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Bessies braune Augen füllten sich mit Tränen, und ihre Lippen bebten. Das hatte ihm gerade noch gefehlt! Wozu taugten Mädchen eigentlich? Dauernd mußten sie heulen und Theater machen und sich in anderer Leute Sachen einmischen. Blöde Geschöpfe waren sie. »Dir kann man aber überhaupt nichts sagen, ohne daß du gleich anfängst zu heulen«, begann er und versuchte, sie zu besänftigen. »Ich wollte dir doch nicht weh tun, Schwesterchen. Bestimmt nicht. Ich . . .«

Hilflos blickte er zu ihr hinab. Sie schluchzte und versuchte doch gleichzeitig, zitternd vor Anstrengung, ihr Schluchzen zu beherrschen, während große Tränen ihre Wangen hinunterliefen.

»Mensch, Mädchen können sich vielleicht anstellen!« rief er und verließ wütend das Zimmer.

II.

DIE DRAKONISCHEN REFORMEN

Immer noch wütend ging Joe wenige Minuten später zum Abendessen. Er aß schweigend, obwohl seine Eltern und Bessie sich angeregt unterhielten. Da sitzt sie, die Schwester - beklagte er sich grimmig bei seinem Teller -, eben noch geheult und jetzt schon wieder nichts als Lächeln und Ausgelassenheit! Das war nun seine Art überhaupt nicht. Wenn er einmal einen hinreichend wichtigen Grund zum Heulen hatte, konnte man sich darauf verlassen, daß er mehrere Tage brauchte, um darüber hinwegzukommen.

Mädchen waren Heuchler, mehr gab's da nicht zu sagen. Sie fühlten nicht einmal ein Hundertstel von dem, was sie bei ihrer Heulerei quasselten. Das war sonnenklar. Sie stellten sich bestimmt nur so an, weil es ihnen Spaß machte. Rein zum Vergnügen verdarben sie anderen Leuten, besonders Jungens, die Laune. Darum mischten sie sich in alles ein.

Bei diesen weisen Betrachtungen hielt Joe den Blick auf seinen Teller gerichtet und ließ dem Essen Gerechtigkeit angedeihen. Man kann nicht mit dem Rad von Cliff-House durch den Park nach Western Addition rasen, ohne einen sehr gesunden Appetit mitzubringen.

Ab und zu warf sein Vater ihm einen leicht besorgten Blick zu. Joe sah diese Blicke nicht, aber Bessie sah sie, jeden einzelnen. Mr. Bronson war ein Mann in mittleren Jahren, gut gebaut und von kräftiger Figur, aber durchaus nicht dick. Er hatte ein gefurchtes Gesicht mit kantigem Kinn und strengen Zügen, aber seine Augen blickten freundlich, und um seinen Mund lagen Falten, die eher Fröhlichkeit als Strenge verrieten. Schon bei flüchtigem Hinsehen entdeckte man die Ähnlichkeit zwischen ihm und Joe. Beide hatten die gleiche breite Stirn und die gleichen starken Kinnladen, auch die Augen sahen sich, wenn man den Altersunterschied mit in Betracht zog, so ähnlich wie Erbsen aus derselben Schote.

»Wie sieht's in der Schule aus, Joe?« fragte Mr. Bronson schließlich. Das Abendessen war beendet, und sie wollten eben vom Tisch aufstehen.

»Weiß nicht«, antwortete Joe gleichgültig. Dann fügte er hinzu: »Morgen sind die Prüfungen, dann wird's ja 'rauskommen.« »Wohin willst du?« fragte seine Mutter, als er sich anschickte, den Raum zu verlassen. Sie war eine schlanke, anmutige Frau, von der Bessie ihre braunen Augen und ihr sanftes Wesen hatte.

»Auf mein Zimmer«, erwiderte Joe. Und er setzte hinzu: »Arbeiten!« Sie fuhr ihm liebevoll durch das Haar, beugte sich zu ihm hinab und küßte ihn. Mr. Bronson lächelte ihm anerkennend zu, als er hinausging, und Joe eilte die Treppe hinauf, fest entschlossen, tüchtig zu schuften und die Prüfungen des kommenden Tages zu bestehen. Er ging in sein Zimmer, verriegelte die Tür und nahm an seinem Pult Platz, das zum Schulaufgabenmachen außerordentlich bequem hergerichtet war. Er ließ seinen Blick über seine Schulbücher wandern. Mit Geschichte sollten die Prüfungen am nächsten Morgen beginnen, darum wollte er sich zuerst an die Geschichtslektion machen. Er öffnete das Buch an der Stelle, an der er ein Eselsohr gemacht hatte, und begann zu lesen:

Kurz nach den drakonischen Reformen brach zwischen Athen und Megara ein Krieg aus um den Besitz der Insel Salamis, auf die beide Städte Anspruch erhoben. Das war leicht. Aber was waren die drakonischen Reformen? Die mußte er nachschlagen. Er kam sich außerordentlich wissensdurstig vor, als er die vorhergehenden Seiten durchflog - bis er zufällig seine Augen über die obere Kante des Buches erhob und auf einem Stuhl eine Baseballmaske und einen Fanghandschuh erblickte. - Das Spiel am vergangenen Sonnabend hätten sie nicht verlieren dürfen, dachte er. Und sie hätten es auch nicht verloren, wenn Fred nicht mitgespielt hätte. Wenn Fred doch endlich aufhören würde, Bälle zu verpatzen. Er konnte hundert schwierige Bälle hintereinander schnappen, aber wenn es dann einmal kritisch wurde, ließ er den leichtesten fahren. Er würde ihn ins Feld hinausstellen und Jones dafür ins erste Mal zurückbringen müssen. Jones war allerdings ziemlich zappelig. Er konnte jeden Ball halten, ganz gleich, wie kritisch die Lage war, aber man war nie sicher, was er hinterher mit dem Ball anstellen würde. - Mit einem Ruck wachte Joe aus seinen Träumen auf. Das war ja eine nette Art, Geschichte zu ochsen! Er vergrub sich wieder in sein Buch und las:

Kurz nach den drakonischen Reformen . . . Er las den Satz dreimal, und dann fiel ihm ein, daß er die drakonischen Reformen nicht nachgeschlagen hatte. Ein Klopfen an der Tür. Unter lautem Rascheln blätterte Joe die Seiten um, antwortete aber nicht. Das Klopfen wiederholte sich, und Bessies »Joe, hör doch!« drang an sein Ohr.

»Was willst du?« fragte er. Aber bevor sie antworten konnte, setzte er eilig hinzu: »Eintritt verboten! Ich habe zu tun.«

»Ich wollte nur sehen, ob ich dir vielleicht helfen kann«, schmollte sie. »Ich bin fertig, und ich dachte . . .« »Selbstverständlich bist du fertig!« rief er. »Du bist immer fertig!« Er klemmte seinen Kopf zwischen beide Hände, so daß sein Blick auf das Buch gerichtet blieb. Aber die Baseballmaske plagte ihn. Je mehr er versuchte, seine Gedanken auf Geschichte zu konzentrieren, desto lebhafter sah er vor seinem inneren Auge die Maske auf dem Stuhl und all die Spiele, an denen sie teilgenommen hatte. So konnte es einfach nicht weitergehen. Behutsam legte er das Buch mit dem Gesicht nach unten auf das Pult und ging zu dem Stuhl hinüber. Mit raschem Schwung schleuderte er Maske und Handschuh unter das Bett, und zwar mit solcher Kraft, daß die Maske von der Wand zurücksprang.

Kurz nach den drakonischen Reformen brach zwischen Athen und Megara ein Krieg aus . . .

Die Maske war an der Wand abgeprallt. Ob sie wohl so weit zurückgerollt war, daß er sie sehen konnte? Nein, er wollte nicht hinsehen. War es nicht ganz gleichgültig, ob sie zurückgerollt war? Das hatte nichts mit Geschichte zu tun. Ob sie wohl. . .?

Er spähte über den Rand des Buches hinweg, und da lag die Maske und blinzelte ihn unter dem Bett hervor an. Das war zuviel! Es hatte einfach keinen Zweck, sich mit den Schulaufgaben abzuquälen, solange die Maske in der Nähe war. Er ging hinüber und fischte sie auf, durchquerte den Raum zum Wandschrank hin, knallte sie hinein und verschloß die Tür. Gott sei Dank, das war erledigt. Jetzt konnte er sich an die Arbeit machen. Wieder setzte er sich an das Pult.