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Sie gaben sich die Hand und machten sich unverzüglich daran, den Schlachtplan für die kommende Nacht zu entwerfen.

Aber der Sturm, der nun aus Nordwesten heulte, hatte seine eigenen Pläne mit der Blender und seiner Besatzung. Nach dem Abendessen waren sie gezwungen, Großsegel und Klüver doppelt zu reffen. Dabei hatte der Sturm seinen Höhepunkt noch lange nicht erreicht. Die See war tief aufgewühlt, wahre Wassergebirge erstreckten sich nach allen Seiten, fürchterlich und doch herrlich anzuschauen vom niedrigen Deck der Schaluppe. Nur wenn die beiden Boote gleichzeitig auf einen Wellenkamm geschleudert wurden, konnten sie sich gegenseitig sehen. Von Zeit zu Zeit krachte eine See in den Ruderstand oder wischte achtern über die Kajüte. Joe war an die kleine Pumpe abkommandiert worden, um die Schaluppe einigermaßen trocken zu halten.

Gegen drei Uhr beschloß Franzosen-Pete, beizudrehen und einen Treibanker auszuwerfen, und es gelang ihm, den Leuten auf der Rentier sein Vorhaben durch Zeichen verständlich zu machen. Der Treibanker war ein großer flacher Sack aus Segeltuch, dessen Öffnung durch dreieckig zusammengebundene Stangen aufgesperrt wurde. Das Ganze wurde, nicht viel anders als ein Drache, so an einer Schleppleine befestigt, daß es dem Wasser größtmöglichen Widerstand entgegensetzte. Der Treibanker sollte die schnell treibende Schaluppe immer mit dem Bug genau gegen Wind und See halten. Das war bei Sturm die sicherste Lage. Der Rote Nelson winkte mit der Hand zum Zeichen, daß er begriff und einverstanden war. Franzosen-Pete ging nach vorne, um den Treibanker selber auszuwerfen. Frisco Kid hatte den Auftrag, im richtigen Augenblick an den Wind zu gehen. Mühsam hielt der Franzose sich auf dem schlüpfrigen Vorderdeck aufrecht. Er wartete auf eine günstige Gelegenheit. Mit einem Mal wurde die Blender von einer außergewöhnlich hohen See emporgeschleudert, und auf dem Scheitel der Welle packte sie ein grober Windstoß genau in dem Moment, als sie sich wieder aufrichten wollte. Folglich konnte das Boot dem plötzlichen Druck auf Mast und Segel nicht nachgeben. Man hörte ein scharfes Schnappen, dann krachte es. Die stählerne Takelung hatte sich losgerissen, und Mast, Klüver, Großsegel, Blöcke, Stag, Treibanker und Franzosen-Pete - alles kippte über Bord. Nur durch ein Wunder bekam der Alte das Wasserstag zu fassen, und es gelang ihm, mit einer Hand das Bugspriet zu umklammern. Die beiden Jungen rannten nach vorne und zogen ihn aus dem Wasser, und der Rote Nelson, der den Unfall beobachtet hatte, warf sein Ruder herum und eilte ihnen zu Hilfe.

XX.

GEFÄHRLICHE STUNDEN

Franzosen-Pete war nichts passiert, als er mit dem Mast der Blender über Bord ging, aber den Treibanker hatte es erwischt. Er war von der Gaffel des Großsegels durchbohrt und mithin nutzlos geworden. Die herunterhängende Takelung schlug in Abständen gegen die Bordwand und hielt die Schaluppe halb dwars zu den anlaufenden Wellen -eine zwar nicht gerade gefährliche, aber auch nicht ganz ungefährliche Lage.

»Adieu, meine libbe alte Blender! Nickt mehr wirrst du putzen der Wind das Nase. Nickt mehr wirrst du laufen weg die Jachts von die feine Herren!« So jammerte der Alte, als er aus dem Ruderstand feuchten Auges die Zerstörung betrachtete. Selbst Joe, der eine große Abneigung gegen ihn hegte, tat er in diesem Augenblick leid. Eine plötzliche Bö riß den schroffen Kamm einer Welle mit sich und schleuderte ihn auf das hilflose Schiff. »Können wir die Schaluppe nicht retten?« fragte Joe hastig.

Frisco Kid schüttelte den Kopf. »Auch nicht den Geldschrank?«

»Unmöglich«, antwortete er. »Selbst wenn es um alles Gold der Welt ginge - du kriegst einfach kein anderes Boot längsseits. Außerdem haben wir genug damit zu tun, uns selber zu retten!«

Wieder rauschte eine Welle über sie hinweg. Das Beiboot, das schon lange zuvor abgesackt war, zerschellte am Heck. Plötzlich stand die Rentier turmhoch über ihnen auf einer riesigen Welle. Joe wich entsetzt zurück, denn es sah aus, als müßte das Schiff genau auf sie hinunterkrachen. Aber im nächsten Moment rutschte es in den weit klaffenden Wellenschlund, und sie erblickten es tief unter sich. Es war ein phantastischer Anblick - ein Bild, das Joe sein Leben lang nicht vergessen sollte. Die Rentier wälzte sich in schneeweißem Schaum; die Wellen stürzten Wasserfällen gleich über ihre Decks und liefen sprühend von der Reling ab; Gischt zerstäubte in der Luft und ließ alles unwirklich, wie hinter Schleiern erscheinen. Einer der Männer hielt sich krampfhaft auf dem gefährlichen Achterdeck und versuchte, das bis an den Rand vollgelaufene Beiboot loszuwerfen. Ein Junge beugte sich weit aus dem Ruderstand, klammerte sich an das Geländer und reichte ihm ein Messer. Der zweite Matrose hielt die Ruderpinne. Mit hastenden Händen warf er den Helm herum und zwang die Schaluppe, abzufallen. Neben ihm stand der Rote Nelson, den gebrochenen Arm in einer Schlinge. Den Südwester hatte der Wind ihm weggerissen, sein blondes Haar klebte in zerzausten Locken um sein Gesicht. Er war ganz Mut und Kraft und unbezähmbarer Wille. Etwas Göttliches schien von ihm auszustrahlen. Joe betrachtete ihn plötzlich voller Ehrfurcht. Er erkannte die ungeheuren Möglichkeiten dieses Mannes, und es tat ihm weh, sie so verschwendet zu sehen. Ein Dieb und Räuber! In diesem flüchtigen Augenblick drang Joe tief ein in das Wesen des Menschen. Er rührte an das Geheimnis von Erfolg und Versagen. Das Leben zog seine Vorhänge zurück, damit er in ihm lese und es verstünde.

Aus dem Stoff waren Helden gemacht. Aber Helden besaßen, was dem Roten Nelson fehlte: Entscheidungskraft, Ausgewogenheit des Urteils, nüchterne Selbstbeherrschung, kurz: all das, was sein Vater ihm so oft »gepredigt« hatte. In Sekundenschnelle schossen Joe diese Gedanken durch den Kopf. Dann sauste die Rentier himmelwärts und zischte auf dem Rücken einer mächtigen Woge knapp am Bug der Blender vorbei.

»Der wilde Mann! Der wilde Mann!« schrie Franzosen-Pete mit sich überschlagender Stimme. »Drehen will er! Drehen! Oh, err gehen kaputt! Verrickter Kerrl!« Aber die Zeit war kostbar, und der Rote Nelson packte seine Chance kühn beim Schopf. Genau im richtigen Moment warf er das Großsegel herum und ging hart an den Wind. »Jetzt kommt er!« rief Frisco Kid Joe zu. »Mach dich fertig! Wir springen hinüber!«

Die Rentier wischte an ihrem Heck vorbei. So schwer holte er über, daß seine Kajütenfenster eintauchten, und er kam so dicht heran, daß es aussah, als müßte er die Blender rammen. Aber launisch schleuderte die See die beiden Boote wieder auseinander. Der Rote Nelson sah, daß sein Manöver fehlgeschlagen war. Ohne Zögern begann er ein neues. Er warf den Helm scharf herum. Die Rentier drehte auf dem Heck und schwenkte so ihren überhängenden Großbaum näher an die Blender heran. Franzosen-Pete stand ihr am nächsten, und da die Gelegenheit sich kaum länger als eine Sekunde bieten konnte, sprang er wie ein Eichhorn hoch und griff mit beiden Händen nach der Laufleine. Schon schoß die Rentier weiter. Sooft er überholte, wurde Franzosen-Pete ins Wasser getaucht. Aber er klammerte sich an den Baum, und jedesmal, wenn er wieder auftauchte, hangelte er weiter auf den Mast zu. Er ließ sich in den Ruderstand fallen, als der Rote Nelson sich gerade anschickte, das Manöver zu wiederholen. »Jetzt bist du dran«, sagte Frisco Kid. »Nein, du«, erwiderte Joe.

»Ich versteh' mehr von der See«, beharrte Frisco Kid. »Und ich kann genauso gut schwimmen wie du«, antwortete der andere.

Es hätte schwer gehalten, das Ergebnis dieses Disputs vorauszusagen. Der rasche Gang der Ereignisse machte eine Verständigung jedoch ohnehin überflüssig. Die Rentier hatte wieder scharf gewendet und sauste in halsbrecherischer Fahrt auf sie zu. Dabei legte er sich so hart auf die Seite, daß nichts sie vorm Kentern retten zu können schien.