Anwesenheitsappell. Ich sah mich neugierig um, während wir uns zu Kompanien formierten. Noch in der Nacht hatte der Regen aufgehört. Der Morgen war frisch und hell, und hohe Wolken krängten über den Himmel wie Melonenkarren, die sich selbstständig gemacht hatten. Wohin ich auch blickte, wurden Hörner geblasen und Männer geweckt und knallten Regimentsflaggen im Wind wie Astknorren im Feuer. Auf den verdreckten Straßen, die das weite, morastige Feld durchpflügten, mühte sich bereits ein Heer von Pferden und Maultieren mit Proviant- und Munitionswagen; und ich bemerkte die stattlicheren Zelte in der Ferne, in denen die Regiments- und Bataillonskommandeure residierten. Ansonsten standen wir mitten in einem Ozean an Soldaten — Infanterie, Kavallerie und Artillerie. Das Nächstgelegene, das nicht zur Laurentischen Armee gehörte, war eine zierliche Baumzeile, so weit weg wie eine Wolke am Horizont.
»Ist das Montreal?«, fragte ich Sam. Wenn dem so war, war die Stadt beträchtlich kleiner, als ich gedacht hatte — aber immer noch sehr, sehr groß.
»Du bist ja verrückt«, sagte Sam. »Die Stadt ist noch meilenweit entfernt, der größte Teil liegt auf einer Insel im Sankt-Lorenz-Strom. Meinst du, man könnte so viele Männer in einer modernen Stadt kampieren lassen? Die Hälfte wär mittags besoffen, und der Rest hätte sich auf die Freudenhäuser verteilt. Und krieg nicht immer rote Ohren, Adam: Du bist Soldat und keine Mimose.«[28]
Jemand hat gesagt — ich weiß nicht mehr, wer —, dass man in Montreal keinen Stein werfen kann, ohne eine Kirche oder ein Freudenhaus zu treffen. Ich sollte bald Gelegenheit haben, der Sache auf den Grund zu gehen, denn beim Mittagessen wurde verkündet, dass unser Regiment Urlaub bekommen sollte — unter Aufsicht, versteht sich: Man würde uns zum Ostergottesdienst in eine der großen, altehrwürdigen Dominion-Kirchen bringen.
»Feiern Juden Ostern?«, fragte ich Sam, als wir auf die Ausläufer von Montreal zumarschierten. »Ich glaube nicht.«
»Ich wäre überrascht, wenn sie es täten«, sagte Sam. »Obgleich wir um diese Zeit auch ein Fest feiern, das Passah-Fest.«
»Und was feiert ihr da? Bestimmt nicht die Kreuzigung Christi und seine Auferstehung.«
»Dass die Juden von den Plagen verschont wurden, die über Ägypten hereinbrachen.«
»Du liebe Zeit«, sagte ich in Erinnerung an die Bibelstunden bei Ben Kreel, »dafür kann man nicht dankbar genug sein. Das waren schlimme Plagen, damit ist nicht zu spaßen.«
»Schlimm ist gar kein Ausdruck«, mischte Julian sich ein, und ich war froh, dass das Marschgeräusch, obwohl es vom feuchten Boden gedämpft wurde, immer noch laut genug war, um Julians Auslassungen über dieses heikle Thema zu übertönen. »Einfallsreich, würde ich sagen, der Gipfel des Wahnsinns, wenn du mich fragst. Insekten — Geschwüre — das Abschlachten von Kindern — jeder andere, der solche Methoden anwenden würde, wäre ein Paradebeispiel für unsäglichen Sadismus, doch nicht für himmlische Gerechtigkeit.«
Ich war ziemlich schockiert (aber nicht wirklich überrascht) von dieser neuerlichen Ketzerei. »Gott ist von Natur aus eifersüchtig, Julian«, erinnerte ich ihn. »So steht es in der Bibel.«
»Oh ja«, sagte Julian, »eifersüchtig, sicher, aber auch versöhnlich; barmherzig, aber auch rachsüchtig; zornig, aber auch liebevoll — ungefähr alles, was wir ihm unterstellen können. Das ist das ›Paradox des Monotheismus‹, wie ich es nenne. Vergleiche einen Christen mit einem Heiden, der die Natur anbetet: Wird das Kornfeld des Heiden von einem Sturm verwüstet, kann er sich über die schlechten Manieren des Zyklongottes beschweren; und ist das Wetter freundlich, bedankt er sich, sagen wir mal, bei Mutter Sonnenschein; das alles ist zwar nicht vernünftig, folgt aber einer schlichten Logik. Doch mit der Erfindung des Monotheismus ist ein einziger Gott gezwungen, die Verantwortung für jede noch so unbegreifliche Freude und Tragödie zu übernehmen. Er muss gleichzeitig Gott des Hurrikans und Gott der sanften Brise sein, muss in jedem Akt der Liebe und in jedem Akt der Gewalt zugegen sein, in jeder freudigen Geburt und in jedem unerwarteten Tod.«
»Etwas weniger Mutter Sonnenschein wär mir lieber«, bemerkte Sam und legte sich das Taschentuch über die Stirn, denn es war warm geworden und der Marsch ermüdend.
»Aber die Juden sind von den Plagen verschont worden«, sagte ich zu Julian, »willst du ihnen vorwerfen, dass sie das feiern?«
»Nein«, sagte Julian, »nicht mehr und nicht weniger, als ich es dem einzigen Überlebenden eines Zugunglücks vorwerfe, dass er aus vollem Herzen schreit: ›Gott, ich danke Dir, dass Du mich am Leben gelassen hast!‹ — obwohl derselbe Gott, der ihn verschont hat, dies nur konnte, weil er das Unglück nicht verhinderte und alle anderen sterben ließ. Die Dankbarkeit des Überlebenden ist zwar verständlich, aber kurzsichtig.«
»Ich verstehe trotzdem nicht, was am Monotheismus so schlecht ist. Wenn du einmal anfängst, Gott zu vervielfältigen, wo willst du dann aufhören? So viele Götter, dass man sie nicht mehr auseinanderhalten kann, und gar kein Gott — wo ist da der Unterschied? Besonders wenn sie anfangen, sich zu streiten. Hast du mir nicht eingeschärft, immer nach der einfachsten Erklärung zu suchen?«
»Die Ziffer Eins ist eine einfachere Zahl als Zwölf«, räumte Julian ein. »Aber Null ist einfacher als Eins.«
»Danke, jetzt reicht’s mir«, sagte Sam.
»Wieso, Sam«, sagte Julian und lächelte schadenfroh, »hast du Angst vorm Philosophieren?«
»Das ist Theologie und nicht Philosophie — ein viel gefährlicheres Parkett, Julian; und es ist nicht das leichtfertige Gerede, das mir Angst macht, sondern dein loses Mundwerk.«
»Wo ist das Dominion, dass wir uns selbst zensieren müssten?«
»Wo das Dominion ist? Das Dominion ist überall — das weißt du! Das Dominion marschiert an vorderster Stelle.« Womit er den frisch bestallten Dominion-Offizier, einen Major Lampret, meinte, der gemessenen Schritts voranging, ein stattlicher Mann in einer stattlichen Uniform.[29]
Julian hätte die Unterhaltung fortsetzen können, nur schon um Sam zu ärgern, doch wir betraten soeben eine gewaltige Eisenbrücke, die ein noch gewaltigeres Gewässer überquerte. Schiffe vieler Nationalitäten bewegten sich unter der Brücke, manche mit riesigen weißen Segeln und manche, die von Dampfkesseln angetrieben wurden; manche, die einen Bogen schlugen und zum Hafen von Montreal wollten, andere unterwegs zu den großen Binnenseen oder gen Osten zum Atlantik; und hinter dieser Brücke lag die wundersame Stadt Montreal, und es war diese Stadt, die uns letzten Endes den Atem raubte — mir zumindest.
Ich sollte größere Städte zu sehen bekommen und in noch weitere Fernen reisen; aber da Montreal die erste richtige Stadt war, die ich zu Gesicht bekam, konnte ich sie nur mit Williams Ford vergleichen. An Williams Ford gemessen war sie gigantisch. Und sie sei früher noch »gigantischer« gewesen, erinnerte mich Julian, denn wir waren den ganzen Morgen durch eine Landschaft marschiert, die im Grunde genommen eine einzige riesige Abraumhalde war, von Feuer und Verfall gezeichnet und von Gestrüpp und niedrigen Bäumen zurückerobert: die einstigen Industrieviertel und wuchernden Vororte eines Montreal, wie es nur die Säkularen Alten gekannt hatten. Was uns damals so faszinierte, war nur der Kern des einstigen Montreal.
Und in diesem Kern hatten viele herrliche antike Bauwerke überdauert. »Die Häuser sind so hoch!«, entfuhr es mir, und Julian sagte: »Sie waren früher noch viel höher. Selbst diese Gebäude sind abgewrackt worden, Adam.« Er lenkte meine Aufmerksamkeit von den kahlen, kompliziert verschachtelten Betonfassaden auf die komischen Spitzdächer mit ihren geriffelten Ziegeln aus rotem Lehm und den schiefen Schornsteinen: »Siehst du, wie primitiv und schlampig so ein Dach gemacht ist im Vergleich zu dem Gebäude darunter? Dabei sind die Dächer viel jünger. Hier gibt es kaum mehr als drei oder vier Stockwerke (ja, ja, ›immer noch sehr hoch‹, nun hör auf zu glotzen, Adam, du blamierst dich nur), aber manche von diesen Gebäuden waren früher bis zu zehnmal höher, der größte Teil von ihnen ist Zoll für Zoll abgebaut worden, um Holz, Draht und Aluminium zu gewinnen. Sogar die Stahlskelette wurden systematisch zurückgestutzt, um damit die Walzwerke zu beschicken; gewohnt wird nur noch in ausgeschlachteten Betonstümpfen. Wenn du von dieser Stadt überwältigt bist, Adam, dann versuch dir mal das Montreal von damals vorzustellen. Vor Jahrzehnten standen hier wahre Wunder aus Glas und Stahl — Berge von Menschenhand —, eine Stadt, die sich anschickte, den Himmel zu erobern.« Julians Blick schweifte ab. »Genau wie New York City«, fügte er stolz hinzu, »nur dass New York City größer ist.«
28
Das rüde Wort auf dem unschuldigen Papier mag dem empfindlichen Leser missfallen. Ich entschuldige mich und berufe mich auf die weniger empfindliche Wahrheitsliebe.
29
Ein Dominion-Offizier, der definitionsgemäß sein Patent an der Dominion-Akademie in Colorado Springs erworben hat, trägt die normale Uniform eines Infanteristen seines Rangs, verschönert durch rot-purpurne Paspeln und Wappen; außerdem trägt er ein Paar silberne Engelsflügel an der Brust und auf dem Kopf einen weichen, breitkrempigen Hut, der manchmal »Chaplain’s Crown« (Kaplanskrone) genannt wird.