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Heute Abend hatte Calyxa allerdings das denkbar Schlimmste erfahren. Evangelica wusste von einem Freund, dass Job und Utty wieder in der Stadt waren und Anhaltspunkte dafür hatten, dass ihre Schwester hier lebte. Sie hätten Witterung aufgenommen und bereits herausgefunden, dass Calyxa im Thirsty Boot verkehrte — und sie seien eben jetzt unterwegs hierher.

»Dann sollten Sie schleunigst nach Hause gehen und sich verstecken«, sagte ich. »Ich werde Sie begleiten, wenn das Ihr Wunsch ist.«

»Das wäre genau das Falsche, nein. Job, der Klügere von beiden, wird sich überlegt haben, die Taverne zu beobachten, statt hier hereinzuplatzen und sich Probleme einzuhandeln. Die beiden sind Jäger, Adam Hazzard, und wissen, wie man sich anpirscht, selbst wenn die Beute Wind bekommen hat. Wenn sie wirklich noch nicht wissen, wo ich wohne, brauchen sie mir nur zu folgen und so lange zu warten, bis keiner da ist, der den Einbruch bezeugen kann.«

»Dann leben Sie also allein?«

»Ja.«

»Kein Mann, der Ihnen zur Seite steht?«

»Nein, aber was soll das?«

»Na ja, das vergrößert das Risiko. Was wollen Sie tun, wenn Sie nicht nach Hause können?«

»Hierbleiben. Ich muss mich hier verstecken. Evangelica will mich warnen, wenn Job und Utty reinkommen. Selbst dann dürfte mir noch nichts passieren — solange die beiden nicht das Haus auf den Kopf stellen. Deshalb hätte ich Sie gerne bei mir — Sie und Ihre Pistole.«

»Sind Ihre Brüder bewaffnet?«

Zivilisten durften im Stadtbereich keine Waffen tragen, und die meisten hielten sich daran. Nicht so ihre Brüder, erklärte Calyxa. Beide seien erfahrene Pistolenschützen und würden lauthals prahlen, wie viele Männer sie schon getötet hätten. Das brachte mir wieder den Ernst der Lage zu Bewusstsein, und ich riet ihr, noch einmal aus dem Fenster zu blicken, um sich zu vergewissern, dass sich die beiden nicht unbemerkt angeschlichen hatten.

Es verstrich jedoch so viel Zeit, dass unsere Wachsamkeit allmählich nachließ; ihr Spiralfederhaar im Licht der Sturmlaterne bewundernd, schöpfte ich eben wieder Mut, als sie vom Stuhl aufsprang und sagte: »Oh, Mist!«[40]

»Kommen sie?«

Sie nickte. Ich stürzte ans Fenster und konnte eben noch zwei stämmige Burschen sehen — einen geflickten Wollmantel und ein dunkles Wolljackett mit gelb blitzenden Knöpfen (vielleicht ein Kolani) —, die im Fackellicht über die Straße kamen, um unter uns zu verschwinden, genau da, wo der Eingang des Thirsty Boot lag.

»Löschen Sie das Licht!«, sagte Calyxa. »Warten Sie! Erst noch das Fenster aufmachen.«

»Warum das denn?«

»Für den Fall, dass wir rasch hier rausmüssen.«

»Da draußen ist nur die Straße, und die liegt zwei Etagen unter uns.«

»Unsere letzte Zuflucht«, sagte sie.

Wir kauerten in dem dunklen Zimmer und ahnten nichts Gutes. Die Hitze war drückend. Ich konnte das herannahende Unwetter riechen — ein schwerer, salziger Geruch —, und mein Körpergeruch war auch nicht gerade frisch, obwohl ich mich heute früh gewaschen hatte. Vielleicht konnte Calyxa sich auch riechen — ich konnte es jedenfalls, und ihr Geruch war nicht unangenehm — für mich roch sie warm und aufregend —, aber lassen wir das.

Ihre Brüder blieben vorerst im Parterre, tranken vermutlich und machten sich mit den Gegebenheiten vertraut. Doch sie waren mit einer festen Absicht gekommen, und die ließ sich nicht einfach vertagen. Wir vernahmen Schritte auf der Treppe … es war Evangelica, die nette Kellnerin, die heimlich raufkam, um uns zu warnen.

Sie klopfte hauchzart an die Tür. »Sie kommen rauf!«, flüsterte sie. »Arnaud und der Barkeeper haben ihnen gedroht, aber die Blakes haben ihre Pistolen gezogen, und alle kuschen. Sie wollen alle Zimmer durchsuchen — ich muss wieder runter! Seht euch vor.«

»Ist Ihre Waffe geladen, Adam Hazzard?«, fragte Calyxa mit fester Stimme.

Ich nahm sie heraus und vergewisserte mich.

»Geben Sie her«, sagte sie.

»Was wollen Sie damit?«

»Ich kann doch nicht von Ihnen verlangen, dass sie meine Brüder erschießen.«

»Ich schieße, wenn es sein muss — hoffe aber, dass es nicht dazu kommt.«

»Sie tun es, wenn es sein muss — ich, weil es mir Freude macht.« (Sie spielte die Blutrünstige, um meine Gefühle zu schonen: Mir wurde warm ums Herz.) »Geben Sie her«, wiederholte sie.

»Kommt nicht infrage.«

»Na gut, werden Sie denn schießen? Sie totschießen, meine ich? Versprochen?«

»Beim ersten Anzeichen von …«

»Anzeichen gibt es genug, Adam! Die gehen über Leichen! Du musst schießen, sobald du ihren Schatten siehst — du musst schießen, um zu töten, nicht um zu verwunden —, oder wir sind jetzt schon verloren!« (Sie duzte mich!)

»So grausam können sie nicht sein.«

»Mein Gott, Adam! Gib mir das Schießeisen, ich flehe dich an.«

»Nein — wenn Blut fließt, dann soll es mein Gewissen belasten und nicht deins.«

»Gewissen!«, jammerte sie. »A quel genre d’idiot j’ai affaire? Wenn du mir nicht die Pistole gibst, bleibt nur noch das Fenster...«[41]

»Wir brauchen nicht in den Tod zu springen!«

»Wer hat was von Springen gesagt? Wir können höchstens abstürzen. Schnell, Adam, ich höre sie auf der Treppe … zieh die Stiefel aus!«

Ich gehorchte aufs Wort, denn sie schien einen Plan zu haben. Was mir daran nicht gefiel, war das Fenster. »Warum ziehe ich mir eigentlich die Stiefel aus?«

»Bloße Füße sind nicht so rutschig. Steck die Pistole weg, damit du freie Hände hast. Mir nach!«

Es war dunkel im Zimmer, und ich blieb so dicht wie möglich hinter ihr, stieß mir aber trotzdem den Zeh (vermutlich am Fass). Dann riss sie das Fenster auf und ließ einen Schwall Regen und einen Blitzschlag mit Donnergrollen herein. Das Unwetter, das sich über Tag angekündigt hatte, war jetzt über uns. Es rollte und grollte unaufhörlich, und der Sturm heulte unbarmherzig. Ungläubig sah ich zu, wie Calyxa ihren Oberkörper aus dem Fenster schob und sich wand und krumm machte, bis sie draußen stand, die Zehen um den schmalen Sims gekrallt. Dann packte sie die Traufe und zog sich nach oben.

Schließlich tauchte ihr hübsches Gesicht wieder auf, verkehrt herum oben im Fenster. »Los, Adam! Gib mir die Hand.«

Es war peinlich, sich in so einer Situation von einem Mädchen helfen zu lassen, aber es war noch peinlicher, von einem Blakebruder erschossen zu werden oder in den sicheren Tod zu stürzen; also packte ich ihre Hand, setzte meine bloßen Füße quer auf den triefnassen Fenstersims und versuchte, nicht an die Straße zu denken oder den Blitz, der sich am Himmel verzweigte und die Blitzableiter der zahllosen Kirchturmspitzen befingerte.

»Jetzt pack in die Rinne und zieh dich rauf!«

Ich war mir nicht sicher, ob ich das fertigbrachte — ich war überzeugt, dass ich es nicht fertigbrachte —, doch ein paar Atemzüge später lag ich neben Calyxa auf dem mit Mönchund-Nonnen-Ziegeln gedeckten Dach des Thirsty Boot. Wir lagen in einem waghalsigen Winkel und drohten ins Leere zu rutschen. Regenwasser spülte ungehemmt über uns hinweg. Aber wir waren für diesen Bruchteil eines Augenblicks in Sicherheit: Wenn man das Wort so strapazieren darf.

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40

Oder ein noch deftigeres Wort, das unter dem großzügigen Regime des Kulturellen Relativismus den Nagel zwar auf den Kopf trifft, hier aber trotzdem nicht gedruckt werden kann.

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41

Calyxa sprach, im Gegensatz zu mir, fließend Französisch und verfiel in den komischsten Augenblicken in diese Sprache. Für mich ist Französisch seit jeher ein Buch mit sieben Siegeln und wird es auch bleiben; aber ich habe mir große Mühe gegeben, Calyxas Worte exakt aufzuschreiben.