»Melde mich gehorsamst zur Stelle«, sagte Julian, als er ins Zelt trat. Ich konnte ihn nicht sehen, aber seine Stimme klang so unverfälscht, als hätte er an meinem Ohr geredet.
»Julian Commongold«, sagte Major Lampret. »Gefreiter Commongold — oder sollte ich Sie Pastor Commongold nennen?«
»Sir?«, fragte Julian.
»Wie ich höre, unterweisen Sie die Truppe in religiösen Fragen.«
Da ich keinen der beiden Gesprächspartner sehen konnte, will ich das Gespräch so niederschreiben wie den Dialog eines Theaterstücks — das heißt, ohne den Bonus der Beobachtung, also genau so, wie ich es erlebt habe:
JULIAN: »Ich bin mir nicht sicher, ob ich verstehe, was Sie meinen, Sir.«
LAMPRET: »Seien wir offen zueinander. Ich habe Sie schon eine ganze Weile im Auge. Sie sind nicht wie die anderen Männer, hab ich Recht?«
JULIAN (zögernd): »Kein Mensch ist wie der andere.« LAMPRET: »Zunächst einmal sind Sie gebildet und zweifellos belesen. Sie haben eine Meinung zu aktuellen Ereignissen. Und ich bin in der Welt herumgekommen, Gefreiter Commongold, und erkenne den Manhattan-Akzent, wenn ich ihn höre.«
JULIAN: »Ist das so ungewöhnlich?«
LAMPRET: »Ganz im Gegenteil. Jemand wie Sie taucht früher oder später in jedem Regiment auf — wenn kein Zyniker aus Manhattan, dann ein Militärjurist aus Boston oder ein Möchtegernsenator mit ländlicher Adresse. Ich versuche nur herauszufinden, was für ein Problem Sie sind. Aufgewachsen in New York, und Sie hatten dort zweifellos ein komfortables Leben, nach Aussehen und Gebaren … Wer war Ihr Vater, Julian Commongold? Ein aufstrebender Lumpenhändler? Ein Techniker, der Geld genug hatte, sich die Illusion von Wohlstand zu kaufen und eine Hochglanzbildung für seinen Sohn? Der tagsüber den Speichel seiner Überlegenen geleckt hat, um sie abends in der Abgeschiedenheit seiner Küche zu verfluchen? Haben Sie deshalb Ihre Familie verlassen und die Uniform angezogen? Oder waren Sie nur betrunken und sind im falschen Zug aufgewacht, wie ein überfälliger Schuljunge?«
JULIAN (kühl): »Der Herr Major sind sehr scharfsichtig.«
LAMPRET: »Wie dem auch sei … Vermutlich haben Sie zu den Jungen gehört, die auf dem Schulhof immer ihren Willen bekamen? Ein paar eindrucksvolle Worte, und jeder wollte Ihr Freund sein?«
JULIAN: »Nein, Sir — nicht jeder.«
LAMPRET: »Nein — da gibt es immer ein paar Unbequeme, die das Spiel durchschauen.«
JULIAN: »Der Major ist erstaunlich gut informiert über das Leben in New York City. Ich war in der Annahme, er hat die meiste Zeit in Colorado Springs verbracht.«
Das war eine gewagte und gefährliche Bemerkung. Die Dominion-Akademie in Colorado Springs hatte einige hervorragende Strategen und Taktiker hervorgebracht — aber auch ein Heer von Spionen und Informanten. Nach Sam war die Dominion-Militärakademie früher einmal eine echte Militärakademie gewesen, damals, als die Vereinigten Staaten noch eine Luftwaffe unterhielten — das heißt, ein Bataillon von Flugzeugen und Piloten.[36] Doch dieser Einrichtung erging es genauso wie dem Öl, obwohl es heißt, die Kampfflugzeuge seien dank einer strategischen Reserve noch in den ersten Jahren der Falschen Drangsal geflogen. Danach geriet die Luftwaffenakademie zunehmend unter den Einfluss des Dominions — genauer gesagt, unter den Einfluss seines Machtzentrums in Colorado Springs — und wurde letzten Endes so etwas wie eine institutionalisierte Liaison zwischen Dominion und Generalstab.
Dominion-Offiziere sind voll anerkannte Offiziere und befugt, Befehle zu erteilen. Aber ihre wahre Macht ist die Disziplin. Nur ein Dominion-Offizier kann jemanden wegen Gottlosigkeit oder Aufwiegelei vor Gericht bringen. Ein Soldat, der solcher Verbrechen überführt wird, kann bestenfalls mit unvorteilhafter Entlassung und schlimmstenfalls mit zehn Jahren Militärgefängnis rechnen.
Diese Macht wurde selten ausgeübt, denn die Beziehung zwischen Armee und Dominion war immer eine empfindliche gewesen. Dominion-Offiziere waren im Allgemeinen nicht sehr beliebt und wurden nicht selten als selbstgefällige und potenziell gefährliche Eindringlinge betrachtet. Ein guter Dominion-Offizier war aus Sicht der Soldaten jemand, der seinen Teil der Arbeit tat; der Pietät durch sein Beispiel förderte und weniger, indem er ihre Abwesenheit strafte; und dessen Sonntagspredigten kurz und bündig waren. Die Männer mochten Major Lampret, denn er drohte ihnen nur selten. Doch er war reserviert in ihrer Gegenwart und beobachtete sie aus der Entfernung. Major Lampret hatte etwas von einem satten Berglöwen aus Colorado: Er war lethargisch, aber muskulös und bereit zum Angriff, sobald sich sein Appetit meldete.
Hatte Julian Major Lamprets Appetit auf Abtrünnige und Besserwisser geweckt? Das war die Frage, die ich mir stellte, während ich in meinem Nest aus Seilen und Kisten lag und lauschte.
LAMPRET: »Sie sollten Ihren Tonfall überdenken, Gefreiter Commongold. Darf ich Ihnen eine Lektion in Staatsbürgerkunde erteilen? Es gibt drei Zentren der Macht in den Vereinigten Staaten von heute, nur drei. Das eine ist die Exekutive, die sich auf die Senatoren und die breite Schicht der Eigentümer stützt. Ein anderes ist das Militär. Und das letzte ist das Dominion of Jesus Christ on Earth. Sie sind wie die drei Beine eines Schemels: Jedes stützt die beiden anderen, und sie funktionieren am besten, wenn sie gleich lang sind. Aber Sie sind, soweit ich weiß, nicht begütert, Mr. Commongold, und Sie sind ganz bestimmt kein Kirchenmann, und die Armee hat Ihnen in ihrer unermesslichen Weisheit den niedrigsten Rang verliehen. Ihre Stellung befugt Sie nicht zu einer eigenen Meinung, geschweige denn, damit hausieren zu gehen.«
JULIAN: »Es gibt einen Spruch, Sir, dass Meinungen wie — wie …«
LAMPRET: »Sagen wir ›Nasen‹.«
JULIAN: »Nasen in dem Sinne, dass jeder eine hat.«
LAMPRET: »Ja, und wie Nasen sind manche Meinungen weniger edel als andere, und manche Nase wird da hineingesteckt, wo sie nichts zu suchen hat. Sie dürfen jedwede Meinung haben, Mister Commongold, aber Sie müssen sie für sich behalten, sofern sie die Pietät oder Kampfmoral der amerikanischen Truppen untergräbt.«
JULIAN: »Ich empfinde keine Sympathie für die Deutschen, Sir, und habe nicht die geringste Absicht, etwas zu untergraben.«
LAMPRET: »Ein halbherziges Dementi! Halten Sie mich für einen Abteilungsleiter, Gefreiter Commongold, der Entschuldigungen sammelt, um seine Autorität zu demonstrieren? Im Gegenteil. Ich bin Realist. Die Männer unter meinem Kommando sind im Großen und Ganzen ungebildet und beschränkt. Ich weiß das, und ich nehme das hin. Für diese Männer ist Religion kaum mehr als die vage Erinnerung an die Ermahnungen ihrer Mütter und die Aussicht auf eine bessere Welt. Aber sie hilft ihnen, und ich denke, dass Gott es so gewollt hat. Ich will nicht, dass meine Männer in die Schlacht ziehen und Zweifel an ihrer persönlichen Unsterblichkeit haben — es macht sie zu schlechteren Soldaten.«
JULIAN: »Nicht nach meiner Erfahrung. Ich habe neben solchen Männern gekämpft, und sie haben sich beispielhaft geschlagen. Der Major wird das nicht wissen, weil er nicht dabei war.«
Damit hatte er Lampret den Fehdehandschuh hingeworfen. Aus meiner Sorge um Julian wurde blanke Angst um ihn. Mit dem Major zu streiten war eine Sache, ihn herauszufordern eine andere. Dominion-Offiziere waren normalerweise vom Kampf freigestellt. Sie trugen Pistolen, keine Gewehre und waren nützlicher hinter der Front, wo sie sich um das seelische Wohl der Truppe kümmerten. Dominion-Offizieren hinter vorgehaltener Hand vorzuwerfen, sie seien feige und würden sich hinter Engelsflügelabzeichen und großem Filzhut verstecken, war schon schlimm genug, aber einen solchen Mann damit zu provozieren, grenzte an Gotteslästerung. Die Reaktion des Majors konnte ich natürlich nicht sehen; doch eine stählerne Stille drang aus dem Zelt, nur zu vergleichen mit der Hitze eines schwelenden Kohlenmeilers.
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Die »Luftwaffe« gehört auch zu den Dingen, die ich damals als historische Märchen abgetan habe, obschon sie in der