Выбрать главу

»Ja, so könnte man sagen, obwohl es Julian mehr ums Reden als ums Essen geht. Philosophen diskutieren über Zeit und Raum und über Sinn und Zweck der Menschheit; solche Themen sind Julians Leibgericht.«

»Und darüber kann man länger als ein paar Minuten reden? Ich glaube, über ›Raum‹ könnte ich nicht länger als ein, zwei Sekunden reden, dann wär mein Kopf restlos leergedacht. Jedenfalls habe ich zwei Philosophen mitbekommen, die das Café hinter Julian betreten haben, und die haben sich nur über ein Musical unterhalten, das hier anlaufen soll.«

»Ich weiß auch nicht alles«, gab ich zu, »aber Julian sagt, unter den Philosophen gibt es Ästheten, die sich mehr mit Kunst als mit der Bestimmung des Menschen befassen.«

»Sie schienen sich mehr mit dem Burschen zu befassen, der die romantische Hauptrolle spielt.«

»Ja, über so was, denke ich, unterhalten sich Ästheten.«

»Na ja, das geht alles über meinen Horizont«, meinte Lymon Pugh und rief nach einem neuen Krug Bier. »Und du auch, Adam, wenn ich das mal sagen darf — du bist mir auch ein Rätsel! Du kommst in eine Stadt so schön wie diese mit ihren ganzen sündigen Gelegenheiten und wanderst wie ein gottesfürchtiger Pilger von einer Kirche zur anderen, dabei ist nicht mal Sonntag.«

Das Thema war tabu, das ging nur mich etwas an. »Ich habe jemanden gesucht«, sagte ich. Seit Ostern fahndete ich nun schon nach Calyxa. Als ich bei dem Chorleiter in der Kathedrale vorstellig wurde, erklärte er mir, der Osterchor sei speziell für die Truppengottesdienste zusammengestellt worden. Die kircheneigenen Sängerinnen hätten sich geweigert, für Besatzer zu singen, und so habe er für fünfzig Cent Stundenlohn und ein warmes Mittagessen Ersatz anheuern müssen. Doch die Namen der Frauen habe er nicht festgehalten. Also hatte ich etliche große Kirchen abgeklappert, von denen es in Montreal schwindelerregend viele gab — ohne Erfolg. »Und du, Lymon? Da du unseren Zeitvertreib für so verrückt hältst, was schwebt dir denn so vor?«

»Na ja, mich erst mal zu besaufen …«

»Ein edler Vorsatz — zumindest mit Erfolgsgarantie.«

»Aber nicht bis zum Umfallen. Ich möchte schon noch steuern können. Und dann ab ins Shade Tree Hotel.« Das Shade Tree war eines dieser Etablissements, in denen »Frauen ihre Tugend für Geld verkaufen und man ihre Krankheiten als kostenlose Zugabe bekommt«, wie sich Major Lampret in einer Predigt ausgedrückt hatte. Ich fragte Lymon, ob er denn keine Angst habe, zurückzukommen, wie Lampret es mal ausgedrückt hatte, »ohne jene drei fundamentalen Güter eines jeden anständigen Mannes, als da sind: seine Gesundheit, seine Ersparnisse und seine Hoffnung auf Erlösung«?

»Die Frauen im Shade Tree sind sauber«, meinte Lymon allen Ernstes. »Und Angst habe ich davor, zurückzukommen, ohne dass ein fundamentales männliches Bedürfnis befriedigt wurde — das kann nämlich auch krank machen, krank oder stinksauer.«

Er hatte seine narbigen Hände zu Fäusten geballt, und ich sagte ihm, dass es vermutlich richtig sei, etwas zu vermeiden, was einen stinksauer mache. »Aber bevor du dich in ein solches Abenteuer stürzt, solltest du dich stärken. Nein, nein, nicht mit Schnaps. Bestell dir was zu essen.«

»Ein bisschen könnte ich vertragen«, gab er zu, und ich beobachtete mit stillem Stolz, wie er Schritt für Schritt entschlüsselte, was auf der Menütafel stand. Er war überrascht, dass »eggs« sich nicht mit »a« schrieb, obwohl es wie »aggs« ausgesprochen wurde — doch inzwischen hatte er sich mit den Ungereimtheiten der geschriebenen Sprache abgefunden.

Jeder von uns bestellte sich eine warme Mahlzeit, und wir aßen mit Appetit, während sich ringsherum ein reger Betrieb entfaltete. Lymon hatte ratzfatz seine Portion verputzt (gekochte Eier mit geschmorten Zwiebeln), als ihm auffiel, was ich für große Augen machte. »Du machst ein Gesicht, als wärst du in einen Hinterhalt geraten«, sagte er.

Gewissermaßen war ich das.

Sie saß schon eine ganze Weile da, nur ein paar Meter entfernt, verdeckt durch etliche einfach gekleidete Männer und Frauen, die mit an ihrem Tisch saßen. Wenn sie nicht aufgestanden wäre, hätte ich sie wahrscheinlich nicht bemerkt — sie ging durch den schwülen, brodelnden Raum voller Pfeifenrauch und Lichtkränze zu der kleinen Bühne hinüber — Calyxa!

Sie sah nicht aus wie in der Kathedrale. Wenn Calyxa im weißen Chorhemd unirdisch ausgesehen hatte, so war diese Calyxa voll und ganz von dieser Welt; sie trug ein schwarzes Männerhemd, das ihr eine Nummer zu groß war, und eine steife Jeanshose.[38] Ihre leichte, selbstbewusste Art zu gehen legte nahe, dass sie hier zu Hause war, und als sie die Bühne unter freundlichem Beifall bestieg, war ich mir sicher.

»Sieh nur! Die sieht aus wie ein Hydrant«, sagte Lymon Pugh. »Meinst du, die will für uns singen?«

»Hoffentlich«, sagte ich verärgert.

»Die Hose hat Hochwasser. Sonst ist sie hübsch, bis auf die Knöchel, sie hat nämlich keine.«

»Ich muss mir jetzt nicht deine Meinung über ihre Knöchel anhören! Was gehen dich ihre Knöchel an?«

»Sie hat richtige Stempel — und ob mich das was angeht, das geht uns alle an!«

»Geht keinen was an. Still jetzt!«

»Was ist los mit dir?«, fragte Lymon; doch dann hielt er zum Glück den Mund.

Calyxa begann tatsächlich zu singen, mit einer reinen, aber präzisen und erfreulich geschulten Stimme. Ohne Trillern und Trällern, ohne Tremolos und Theatralik oder burleskes Pfeifen, ohne den ganzen Firlefanz, der bei zeitgenössischen Sängerinnen gang und gäbe war. Nein, sie sang die Lieder, wie sie komponiert waren: schlicht und alle Nuancen aus den Worten und Melodien beziehend und nicht aus irgendwelchem Beiwerk.

Sie hampelte auch nicht herum beim Singen. Sie klatschte nur in die Hände, räusperte sich und fing an. Für manche zu dezent, nach den gelegentlichen Zwischenrufen angetrunkener Kritiker zu urteilen. Für mich war es Ausdruck ihres natürlichen Anstands — der in krassem Widerspruch zu den Liedern stand.

Sie sang fünf Lieder, von denen die meisten Strophen hatten, die im Zug mit dem Karibugeweih oder an ähnlich unrühmlichen Orten durchaus willkommen gewesen wären. Ich war bestürzt, wie man sich denken kann. Doch dann fiel mir Julians Doktrin vom sogenannten Kulturellen Relativismus ein, von deren Richtigkeit ich seitdem überzeugt bin. Denn diese Lieder, die mir aus dem Mund anderer so verdorben vorgekommen waren, wurden durch Calyxas Stimme geläutert. Calyxa musste unter Menschen aufgewachsen sein, die mit solchen Liedern und Gefühlen ihr tägliches Brot verdienten und sie überhaupt nicht als obszön oder ausschweifend betrachteten. Mit anderen Worten, ihre Unschuld war angeboren und nicht durch ihre vulgäre Umgebung kompromittiert worden — es müsse sich dabei, fand ich, um eine Art unzerstörbare Erbunschuld handeln.

Zwei Lieder hatten keinen englischen Text, was Lymon Pugh irritierte. »Die traut sich wirklich, ein deutsches Lied zu singen!«

»Nicht deutsch, Lymon. Französisch. Diese Sprache wurde hier jahrhundertelang gesprochen, hier und da spricht man sie heute noch.«

Lymon hatte offenbar angenommen, es gebe nur zwei Sprachen: Englisch und Fremdländisch. Er war entsetzt, dass es Sprachen wie Sand am Meer geben sollte, häufig (nicht immer) eine pro Land. »Kaum lerne ich eine zu schreiben, vermehren sie sich wie die Kaninchen! Ich sag dir was, Adam, alles hat einen Haken, einfach alles. Die Welt ist so hinterlistig wie der Glückstopf von Langers.«

»Meistens reicht Englisch, es sei denn, du reist ins Ausland.«

»Nein, danke, ich bin weit genug gereist — dieses Land ist mir schon fremd genug, auch wenn es Amerika heißt.«

Ich flehte ihn noch einmal an, den Mund zu halten, während Calyxa zu Ende sang.

вернуться

38

Dass die Frauen in Montreal Hosen statt Röcke trugen, hatte mich anfangs schockiert. In Williams Ford trug keine Frau, die etwas auf sich hielt, Hosen — nicht mehr nach dem zehnten Lebensjahr. Andere Länder, andere Sitten, hatte Julian mir beigebracht — das gilt auch für Städte. Kleidung signalisiert nicht überall dasselbe. Ich hatte in letzter Zeit einen gewissen Stolz auf meine Fähigkeit entwickelt, ein so ungewöhnliches Phänomen wie »weibliches Hosentragen« einfach hinzunehmen, und ich begann mich als Mann von Welt zu fühlen, der den Pächterjungen in Williams Ford weit voraus war.