»Zweiter Absatz, dritte Tür rechts. Laufen Sie aber nicht gleich zur Treppe. Wenn ich weg bin, warten Sie noch ein bisschen. Es darf nicht auffallen.«
Ich war mit allem einverstanden. Die nächsten Minuten vergingen nur langsam; dann stand ich auf, eine Lässigkeit vortäuschend, die vielleicht eine Spur zu theatralisch war, so wie Calyxa die Augen verdrehte. Wie dem auch sei, kurz darauf war ich die trübe beleuchteten Stufen hinauf, fand das Zimmer und machte die Tür auf.
Das Zimmer war klein und enthielt lediglich einen Stuhl, ein paar Kisten mit Holzwolle, ein leeres Fass mit der Aufschrift SALT FISH und eine rostige Sturmlaterne. Mit Letzterer machte ich Licht. Es roch nach feuchtem, schimmeligem Holz. Das einzige Fenster überblickte (soweit der Schmutz es zuließ) die belagerten Verkaufsstände und von Fackeln erleuchteten Geschäfte der Guy Street. Ich konnte ein tintenschwarzes Stück Nachthimmel sehen, das von fernen Blitzen durchzuckt wurde; der böige Wind ließ die Markisen der Guy Street knattern, vermutlich stand ein Unwetter bevor. Feucht genug war die Stadtluft und schwülheiß dazu, besonders in diesem Obergeschoss. Ich überließ Calyxa den Stuhl und hockte mich auf eine Kiste und wartete, dass sie kam, und versuchte, nicht zu schwitzen.
Es vergingen keine zehn Minuten, da öffnete sie die Tür. Der Leser mag sich meine Aufregung und Neugier vorstellen, die ihr Besuch bei mir auslöste. Im Flurlicht war ihr Haar eine einzige ebenholzschwarze Lockenpracht. Sie setzte die Hände auf die Hüften und betrachtete mich.
»Evangelica meint, Sie wären harmlos«, sagte sie. »Sind Sie harmlos?«
»Evangelica« hieß vermutlich die Kellnerin. »Na ja, gefährlich bin ich jedenfalls nicht.«
»Sie heißen Adam Hazzard?«
Ich nickte. »Und Sie sind Calyxa Blake.«
»Adam Hazzard, ich weiß nicht, wer Sie sind — für mich sind Sie nur ein Soldat auf Urlaub —, aber ich brauche Hilfe und Evangelica meint, Sie würden mir den Gefallen tun, ohne eine allzu große Gegenleistung zu verlangen.«
»Selbstverständlich helfe ich Ihnen, egal in welcher Lage Sie sind, und als Gegenleistung verlange ich gar nichts.«
»Ein Bursche aus dem tiefen Westen. Wie Evangelica gesagt hat. Wie alt sind Sie?«
»Neunzehn«, sagte ich, was um weniger als einen Monat übertrieben war.
»Können Sie mit der Pistole umgehen, die Sie bei sich tragen?«
»Das sollte ich als Soldat, und das kann ich.«
»Haben Sie sie jemals benutzt? Auf jemanden geschossen, meine ich?«
»Ich habe auf viele Menschen geschossen, Miss Blake, deutsche Menschen, aber mit meinem Pittsburgh-Gewehr — und auch einige getroffen, da bin ich mir sicher. Und was meine Pistole betrifft, mit der habe ich bis jetzt nur auf Zielscheiben geschossen, aber ich weiß damit umzugehen. Wollen Sie, dass ich jemanden erschieße? Das ist ein bisschen viel verlangt … nicht, dass ich kneifen will … aber eine Erklärung wär schon vonnöten.«
»Die können Sie haben, wenn die Zeit reicht.« Sie blickte sich in dem engen Zimmer um.
»Da ist ein Stuhl, wenn Sie sich setzen wollen.«
»Und ob ich mich setzen will, aber so, dass ich aus dem Fenster sehen kann.«
Sie schleifte den Stuhl ans Fenster. Sie brauchte keine Hilfe — Calyxa war ein großes Mädchen, offensichtlich gewöhnt, solche Sachen alleine zu meistern. Sie setzte sich so, dass sie aus dem Fenster blicken konnte, während wir redeten (ich sah sie meistens im Profil). »Das ist unangenehm«, sagte sie.
»Sie können sich auch auf eine Kiste setzen, wenn das bequemer ist.«
»Ich meine unser Gespräch.«
»Tja, das liegt daran, dass wir uns so gut wie gar nicht kennen … obwohl ich seit Ostern viel an Sie gedacht habe.«
»Haben Sie das? Warum gerade an mich?«
»Wie meinen Sie das?«
»Von all den Frauen im Chor, was habe ich, was die anderen nicht haben? Die meisten Soldaten, die ich getroffen habe, sind mehr an Huren als an Chorsängerinnen interessiert.«
»Um ehrlich zu sein, ich weiß es selbst nicht. Ich fand Sie einfach … außergewöhnlich.« Ich bekam fast nichts mehr heraus, so funkelten mir die Ohren.
»Wie kindisch. Aber das macht nichts.« Sie musterte wieder die Straße. »Ich sehe sie nicht … schwer zu sagen in dem Duster …«
»Wen erwarten Sie?«
»Ein paar Männer, die mir übel mitspielen wollen.«
»In dem Fall tue ich alles, was in meiner Macht steht, um Sie zu beschützen! Wer sind die Schurken?«
»Meine Brüder«, sagte sie.
Wir redeten noch fast eine Stunde in diesem engen Zimmer. Sie erzählte mir mit bewundernswerter, wenn auch erstaunlicher Offenheit, dass sie erst drei Jahre alt gewesen sei, als ihre Eltern starben, und dass ihre Brüder Job und Utty (Uther) Blake, beide sogenannte Buschläufer, sie aufgezogen hatten.[39]
Calyxa war ein Mädchen und ihnen folglich nur zur Last gefallen — nie, dass sie mal nachsichtig oder nett zu ihr gewesen wären. Dann war sie ihrer Willkür unverhofft entkommen, als Job und Utty ins Gefängnis wanderten; Calyxa wurde in einem kirchlichen Internat in Quebec City untergebracht, wo sie lesen und schreiben lernte. Die Schule war kein Paradies, aber drei regelmäßige Mahlzeiten am Tag hatten sie aufblühen lassen, und sie hatte immerhin einen Zugang zur Welt des Lernens gefunden. Ihre angeborene Neugier und ihre Lebhaftigkeit waren beansprucht worden — und dann wurden ihre Brüder vorzeitig entlassen, und Calyxa wehrte sich mit Händen und Füßen dagegen, wieder in ihre Obhut zu kommen.
Aber das Gesetz war unerbittlich, und man gab sie den beiden zurück. Zu ihrem Entsetzen betrachteten Job und Utty sie nicht mehr als nutzlose Belastung, sondern hatten einen Plan ausgeheckt, demzufolge sie an ein Bordell in Montreal verkauft oder, wenn das nicht klappte, an eine andere Guerillabande verschachert werden sollte.
Das passte ihr ganz und gar nicht, und sie beschloss Reißaus zu nehmen, ehe der Handel spruchreif wurde. Zum Glück hielten ihre Brüder sie noch immer für ein Kind, zumindest was ihren geistigen und seelischen Entwicklungsstand betraf, und gingen wie selbstverständlich davon aus, sie könnten sie durch entsprechende Einschüchterungen gefügig machen. Sie irrten sich. Während sie im Kerker geschmachtet hatten, war ihre Calyxa tüchtig herangereift. Sie war nicht nur gescheit genug, sie auszutricksen, sie war auch klug genug, sich für reuig, lammfromm und gehorsam auszugeben und ihre Brüder bis zur Arglosigkeit einzulullen. Als Job und Utty sie in der Wildhütte zurückließen, von wo sie ihre Herbstfallen aufrollten — der Abgeschiedenheit und ein paar zünftigen Drohungen vertrauend, die Calyxa hindern würden, auf dumme Gedanken zu kommen —, erkannte sie ihre Gelegenheit und packte sie beim Schopf.
Sie klaubte das bisschen Proviant zusammen, das sie finden konnte, steckte den Kompass ein, den sie Utty gestohlen hatte, und machte sich auf den Weg nach Montreal. Sie sprach nur ungern über den mörderischen und einsamen Fußmarsch, an dessen Ende sie völlig erschöpft und ausgehungert hier angekommen war. Nach ein paar Nächten in den Straßen von Montreal war ihr klargeworden, dass sie jetzt ihr Leben selbst in die Hand nehmen musste; und sie fing an zu singen — erst für Pennys auf den Bürgersteigen und dann in Tavernen. Singen gelernt hatte sie im Internat, die Geistlichen hatten ihr Talent entdeckt und gefördert.
Inzwischen kam sie gut zurecht und hatte bessere Gesellschaft als die von Job und Utty Blake. Doch die Flucht vor ihren Brüdern würde erst dann zu Ende sein, wenn die beiden nicht mehr lebten, denn sie schäumten vor Wut über den Verlust, den sie erlitten hatten. Calyxa hatte ihnen Calyxa gestohlen, und sie wollten sie zurückhaben und sie für ihre Dreistigkeit bestrafen.
Calyxa war entschlossen, es nicht so weit kommen zu lassen. Im Winter war nicht viel zu befürchten, denn die Blakebrüder verbrachten ihn im Einflussbereich des deutschen Gouverneurs der Saguenay-Region, wo sie wilderten und soffen und sich bei den Mitteleuropäern als Spione verdingten. Doch im Sommer wurden sie unternehmungslustiger und kamen häufig nach Montreal, um Felle zu verkaufen oder ihr Geld zu verspielen. Drei Sommer hatte Calyxa nun schon in der Angst verbracht, die beiden könnten ihren Aufenthaltsort entdecken. Sie verließ sich auf Freunde, die Bescheid wussten und Augen und Ohren offen hielten; und die Brüder waren bereits zweimal wieder abgezogen, ohne auch nur das Geringste über Calyxa in Erfahrung gebracht zu haben, und Calyxa hatte viele Aufpasser, die eine zufällige Begegnung der Geschwister zu verhindern wussten.
39
Buschläufer sind Männer, die in der Wildnis der Laurentischen Berge und oben in der Felswüste von Labrador operieren; sie leben am Rande des Gesetzes. Manche bilden Guerillabanden und schlagen sich mal auf die Seite der Amerikaner, mal auf die Seite der Mitteleuropäer; doch »hauptberuflich« sind sie Pferdediebe, Schmuggler und Gelegenheitsplünderer.