenden Hügeln der fernen Ufer, mit der frischen Brise und dem aufsprühenden Wasser, erschien die Geschichte unglaubwürdig. Ich geriet in den Bann der schwermütigen Empfindung, einer Fata Morgana nachzujagen, einem Traum oder einer von abergläubischen Fischern erfundenen Mär. Nun, nach meiner Erkrankung, schien seit den Jerusalemer Tagen unermeßliche Zeit vergangen zu sein. Es war, als hätte Jesus nie gelebt.
Um mich selbst in die Wirklichkeit zurückzubringen, fragte ich die Ruderer: »Habt ihr einmal Jesus von Nazareth gesehen, damals, als er am Seeufer das Volk unterwies?«
Sie blickten einander an, stützten sich auf ihre Ruder und forschten mißtrauisch: »Wozu willst du das wissen, Fremdling?«
»Ich war in Jerusalem, als er gekreuzigt wurde«, erklärte ich. »Meiner Meinung nach hat er ein so schreckliches Schicksal nicht verdient.«
Die Fischer sagten: »Man kann das verstehen. Wir Galiläer – er war ja auch einer – werden in Jerusalem verachtet. Aber Schuld trug er selber, weil er sich freiwillig den habgierigen Priestern und scheinheiligen Pharisäern in die Hände gab.«
»Habt ihr ihn gesehen?« fragte ich nochmals.
Sie zögerten und schauten einander wieder an. Dann siegte ihr Stammesstolz, und sie bestätigten: »Natürlich, und zwar oft. Einmal waren wir in einer Volksmenge von fünftausend Leuten und haben ihm zugehört. Er hat uns alle mit fünf Gerstenbroten und zwei Fischen gespeist, und wir wurden satt. Ja, es sind noch zwölf Körbe mit Brotstücken übriggeblieben. Ein solcher Mann war das.«
»Wovon sprach er? Könnt ihr euch an seine Lehren erinnern?« erkundigte ich mich eifrig.
Doch sie wichen ängstlich aus: »Uns einfachen Leuten schlägt es nicht gut an, seine Worte weiterzugeben. Wir würden nur den Zorn der Obrigkeit auf uns lenken.«
Ich ermunterte sie: »Sagt mir wenigstens irgend etwas, was euch besonders im Gedächtnis geblieben ist! Ich bin nur ein reisender Fremder und ein Kurgast; ich werde nichts ausplaudern.«
Sie betonten vorerst: »Laß dir also gesagt sein, daß die Worte von ihm stammen und nicht von uns!« Dann hoben sie wie aus einem Munde an: »Selig sind die Armen; denn ihrer ist das Reich. Selig sind die Stillen; denn sie werden das Land zum Besitz erhalten. Selig sind, die verfolgt und geschmäht werden. Selig seid ihr; denn euer Lohn ist groß im Himmel! Niemand kann zwei Herren dienen. Sorget euch nicht! Leichter geht ein Kamel durch ein Nadelöhr als ein Mammonsknecht in das Reich.«
Ich hatte den Eindruck, daß sie Jesu Aussprüche oft in ihrem Kreise beredet und von seinen Lehren das für sich übernommen hatten, was ihnen am besten gefiel. Mehr hatten sie sich nicht gemerkt oder wollten sie nicht preisgeben. Jedenfalls lag in ihren Augen unverkennbare Schadenfreude, als sie meine guten Kleider und mein Sitzkissen ansahen.
»Was wißt ihr über ihn selber?« forschte ich weiter.
Sie erwiderten: »Er war ein ausgezeichneter Fischer. Er konnte einen Schwarm Fische ausfindig machen; nachdem andere vielleicht die ganze Nacht über vergebens die Netze ausgeworfen hatten. Einmal sind seine Leute mit vollbeladenen Booten eingefahren, während andere mit leeren Händen vom Fang zurückkamen. Er konnte Stürme besänftigen und große Wellen im Nu glätten. Auch Kranke soll er geheilt haben; aber darum haben wir uns nicht gekümmert, weil wir nie krank waren. Am meisten gewundert an ihm hat uns, daß ein Mensch aus dem Binnenland, aus Nazareth, sich mit Wasser und Wind und den Fischzügen so gut auskannte.«
Mehr konnte ich aus ihnen trotz wiederholter Fragen nicht herausbekommen. Sie wurden nur wieder argwöhnisch. Schließlich bemerkte ich: »In Jerusalem hieß es, er sei aus dem Grabe gestiegen und nach Galiläa zurückgekehrt. Habt ihr davon gehört?«
Sie legten sich stärker in die Ruder und antworteten erst nach einer Weile. »Altweibergeschwätz! Kein Toter verläßt sein Grab. Er war ein Mensch, genau wie wir, obwohl er lehrte und Wunder wirkte. Du wählst zwar deine Worte sehr geschickt; aber wir gehen dir nicht ins Garn.« Danach sagten sie nichts mehr außer: »Das ist Klatsch aus der Gegend von Kapernaum. Wir sind Fischer in Tiberias.«
Magdala ist ein großes Fischerdorf mit vielen Einwohnern. Schon von weitem drang zu uns über das Wasser der Geruch der Pökeleien. Nachdem die Ruderer über Bord gesprungen und das Boot an Land gezogen hatten, zahlte ich sie aus und schickte sie nach Tiberias zurück. Erst als ich, auf Maria und meinen Stock gestützt, durch das Dorf gehumpelt war, ließ ich meine Begleiterin nach Maria Magdalena fragen. Sie war wohlbekannt. Man zeigte uns gleich außerhalb des Ortes, gegen die Taubenklüfte zu, die ausgedehnte Gebäudegruppe.
Ein Gemüsebauer, der von einem Dorfbesuch heimkehrte, ließ mich, sobald er mein Hinken sah, bereitwillig auf seinem Esel aufsitzen. Als er von Maria Magdalena sprach, lächelte er merkwürdig, sagte aber anerkennend: »Sie ist eine kluge und sehr reiche Frau. Sie beschäftigt viele Taubenfänger, und in ihren großen Schlägen züchtet sie auch selbst Tauben für den Tempel. Außerdem hat sie einen Kräutergarten und Anteile an Fischpökeleien. Sie ist viel auf Reisen, soll aber dieser Tage heimgekommen sein.«
Dann warf er mir einen Seitenblick zu und meinte mit gutmütigem Grinsen: »So jung wie früher ist sie natürlich nicht mehr. Angeblich hat sie ein anderes Leben angefangen und gibt den Armen Almosen. Aber du mußt selber am besten wissen, was du von ihr willst.«
Ich hatte diese Reise ohne irgendwelche Erwartungen unternommen. Als ich jedoch, zwischen zwei leeren Gemüsekörben auf dem Rücken eines Esels hockend, mich dem Hause Maria Magdalenas näherte, freute ich mich unversehens darauf, ihr weißes Gesicht wiederzusehen. Sie stand mir so in Erinnerung, wie ich sie im Obergemach des Lazarushauses gesehen hatte, und mir kam vor, ich hätte mich nie zuvor derart nach dem Anblick einer Frau gesehnt. Der Gemüsebauer bemerkte meine Miene und sagte: »Mir scheint, du bist wie alle anderen. Je näher du ihrem Hause kommst, desto eiliger hast du es. Ich mag dort nicht vorbeigehen. Sei also nicht böse, wenn ich dich hier an der Weggabelung absetze.«
Ohne Maria und mich weiter zu beachten, trieb er seinen Esel an, als wollte er so rasch wie möglich aus dem Umkreis des Hauses gelangen. Auch meine Begleiterin seufzte und unkte: »Bei dieser Sache wird nichts Gutes herauskommen. Wir sollten umkehren. Mir tun schon die Augen von der Sonne weh, sosehr ich mir den Kopf bedecke. Ich bin ganz verschwitzt und kann kaum atmen.«
Aber ich humpelte unbeirrt durch das Tor und sah mitten in dem großen Hof eine schwarzgekleidete Frau Tauben füttern. Eine ganze Wolke von Vögeln umflatterte sie; einige saßen ihr auf den Schultern, andere wippten auf ihren Händen. Als sie uns erblickte, streute sie das Körnerfutter auf den Boden, rieb die Hände aneinander und kam uns, ihr Gesicht entblößend, entgegen. Überrascht, aber erfreut begrüßte sie Maria und mich und rief: »Ich habe gespürt, daß jemand kommt. Aber ich hatte keine Ahnung, daß du es sein könntest, Marcus aus Rom, und du, Maria von Beeroth.«
»Friede sei mit dir, Maria Magdalena!« grüßte ich und blickte in ihr gefurchtes, weißes Gesicht und in ihre leuchtenden Augen, die so von Freude erfüllt waren, daß ich mich am liebsten zu Boden geworfen und die Knie dieser Frau umschlungen hätte.