Seine Vergleiche konnten mich nicht einschüchtern; mir reichte das heutige Montreal mit seinen ziegel- und kopfsteingepflasterten Straßen und seinen rastlosen Einwohnern. Sollte Julian die Wunder der Vergangenheit beschwören — hier und jetzt gab es reichlich Stoff für einen wissbegierigen Burschen wie mich.
Die Leute waren fast so erstaunlich wie ihre Stadt. Weil wir geschlossen marschierten, machte unser Regiment einen martialischen Eindruck, und die Einwohner traten (nicht immer wohlwollend) zurück, um uns vorbeizulassen, während Pferdewagen beim Geräusch unserer Stiefel in Nebenstraßen auswichen. Die Frauen waren farbenfroh gekleidet, in allen Farben des Regenbogens, und kamen mir zugeknöpft, aber auch verlockend vor, so wie sie durch die Frühlingssonne bummelten, um kurze Abstecher in die unzähligen Läden und Märkte zu machen; die Männer waren eher konservativ gekleidet — mehr Pfauhenne als Pfau —, aber ihre Hosen, Hemden und Mäntel waren sauber und gedämpft. Selbst die Kinder waren gut gekleidet, und nur wenige gingen barfuß. Ich fragte Julian: »Sind das lauter Aristokraten?«
»Einige, aber die meisten nicht. Die Oststädte sind keine Landgüter mit einer streng kontrollierten Pächterklasse. Eine Großstadt braucht Handwerker und Arbeiter, die sich frei zwischen verschiedenen Arbeitsplätzen bewegen können; Geschäftsführer und Kleineigner können Kredite aushandeln und Fabriken gründen oder Läden aufmachen und damit Geld verdienen. Was dabei herauskommt, ist eine Bürgerschaft, deren Angehörige mitunter so wohlhabend sind, dass sie sich extravagant kleiden können — zumindest zu Ostern —, auch wenn sie nicht im wahrsten Sinne des Wortes ›begütert‹ sind.«
»Hat die Stadt nicht unter dem Krieg gelitten?«
»Ja und nein. In jüngster Vergangenheit war die Stadt ausschließlich in amerikanischer Hand, und die Truppen, die hier in Garnison lagen, haben zweierlei bewirkt: einen wirtschaftlichen Aufschwung und ein Übermaß an Diebstahl und Laster. Schau mal, Adam, das wird dich beeindrucken — ich glaube, das ist die Kathedrale, in der unser Gottesdienst stattfindet.«
Nach diesem sarkastischen Kommentar blieb mir förmlich die Spucke weg, und Julian lachte wieder über mein ungläubiges Gaffen. Die Straße war leicht angestiegen, war um eine Ecke gebogen und hatte uns in die unmittelbare Nähe einer riesigen Kirche gebracht. Es war das größte Bauwerk, das ich jemals gesehen hatte.[30] Die Spitztürme waren hoch genug, um die Wolken zu kitzeln, und es verschlug mir den Atem, als wir durch den Schatten des Bauwerks und durch seine riesigen und reich verzierten Holztüren marschierten. In der Düsternis des Foyers hielten wir auf Geheiß von Major Lampret inne und nahmen respektvoll die Mütze ab und stopften sie in die Tasche. Dann passierten wir ein zweites Paar Türen und betraten die »Kathedrale«, wie Julian die Kirche nannte, die eher der Dominion-Halle in Williams Ford glich — wenn man die Dominion-Halle zu ungeheurer Größe aufgepumpt und die bescheidenen Wände gegen Granitgewölbe ausgetauscht hätte und ihre Holzarbeiten von einer Armee imaginärer und leicht übergeschnappter Tischler hätte anfertigen und polieren lassen. Wohin man auch blickte, sah man allerfeinste Filigranarbeit und Nischen und Kapellen mit noch mehr Filigranarbeit, und mehr Kerzen als der Nachthimmel Sterne hatte, die einen ätzenden Geruch von Rauch und Wachs erzeugten; und auf all das sahen etliche großartige Buntglasfenster herab, die so hoch waren wie die Kiefern von Athabaska und allesamt ekklesiastische Themen behandelten und dank der Sonne über Montreal in paradiesischen Farben erstrahlten.
Unter den Soldaten, von denen nur wenige jemals in einer Kathedrale gewesen waren, wurden ehrfürchtige Kommentare laut, und mehrere Männer stießen Laute aus, um zu erleben, wie sie sich am fernen Deckengewölbe brachen und als Echo zurückkamen, bis Major Lampret die Betreffenden durch einen leichten Klaps zur Ordnung rief. Dann nahmen wir in den Bänken Platz.
»Macht es dir nichts aus«, flüsterte ich Sam zu, »dass du hier an einem christlichen Gottesdienst teilnimmst?«
»Christen haben mich nach dem Tod meiner leiblichen Eltern aufgezogen«, rief er mir in Erinnerung, »und ich bin schon in vielen christlichen Kirchen gewesen, und das nicht nur zu Ostern; ich versuche mich wie ein wohlerzogener Gast zu benehmen, auch wenn ich kein frommer Gläubiger bin. Jetzt sei still, Adam Hazzard, und lausche den Gesängen.«
Wie es sich traf, saßen wir in der Nähe des Chors. Zuerst schien der Chor nur eine anonyme, weiß gekleidete Masse zu sein. Dann, während sich meine Augen an das Duster gewöhnten, erkannte ich, dass die Chorsänger weiblichen Geschlechts waren und größtenteils jung, und ich schäme mich zu sagen, dass mir diese Entdeckung gefiel, denn die Frauen von Montreal waren von einer Schönheit, die (so schien es mir damals) mindestens so frappierend war, wie alle Buntglasheiligen und Marmormärtyrer des Christentums zusammengenommen.
Skeptiker werden das als Entzugserscheinungen des Lagerlebens abtun — was natürlich nicht ganz falsch ist —, doch ich bin überzeugt, dass meine Faszination auch etwas Schicksalhaftes hatte —, denn in der vordersten Reihe des Chors stand die schönste Frau, die ich je gesehen hatte.
Ich werde nicht versuchen, die Gefühle hier niederzuschreiben, die diese namenlose Frau in mir erregte, denn die Superlative würden den gereiften Schriftsteller nur in Verlegenheit bringen; meine ganze Objektivität aufbietend, kann ich sagen, dass ich Folgendes sah: eine kleine weibliche Person, etwa so alt wie ich, in einem wolkenweißen Chorhemd, von Statur kräftig oder gesund; mit einem rosaroten, strahlenden Gesicht und großen Augen, deren Farbe ich aus dieser Entfernung nicht erkennen konnte, die ich mir aber (und zwar zutreffend, wie sich zeigte) als ein hübsches Kastanienbraun vorstellte; und ihr Haar war eine einzige üppige Ansammlung ebenholzfarbener Spiralen, woraus das Gegenlicht einen spektakulären Glorienschein machte … Falls sie meinen glasigen Blick bemerkte, ließ sie sich nichts anmerken.
Ich konnte ihre Stimme nicht heraushören, doch ich war mir sicher, dass sie mindestens so rein und engelsgleich war wie der Rest des Chors. Sie sangen eine Hymne, die mir unbekannt war und sich auf das Bollwerk der Tugend, den Exerzierplatz des Glaubens und andere metaphorische Einrichtungen bezog. Dann — leider, denn ich war hingerissen davon — verstummte der Gesang, und Major Lampret stieg die Stufen zum Pult hinauf. Alle Blicke waren plötzlich auf ihn gerichtet, auch die des Chors, und unvermittelt nahm ich ihm seine adrette Erscheinung übel, die er in seiner Dominion-Uniform machte, an deren Brust das silberne Engelsflügelabzeichen im bunten Licht der Fenster funkelte.
Major Lampret erklärte — mit Exerzierplatzstimme, um auch die hinterste Bank zu erreichen —, dass die Kathedrale zwar eine katholische Kirche sei, sich aber rundherum für nicht konfessionsgebundene christliche Gottesdienste geöffnet habe, allerdings nur für solche, die vom Dominion genehmigt und ausgerichtet seien. Man tue dies den Divisionen zuliebe, die für kurze Zeit von der Front abgezogen werden konnten. Er dankte dem lokalen Klerus für die erwiesene Großzügigkeit; dann ermahnte er uns, still zu sein und nicht zu essen, falls wir heimlich etwas mitgenommen hätten, und den Gottesdienst nicht durch »Ja, so ist es!« oder »Weiter!« oder andere vulgäre Ausrufe zu unterbrechen, und auch nicht am Ende der Predigt zu klatschen und zu pfeifen — sondern still dazusitzen und an die »Erlösung« zu denken.
30
Abgesehen von Eisenbahnbrücken. Aber selbst die Bockbrücke in Connaught, die den River Pine überquert, hätte — auf geeignete Weise zusammengefaltet — in diese Kathedrale gepasst.