Ich schrieb auch Calyxa Blake und gestand ihr meine Liebe und dass ich mich sehne, sie wiederzusehen. Sie schrieb zurück, aber ihre Briefe waren merkwürdig kurz, wenngleich nicht unfreundlich. Etwas daran machte mir Sorge, und ich schwor mir, Calyxa sofort nach meiner Genesung aufzusuchen.
Aber das würde noch dauern; und so machte ich mich an die Schilderung der Ereignisse des Winters — unsere Fahrt den Saguenay hinauf, die Belagerung von Chicoutimi, die Eroberung des Städtchens und wie wir das chinesische Geschütz erbeutet hatten. Ich gab mir Mühe, die Prinzipien zu beherzigen, die mir der Korrespondent Theodore Dornwood beigebracht hatte: Halte dich an die Wahrheit, aber dramatisiere, sobald sie dir Spielraum lässt. Ich arbeitete mehrere Tage daran, las das Geschriebene und schrieb es um, bis ich mit dem Ergebnis zufrieden war. Dann überlegte ich, wie ich die Seiten zu Mr. Dornwood bekam, sofern er noch irgendwo in der Nähe von Montreal war. Mr. Dornwood hatte meine vorletzten Anstrengungen gelobt, und ich war — wenn ich ehrlich bin — ein bisschen süchtig nach seinen Schmeicheleien geworden, die immerhin aus dem Mund eines Kriegsberichterstatters kamen.
Schließlich bot sich Lymon Pugh als Mittelsmann an.
Er war der Gesündeste von uns und kam am Tag seiner Entlassung auf mein Zimmer und setzte sich zu mir ans Bett. Wir plauderten über dies und das. Dann sah er, worin ich las, und wollte mehr darüber wissen.
Es war A History of Mankind in Space. Ich hatte das ramponierte und sehr alte Buch seit Williams Ford mit mir herumgetragen, die meiste Zeit am Boden des Tornisters. Es war nicht schwer — die sperrigen Buchdeckel waren schon vor Monaten abgefallen. Es war nur noch ein Bündel von Seiten, die ich mühsam mit Nadel und Faden zusammengeheftet hatte. »Ein altes Buch«, sagte ich zu Lymon.
»Wie alt?«
»Über hundert Jahre. Es ist aus den letzten Tagen der Säkularen Alten.«
Lymons Augen weiteten sich. »So alt! Haben die damals auf Englisch geschrieben, oder hatten sie eine eigene Sprache?«
»Es ist auf Englisch, obwohl — manche Wörter sind schon seltsam oder werden seltsam gebraucht. Da, schau mal rein.«
In jüngster Zeit hatte Lymon Interesse an Büchern gezeigt, denn er bekam jetzt so viele Wörter heraus, dass er Lust aufs Weiterlesen bekam — Bücher, die früher stumme Gegenstände gewesen waren, waren plötzlich voller Stimmen, die allesamt nach Aufmerksamkeit verlangten. Im Laufe des Unterrichts hatte ich Lymon Kapitel aus Against the Brazilians von Mr. Charles Curtis Easton vorgelesen, das ebenfalls in meinem Tornister überlebt hatte; sowie er von der Handlung gefesselt wurde, hatte ich ihm das Buch ausgeliehen — zum Weiterlesen, versteht sich.[45]
Doch A History of Mankind in Space schien ihn zu bedrücken, während er darin blätterte und sich die Fotografien besah. Seine Züge spiegelten Ratlosigkeit wider. »Hier scheint zu stehen, dass Menschen zum Mond geflogen sind«, kam es leise über seine Lippen.
»Genau das steht da.«
»Und das ist nicht bloß Fantasie?«
»Das Buch sagt Nein. Ich habe keine Ahnung, ob wirklich Leute auf dem Mond waren. Die Säkularen Alten haben es jedenfalls geglaubt, und Julian glaubt es auch.«
Die Welt stehe auf dem Kopf, meinte Lymon, wenn Mondbesuche als Wirklichkeit betrachtet und Mr. Eastons unverblümte Schilderungen von Kriegen und Piraten als simple Fabulierkunst abgetan würden (was nach Julian in manchen Kreisen der Fall war). »Das ist kein Dominion-Buch, richtig?«
»Nein. Als es gedruckt wurde, gab es noch kein Dominion.«
»Nicht so laut — du bringst uns noch in Schwierigkeiten.«
»Das sind Fakten, Lymon. Selbst das Dominion gibt zu, erst seit der Falschen Drangsal zu existieren. Davor waren alle Kirchen selbstständig und nicht organisiert; sie hatten nur wenig Einfluss auf die Regierung und auch sonst keine Möglichkeit, eine Christliche Welt unter der direkten Regierung des Himmelreichs zu verwirklichen.«
»Das will das Dominion erreichen?«
»Das ist das eigentliche Ziel — die Welt noch vor der Wiederkunft von Jesus Christus zu einigen.« Was Lymon hätte wissen müssen, wenn er nicht bei so vielen Wortgottesdiensten gepennt hätte.
»Ich kenn mich nicht so aus mit kirchlichen Dingen«, sagte Lymon und rieb sich mit der Linken über den rechten narbigen Unterarm. »Meinst du, wir sind jetzt so weit, wo Chicoutimi gefallen ist und das alles?«
»Da muss das Dominion noch ein bisschen mehr von der Welt erobern als Labrador, damit aller Streit ein Ende hat. Ich glaube kaum, dass wir beide noch die globale Herrschaft des Christentums erleben werden.«
Lymon nickte sichtlich erleichtert und meinte, er hätte nichts gegen eine Christliche Regierung — im Gegenteil, er wolle ja vom Himmel regiert werden —, er mache sich nur Sorge, der Himmel könne Typen wie Major Lampret als Mittelsmänner einsetzen.
Was denn aus dem schwer verletzten Major geworden sei, wollte ich wissen.
Er hätte sich erholt und auch die Cholera überstanden, sagte Lymon, sei aber zurück nach Colorado Springs. Seine Erlebnisse am Saguenay hätten ihn so aus der Bahn geworfen, dass er — nach Lamprets eigenen Worten — dringend Abstand brauche, um mit sich und der Welt ins Reine zu kommen.
»Da freut sich wenigstens Julian«, sagte ich. »Lymon, wo du jetzt entlassen wirst und ich noch ans Bett gefesselt bin, kannst du mir da einen Gefallen tun?«
»Ja sicher — worum geht es?«
»Ich habe zwei dringende Sachen für zwei Leute in Montreal.« Ich klaubte sie unter dem Bett hervor. »Das hier ist ein Brief, den du bitte persönlich an Calyxa Blake übergibst. Die Adresse steht auf dem Umschlag — kannst du sie entziffern?«
»Glaub schon.«
»Dieses Bündel Papier ist für Mr. Theodore Dornwood, falls er noch in der Nähe ist und du ihn findest.«
»Dornwood, ist das dieser Zeitungsschreiber? Das könnte schwierig werden. Als wir stromauf sind, soll er das Regiment verlassen haben; jetzt soll er in einer billigen Mietwohnung sitzen und zwischen Besäufnissen und Ausschweifungen lauter Lügenmärchen nach Manhattan schicken. Wenn du willst, versuche ich ihn ausfindig zu machen, für dich immer, Adam.«
Der Leser kann sich vielleicht vorstellen, wie ungeduldig und bange ich auf Lymons Rückkehr wartete, denn was ich ihm anvertraut hatte, lag mir sehr am Herzen — der Brief und auch das Manuskript. Letzteres enthielt alles, was ich über den Saguenay-Feldzug geschrieben hatte. Der Brief war von noch größerer Tragweite, denn darin erklärte ich Calyxa meine Absicht, ihr einen Heiratsantrag zu machen, wenn sie die Zeit fände, mich im Soldiers’ Rest zu besuchen.
Doch Lymon kehrte an diesem Nachmittag nicht zurück und auch nicht am Abend. Wir lagen zu dritt auf dem Zimmer, und um mein wachsendes Unbehagen zu zerstreuen, fing ich an, mit den beiden anderen Patienten zu plaudern. Der eine war ein Pächterjunge wie ich, aber von einem südlichen Landgut, wo er schlimm hatte schuften müssen in der tropischen Hitze. Er war nördlich von Quebec verwundet worden, und der ganze rechte Arm, obwohl äußerlich unversehrt, war nur mehr ein nutzloses Anhängsel. Der andere Kamerad war ein Kavallerist mit üppigem Schnauzbart und kahl rasiertem Schädel, der partout nicht damit herausrücken wollte, wie er sich die Verletzung zugezogen hatte, derentwegen sein Bauch bandagiert war. Keiner von beiden war besonders gesprächig, weil beide unter Schmerzen litten; aber der Kavallerist besaß eine Schachtel mit Dominosteinen, und wir spielten ein, zwei Stunden lang um enorme Vermögenswerte. Danach fragte ich die Krankenschwester, ob es im Hospital noch irgendwelchen Lesestoff gebe, denn ich konnte A History of Mankind in Space und Against the Brazilians fast auswendig. »Ich glaube, da müsste etwas sein«, meinte sie. Doch alles, was sie auftreiben konnte, war ein schmales Bändchen mit Geschichten von Mrs. Eckerson. Mrs. Eckerson war eine klassische Autorin des 19. Jahrhunderts, durchaus auf der Höhe des Zeitgeschmacks und von der Dominion-Druckerei vor dem Vergessen bewahrt; nur dass sie hauptsächlich für junge Mädchen schrieb und das Buch Erinnerungen an meine Schwester Flaxie weckte. Auf jeden Fall las ich, bis mir die Augen zufielen; und meine Nachttischlampe war die einzige, die noch brannte, bevor ich sie ausblies.
45
Lymon, obgleich er noch keine Leseerfahrung hatte, schloss sich meiner Meinung an, dass Mr. Easton wahrscheinlich der größte lebende Autor sei. Er könne sich keinen besseren vorstellen, unter keinen Umständen. Es sei ein Wunder, dass überhaupt jemand Bücher schreibe, meinte Lymon, selbst weniger gute; und er sei beeindruckt von Mr. Eastons Wissen über das Ausland, die historischen Schlachten, die Piraten und vieles andere.