Sie verjagte mit beiden Händen die Tauben, die noch um ihren Kopf flatterten, und führte uns durch den Hof in einen Garten, zu einem Sommerhaus, das sie sich dort hatte erbauen lassen. Zuerst holte sie selbst Wasser und kniete, ohne meinen Einspruch zu beachten, vor mich hin, um mir die Füße zu waschen. Die Berührung ihrer Hände tat meinem wunden Fuße wohl und linderte den Schmerz. Auch meiner Begleiterin, die sie, hinter der vorgehaltenen Hand kichernd, wegzuschieben versuchte, erwies sie den gleichen Liebesdienst. Dann gab sie uns frisches Quellwasser zu trinken und schickte das Mädchen mit den Worten weg: »Geh dir die Taubenschläge und mein Haus anschauen und störe uns nicht länger, närrisches Ding!«
Meine Begleiterin entfernte sich fast laufend, als wäre sie froh wegzukommen. Maria Magdalena blickte ihr kopfschüttelnd nach und wandte sich dann zu mir mit der Frage: »Was hast du aus ihr gemacht? Hast du ihr diese buntscheckigen Kleider geschenkt? Sie war doch in Jerusalem sehr demütig und bußfertig; jetzt aber scheint ihr ein Dämon aus den Augen zu lugen.«
Ich verteidigte mich: »Meiner Meinung nach habe ich ihr nichts Schlechtes zugefügt. Ich habe sie nicht berührt, wenn du das meinst. Sie hat mich in Tiberias, als ich mit meinem wunden Fuße krank lag, treu gepflegt.«
Maria Magdalena erwiderte: »Wenn ein Mann etwas für eine Frau tut, kann er ihr – mit den erdenklich besten Absichten – oft Ärgeres zufügen, als er ahnt. Du eignest dich nicht zum Hüter eines solchen Wesens, Marcus. Du solltest dich von deiner Begleiterin trennen.«
»Sie sucht Jesus von Nazareth, ebenso wie ich selbst«, entgegnete ich und erleichterte nun mein Herz, indem ich erzählte, wie wir aus Jerusalem abgereist waren, wie Susanna und Nathan mich im Stich gelassen hatten und wie ich in Tiberias, bei Claudia Procula, Johanna kennenlernte. Maria Magdalena nickte zu meinem Bericht, und ein hartes Lächeln überflog ihr weißes Gesicht.
»Ich kenne die habgierige Susanna und die hochmütige Johanna«, sagte sie unwirsch. »Ich muß für ihre Fehler blind gewesen sein während der Zeit, als wir in schwesterlicher Gemeinsamkeit wanderten; in Wirklichkeit habe ich damals nur Jesus gesehen. Du hast genügend Erfahrungen mit seinen Jüngern gemacht, um zu wissen, welche Art Menschen sie sind und wie sie mit dem Geheimnis des Reiches knausern. Wahrscheinlich wunderst du dich inzwischen auch, ebenso wie ich, darüber, daß er aus solchen Bausteinen sein Reich aufrichten wollte. Ich habe von der Halsstarrigkeit dieser Männer ebenso genug bekommen wie von den gegenseitigen Eifersüchteleien der Frauen und bin heimgekehrt, um zu warten. Ich weiß, daß Jesus vor uns herging nach Galiläa; aber es würde mich nicht überraschen, wenn er niemanden aus unserem Kreise wiedersehen wollte. Vielleicht ist er ebenso enttäuscht von uns, wie wir es im Herzen voneinander sind. Ich habe die Fischer ihrem Handwerk überlassen, und auch Jesu Mutter ist nach Nazareth zurückgekehrt.«
Sie preßte die Hände aneinander, zuckte wie vor Schmerz mit den Schultern und klagte: »Warum bin ich nur ein Mensch und noch dazu eine Frau? Und warum werde ich jetzt, da Jesus nicht mehr bei uns ist, so verstockt in meiner Hartherzigkeit? Sein Reich gleitet von mir ab. Wehe über mich, die ich so kleingläubig bin, daß ich nicht einmal mehr auf ihn vertraue!«
Sie blickte entsetzt umher, als hätte sie lauernde Gestalten bemerkt, und rief: »Er ist das Licht der Welt. Wenn er ferne weilt, senkt sich, auch bei hellstem Sonnenschein, Finsternis über mich. Ich fürchte, die bösen Geister könnten wieder in mich fahren. Aber dann würde ich nicht länger leben wollen. Besser einen Strick um den Hals! Ich habe schon genug durchgemacht.«
Ihre Qual drückte mir bleischwer auf die Brust. Doch ich versuchte, sie zu trösten, und erzählte ihr von Johannas Bericht, Jesus sei seinen Jüngern erschienen, als sie eines Morgens fischten.
»Davon habe ich auch gehört«, bestätigte Maria. »Aber diese Krämerseelen haben sich wohl hauptsächlich darüber gefreut, daß sie mehr als hundertfünfzig große Fische gefangen hatten. Das Netz war so voll, daß sie es, um es nicht zu zerreißen, an Land ziehen mußten. Warum haben sie nicht den anderen zum Trost davon erzählt, wenn sie tatsächlich unseren Meister gesehen haben sollten?«
Es war, als hegte sie im Herzen Groll gegen die Jünger und als neidete sie es ihnen, daß Jesus sich zuerst ihnen und nicht ihr in Galiläa gezeigt haben könnte. In gewisser Beziehung fand ich das begreiflich; denn sie war es ja gewesen, die nach Jesu Kreuzigung im Morgengrauen als erste zu seinem Grab geeilt und der er nach seiner Auferstehung zuerst erschienen war.
»Maria Magdalena«, beschwichtigte ich sie, »verzage nicht! Wenn er sich nach Galiläa begeben hat, so ist sein Reich ganz nahe. Vielleicht habe ich an ihm keinen Teil, und vielleicht wird er mich ebenso zurückweisen, wie seine Jünger es taten. Aber sei überzeugt, falls er in Galiläa ist, wirst du ihn bestimmt noch zu sehen bekommen.«
Sie warf mir einen stolzen Blick ihrer dunklen Augen zu und sagte: »Du, der Römer, tröstest mich, wo die Seinen mir jeden Trost versagten?«
Aber ihr Antlitz begann zu leuchten, wie von Sonnenlicht überflutet, obwohl wir im Schatten ihres Sommerhauses saßen. Sie berührte meine Hand, und wieder war ihre Berührung voll Kraft, als sie fragte: »Glaubst du das wirklich? Ich glaube es ja natürlich auch. Nur ist mein Herz in Aufruhr, weil ich die von ihm erwählten Jünger nicht nach Gebühr zu ehren vermag. Es ist sündhaft von mir unwürdigem Weibe, mich seinem Willen nicht zu fügen. Lehre du mich, was Demut ist, Römer! Ich verdiene die Zurechtweisung.«
»Sag mir lieber, ob du meinst, daß er mich, den Römer, in sein Reich aufnehmen wird!« bat ich niedergeschlagen.
Maria Magdalena erwiderte in dem gleichen geringschätzigen Ton wie Johanna: »Die Jünger erhoffen sich noch immer, er würde in Israel ein neues Reich errichten. Für mich ist er das Licht der Welt. Warum sollte seine Verheißung nicht dich ebenso angehen wie die Kinder Israels, wenn du ihn für den Christus hältst? Sein Reich ist das ewige Leben und kein irdisches Herrschertum.«
Über ihre Worte erbebte mein Herz in Furcht. »Was ist ewiges Leben?« fragte ich.
Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht«, bekannte sie. »Das wird wohl nur er allein wissen. Solche Dinge hat er auf seinen Wanderungen nicht gelehrt; er hat die Leute unterwiesen, wie sie leben sollten, um seines Reiches wert zu sein. Ich bin nicht demütig oder kindlich genug im Herzen, um zu begreifen, was ewiges Leben ist. Ich weiß nur, daß es in und mit Jesus ist. Und mehr braucht man nicht zu wissen.«
Ich erwog ihre Worte. »Wie soll ich also leben?« fragte ich. »Genügt nicht das Bemühen, still und demütig im Herzen zu werden?«
»Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!« sagte Maria Magdalena wie entrückt. »Alles, wovon du möchtest, daß es dir die Menschen tun, das tue auch ihnen!« Plötzlich schlug sie die Hände vor das Gesicht und begann zu schluchzen. »Wie darf ich dich unterweisen, wenn ich selbst seiner Lehre untreu geworden bin? Als wir mit ihm zogen, waren wir alle wie Geschwister. Kaum war er weg von uns, so begann ich diese Geschwister im Herzen zu hassen und zu beneiden. Vielleicht hat er mir dich gesandt, damit ich meiner Bosheit entsage und demütig werde.«
Plötzlich berührte sie meinen wunden Fuß, hielt die Hand auf die halbverheilte Schwäre und betete laut: »Jesus Christus, Sohn Gottes, habe Erbarmen mit mir Sünderin! Wenn es dein Wille ist, so laß diesen Fuß wieder gesund werden, als hätte er nie geschmerzt!«
Sie zog die Hand zurück, blickte auf, richtete in atemloser Erwartung die Augen auf mich und sagte: »Wenn er das tun will, so ist es ein Zeichen. Steh auf, wirf deinen Stock weg und geh!«
Ich tat, wie mir geheißen war, und machte einige Schritte. Ich hinkte nicht und spürte keinen Schmerz mehr im Fuß. Zuerst staunte ich sehr; dann ging ich zurück, setzte mich wieder und sprach: »Nimm dies als das von dir erbetene Zeichen, wenn du willst! Ich selber brauche kein Zeichen von ihm, weil ich auch so glaube. Offen gestanden, mein Fuß war schon gesund, und über die wunde Stelle ist frische Haut gewachsen. Wahrscheinlich bin ich bloß aus Gewohnheit noch hinkend gegangen, weil der griechische Arzt, der mir die Beule aufschnitt, mich so eindringlich vor einer Überanstrengung des Fußes gewarnt hat.«