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Ich träumte; als ich erwachte und mich aufsetzte, standen meine Augen voll Tränen. Die beiden Fischer schliefen fest neben mir und schnarchten leise. Die Tränen rannen mir heiß und brennend über die Wangen, und nach meinem Traum erfüllte mich unsagbare Verzweiflung. Das Feuer war ausgegangen. An den Sternen und dem Mond las ich ab, daß es schon die dritte Nachtwache war. Vor mir glänzte der See, eben und glatt wie ein Spiegel. Aber wir waren unser nur drei; der vierte Mann war verschwunden. Darüber erschrak ich sehr. Ich warf die Kleider um und sprang auf; dann bemerkte ich zu meiner Erleichterung, daß er nur zum Ufer gegangen war und über den See hinausblickte. Ich hüllte den Mantel um mich, ging rasch zu dem Unbekannten und stellte mich neben ihn.

»Wonach schaust du aus?« fragte ich.

Er drehte sich nicht um, aber antwortete: »Ich sehe den Himmel offen und habe die Herrlichkeit meines Vaters erblickt und mich nach dem Vaterhause gesehnt.«

Jetzt kam mir zu Bewußtsein, daß ich ihn auf griechisch angesprochen und er ebenso geantwortet hatte. Daraus und aus seinen Worten schloß ich, er könnte einer der Jünger von Johannes dem Täufer sein; vielleicht war er vor den Verfolgungen des Herodes auf diese Seite des Sees geflohen und lebte jetzt hier in der Einsamkeit vom Fischfang.

Ich sagte: »Auch ich suche das Reich. Tränen der Sehnsucht danach haben mich aus dem Schlaf geweckt. Zeige mir den Weg!«

Er antwortete:

»Es gibt nur einen einzigen Weg: Was du dem Geringsten der Menschen tust, tust du mir.«

Dann fuhr er fort: »Ich gebe nicht so, wie die Welt gibt. Aber sei nicht traurig oder ängstlich! Nach mir wird der Geist der Wahrheit kommen. Die Welt wird ihn zwar nicht aufnehmen, weil sie ihn nicht sehen kann und nicht erkennen wird. Aber wenn du ihn erkennst, werde ich bei dir einkehren und in dir bleiben. Ich lasse niemanden im Stich.«

Mein Herz zerfloß in mir, Tränen trübten meinen Blick, und ich hob unbeholfen die Hände, wagte aber nicht, den Mann vor mir zu berühren. »Du sprichst nicht wie ein Mensch«, flüsterte ich. »Du redest wie jemand, der Macht hat.«

Er entgegnete: »Mir ist alle Gewalt gegeben im Himmel und auf Erden.«

Jetzt erst wandte er sich zu mir. Im Licht der Sterne und des Mondes bemerkte ich, als er mich ansah, sein gütiges, ernstes Lächeln. Sein Blick entkleidete mich, als fiele eine Hülle nach der anderen von meinem Körper, bis ich nackt dastand. Doch an diesem Gefühl war kein Unbehagen; es war eine Entäußerung und Befreiung.

Nachdem der Unbekannte mich gemustert hatte, zeigte er über den See hin und sagte: »Drüben in der Stadt des Tetrarchen, im griechischen Theater, weint ein Mädchen, weil ihm der Bruder gestorben ist, und es sonst keinen Beschützer hat. Was hast du geträumt?«

»Ich sah ein weißes Pferd«, entsann ich mich.

»Sei es so!« erwiderte er. »Dieser Tage wirst du einem Wagenrennen beiwohnen. Setze einen Geldbetrag auf das weiße Gespann. Dann suche das Mädchen auf und schenke ihm deinen Gewinn!«

»Wie kann ich in einer so großen Stadt ein Mädchen finden, das den Bruder verloren hat?« fragte ich. »Und wie hoch soll mein Einsatz sein?«

Wieder lächelte er; aber nun war sein Lächeln so schmerzlich, daß mir schwer ums Herz wurde. »Ach, Marcus, du fragst so viel Unnützes«, tadelte er.

Aber ich verstand seine Warnung nicht. Erstaunt rief ich bloß: »Woher weißt du meinen Namen? Kenne ich dich? Mir kommt vor, als hätte ich dich schon irgendwo gesehen.«

Er schüttelte den Kopf und fragte: »Genügt es nicht, daß ich dich kenne?« Mir wurde klar, daß er sich nicht zu erkennen geben wollte. Das bestärkte mich in der Annahme, es handle sich bei ihm um einen der Stillen im Lande, dessen Geist durch Glaubensgrübeleien und Einsamkeit gelitten hatte. Wie hätte er sich sonst rühmen können, alle Gewalt im Himmel und auf Erden zu besitzen? Aber die Gabe der Weissagung mochte ihm vielleicht verliehen sein. Deshalb beschloß ich, mir sein Geheiß einzuprägen.

Er aber sprach: »Ach, du Menschenkind! Du siehst und siehst nicht. Du hörst und hörst nicht. Aber eines Tages, Marcus, wirst du an dies alles denken. Dann wirst du um meines Namens willen sterben, auf daß mein Name durch dich verherrlicht werde, wie meines Vaters Name durch mich verherrlicht worden ist.«

»Was für böse Dinge sagst du mir da voraus?« rief ich entsetzt, ohne den Sinn seiner Worte zu begreifen. Ich dachte, er beherrsche vielleicht das Griechische nicht recht, und ich hätte ihn mißverstanden.

Er seufzte laut; dann ließ er plötzlich seinen Mantel von den Schultern gleiten und entblößte den Oberkörper. Der Mann war offenbar so arm, daß er nicht einmal eine Unterkleidung besaß. Er wandte sich von mir ab und sagte: »Befühle meinen Rücken!«

Ich streckte die Hand aus, fuhr über den Rücken und spürte die Striemen einer Geißelung. Er seufzte wieder und führte die Hand an seine Stirn. Ich folgte mit meinen Fingern und tastete eine tiefe Narbe. Er mußte wirklich verfolgt und mißhandelt worden sein, so daß es kein Wunder war, wenn er jetzt etwas schrullig( schien. Im Geist verfluchte ich diese Juden, die sich, nur ihres Glaubens wegen, gegenseitig so quälten; denn trotz seiner unheilkündenden Worte war offenbar nichts Böses an diesem Mann. Von tiefem Mitleid erfüllt, sagte ich zu ihm: »Nenne mir wenigstens deinen Namen, von dem du vorhin gesprochen hast! Vielleicht kann ich dir Verfolgungen fernhalten.«

Er entgegnete: »Wenn du dich vor den Menschen zu mir bekennst, werde ich mich, sobald die Zeit kommt, vor meinem Vater zu dir bekennen.«

»Aber wie heißt du?« drängte ich wieder. »Und wer ist dein Vater, mit dem du merkwürdiger Mann so viel Aufhebens machst?«

Ohne Antwort zu geben, hüllte er wieder den Mantel um sich und entfernte sich dem Ufer entlang, als hätte er mir nichts mehr zu sagen. Daß er Fleisch und Blut war, davon hatte ich mich überzeugt; aber er machte einen so seltsamen Eindruck, daß ich trotzdem nicht wagte, ihm zu folgen und ihn mit weiteren Fragen zu belästigen. Nach einigem Zögern kehrte ich zu der Hütte zurück und legte mich wieder nieder. Ich schlief sofort ein und hatte keine Träume mehr.

Ich erwachte in einer Fülle von Sonnenschein und Wasserglitzern. Die Berge am Westufer schimmerten wie Gold über den unwirklich anmutenden Säulengängen von Tiberias, und alles erschien meinen Augen so frisch und lieblich, als wäre ich selbst neu geworden, in eine neue Welt erwacht. Meine beiden Ruderer waren schon auf den Beinen; sie standen mit gefalteten Händen und beteten: »Höre, Israel!«

Doch der einsame Fischer war verschwunden, und sein Netz mit ihm. Die Reste des Abendessens hatte er vor die Hütte hingestellt, offenbar für uns. Wir aßen heißhungrig, ohne etwas zu reden. Dann gingen wir wieder zur Ausmündung des Bachbettes, brachten das Boot zu Wasser und sprangen an Bord. Ich blickte mich nach dem Fischer um; aber er war nirgends zu sehen, obwohl er uns gestern gesagt hatte, er gedenke am Morgen gerade hier sein Netz auszuwerfen. Nicht einmal Fußspuren konnte ich entdecken.

Die Männer legten sich tüchtig in die Ruder. Das Boot schoß dahin wie durch eine Glasschicht, die das Spiegelbild der Berge und feurige Streifen des Sonnenaufgangs zurückwarf. Ich empfand noch immer die gleiche Unbeschwertheit und Erleichterung, als hätte ich viele Hüllen überflüssiger Kleidungsstücke abgeworfen. Je mehr ich jedoch über die Geschehnisse dieser Nacht grübelte, desto ernstere Zweifel stiegen in mir auf. War nicht alles einfach ein besonders lebhafter Traum gewesen? Wie konnte ein Einsiedler am See Genezareth des Griechischen kundig sein?

Die Männer ruderten taktmäßig und kräftig, als wollten sie so rasch wie möglich von dem fremden Gestade loskommen. Aber ich blickte mich immer wieder nach diesem Ufer um und spähte, ob ich nicht irgendwo am Strande eine einsame Gestalt sichten würde. Nichts zeigte sich. Schließlich fragte ich: »Wer war dieser Mann, mit dem wir die Nacht verbrachten? Kanntet ihr ihn?«

Die Fischer erwiderten: »Du bist zu neugierig, Römer. Wir waren am falschen Ufer.«