»Wir bringen das Geschütz nach Chicoutimi«, sagte Julian.
»Wozu?«
»Das hängt vom Stand des Gefechts ab. Führt die Trasse zufällig durch ein Gebiet, das von unseren Truppen gehalten wird, übergeben wir ihnen das Geschütz und lassen uns als Helden feiern. Andernfalls müssen wir das Ding zerstören, bevor es den Deutschen wieder in die Hände fällt.«
»Wie zerstören?«
»Indem wir eine Zündschnur an das Bombengehäuse legen und alles in die Luft jagen. Wir könnten auch den ganzen Zug in eine Art Bombe verwandeln — ihn in Brand stecken und mit Volldampf nach Chicoutimi schicken.«
»Das sind ja verlockende Aussichten.«
»Wir können da abspringen, wo wir unseren Linien am nächsten sind, und uns auf den Heimweg machen.« Julian lächelte. »Auf alle Fälle bleiben uns ein paar Stunden Fußmarsch erspart.«
Dieser bescheidene Hinweis gab den Ausschlag. Wir alle hatten das Laufen gründlich satt, und allein die Vorstellung, mit einem gekaperten Zug nur ein Stück weit voranzukommen, tat unseren Füßen schon gut.
Alle waren mit dem Plan einverstanden, stillschweigend zumindest, bis auf Major Lampret, der uns für geistesgestörte Meuterer hielt, weil wir ohne seine Zustimmung kämpfen wollten — und wenn wir es täten, würde das »Konsequenzen« haben, falls wir nicht allesamt an unserer eigenen Dämlichkeit zugrunde gingen. Doch Lamprets Glaubwürdigkeit war derart untergraben worden, dass es keine Überwindung kostete, ihn zu überhören.
Ich war für den Angriff. Als er gebilligt wurde, war ich lediglich enttäuscht, dass Lymon Pugh und ich für das Ablenkungsmanöver vorgesehen waren.
Ich fragte Sam, was er von mir und Lymon erwarte.
»Ihr wartet hier, bis wir in Position sind. Ich gebe euch ein Zeichen, dann legt ihr los.«
»Womit?«
»Macht irgendwelchen Krach — aber nichts Bedrohliches, nur damit sie hersehen. Es muss nichts Ausgefallenes sein — wir eröffnen sofort das Feuer.«
Die Deutschen begannen eben, ihre Maultiere anzuschirren, also mussten wir uns beeilen. Lymon und ich sahen zu, wie unsere Kameraden geduckt und mit schussbereiter Waffe zu besagtem Vorsprung ein paar hundert Meter östlich davonhuschten.
Lymon sagte: »Du fängst am besten an, Adam. Ich habe keine Ahnung, wie man deutsche Soldaten ablenkt, ohne auf sie zu schießen. Ruf doch was in ihrer Sprache.«
»Würde ich ja, aber die spreche ich nicht.«
»Du hast doch den Brief, den du Langers abgekauft hast. Ich habe gesehen, wie du ihn immer und immer wieder gelesen hast.«
»Ohne ein Wort zu verstehen. Und die Aussprache kann ich nur raten, weil ich ab und zu was von deutschen Gefangenen aufgeschnappt habe. Das kauft mir keiner ab.«
»Die müssen dir das nicht abkaufen — Sam will doch nur, dass sie zu uns rübersehen. Da! Sam winkt schon … ich glaube, die Zeit ist reif … los, Adam, nun ruf was!«
Ich war durcheinander, weil alles so schnell ging, und mir fiel nichts Besseres ein, als Lymon Pughs Vorschlag zu folgen.
Ich räusperte mich.
»Lauter!«, sagte Lymon. »Verschaff dir Gehör!«
Ich legte die Hände an den Mund und schrie: »Liefste Hannie!«
»Was heißt das?«, fragte Lymon.
»Weiß ich nicht!«
»Sie können dich nicht hören. War da nicht was mit Amerikanern, die nicht besser als Hunde sind?«
Ich überlegte fieberhaft. »Fikkie mis ik ook«, schrie ich so laut, dass ich meinte, die sperrigen Silben müssten kleine Widerhaken haben. »Liefste Hannie! Fikkie mis ik ook!«
Das war die Zauberformel. Einen zerbrechlichen Augenblick lang — für ein winziges Stückchen Zeit, das so wenig Bewegung zuließ, wie einer Fliege im Bernstein gestattet war — blickte jeder deutsche Soldat in meine Richtung, und alle trugen den gleichen Ausdruck im Gesicht: von Verwirrtheit, die an Verstörtheit grenzt.
Dann löste sich die erste Salve aus unseren Gewehren.
Zum Schluss hatten wir eine Lokomotive mit zwei Güterwagen und ein chinesisches Geschütz erbeutet, drei Gefangene gemacht und ein verstreutes Dutzend mitteleuropäische Soldaten getötet. Unsere Gefangenen, ein Artillerist und zwei Zivilisten — die beiden waren Ingenieure und zeigten sich nicht kooperativ — mussten an Händen und Füßen gefesselt werden.
Alles, was die Deutschen aus dem Zug geholt hatten, schafften wir wieder hinein. (Kein schweres Teil des chinesischen Geschützes war aus seiner Verankerung befreit worden.) Du liebe Zeit! Da hatten wir vielleicht einen Fang gemacht — nun mussten wir ihn nur noch in amerikanische Hände bringen. Zum Glück hatte sich ein Kamerad — ein langhaariger Mechaniker namens Penniman vom Lake Champlain — intensiv mit Eisenbahnen befasst und kannte sich so gut mit der Theorie von Dampfmaschinen aus, dass ihm die Steuerung trotz unverständlicher Beschriftung nicht weiter schwerfiel. Derweil er Druck in den Kesseln aufbaute, grasten wir die Umgebung nach deutschen Waffen und Munition ab. Dann kletterten Julian und ich zu Sam in den Führerstand der Lokomotive, während sich die anderen ein Plätzchen in den beiden schwer beladenen Güterwaggons suchten.[44]
Alles schien perfekt gelaufen und hätte ein vollkommener Triumph sein können, wenn sich nicht ein einziger deutscher Soldat »tot gestellt« und sein Gewehr unter seinem anscheinend leblosen Körper verborgen hätte. Gerade als Penniman die Bremse löste und sich der Zug in Bewegung setzte, schnappte der renitente Mitteleuropäer seine Waffe und feuerte auf uns. Kugeln pfiffen durch den Führerstand, und Penniman wurde leicht verletzt. Sam fluchte und riss sein Gewehr hoch. Er lehnte sich um den Tender herum und schoss dreimal. Ich steckte den Kopf lange genug nach draußen, um zu sehen, wie sich der deutsche Gewehrschütze in ein dichtes Gehölz aus kahlen Bäumen zurückzog.
Vermutlich wären wir ohne weiteren Zwischenfall weitergerollt, denn der Artillerist wäre uns wohl kaum gefolgt, wäre da nicht die Tür des letzten Waggons aufgerollt und hätte einen wild drauflosschießenden Major Lampret ins Freie gespuckt. »Zieh die Bremse!«, schrie Sam wütend, und Penniman bremste. Die Lokomotive blies Dampfwolken in die kalte Luft.
Zwischen mir und Lamprets Alleingang trieben Dunstschleier ihr Unwesen. Der Major hatte wohl seinen Mut beweisen wollen, den man in letzter Zeit ernstlich infrage gestellt hatte. Vielleicht hatte er sich gute Chancen ausgerechnet, auf diese Weise seinen Führungsanspruch zurückzuerobern: er allein gegen einen verzweifelten Mitteleuropäer. Oder seine Beweggründe waren aufrichtig und patriotisch, hier aber völlig fehl am Platze. Wie dem auch sei, seine Demonstration von Tapferkeit oder Dummheit nahm kein gutes Ende. Der deutsche Infanterist schoss zurück und zwar gezielt und nicht drauflos wie der amerikanische Angreifer. Der Major wurde getroffen und sackte zu Boden.
Und nun musste ich über Julian staunen, der aus dem Führerstand stürzte und zu Major Lampret rannte.
Sam war nicht minder erstaunt, riss aber geistesgegenwärtig sein Gewehr hoch und brüllte: »Schießt auf den Feind! Gebt ihm Deckung!« Andere Kameraden folgten seinem Beispiel, obwohl keiner von uns bereit war, sich so den feindlichen Kugeln auszusetzen wie Julian.
Ich schoss auch, war aber teilweise wie gelähmt, als ich Julian im Zickzack auf den Getroffenen zustürzen sah — den Mann, der ihm mit Gefängnis gedroht hatte. Als Julian den Major erreichte, zögerte er nicht, sondern packte Lampret unter den Achseln und begann ihn zum Zug zurückzuschleifen. Die feindlichen Kugeln schlugen rings um die beiden Fontänen gefrorener Erde aus dem Boden — jede kam ihrem Ziel ein bisschen näher. Dann hörte man aus dem dichten Gehölz den Aufschrei des Mitteleuropäers, sah ihn die Arme hochwerfen und vornüberfallen. Diesmal war sein Tod nicht vorgetäuscht.