Nur Job erfüllte noch seinen Zweck. Im Tode sah er viel kleiner aus. Das Gesicht war purpurrot angelaufen und bot keinen erfreulichen Anblick, auch wenn ich inzwischen weit Unerfreulicheres gesehen hatte. Eben war ein kalter Wind aufgekommen und ließ die Fahnen an den Gebäuden flattern und den Galgen knarren, an dem Jobs Leiche pendelte. Schwere Wolken jagten über den späten Himmel, und der Ort hatte etwas Unerbittliches und Unheilvolles.
Was Calyxa nicht davon abhielt, aus der Hochzeitskutsche zu springen und sich nach einem Dutzend weit ausholender Schritte vor dem zerzausten und übel riechenden Körper ihres Bruders aufzubauen. Die Füße in den dunklen, löchrigen Wollsocken pendelten in Höhe ihrer Schultern.
Ich ließ sie lange Minuten allein auf diesem staubigen, windigen Platz stehen und über die Vergänglichkeit des Lebens und aller irdischen Dinge sinnieren. Dann ging ich zu ihr und legte tröstend den Arm um ihre Taille.
»So schrecklich die beiden waren«, sagte ich, »das muss schwer zu ertragen sein.«
»Nicht sehr schwer«, sagte sie leise.
»Dann verabschiede dich, Calyxa — der Zug wartet nicht.«
Ich war gerührt von der dunklen Anmutung in ihrem Gesicht, die von einer Seele zeugte, die längst nicht so rau war, wie sie sich den Anschein gab; und ich war noch gerührter, als Calyxa in christlicher Nächstenliebe ein kurzes Gebet für die Seele des armen, toten Job sprach.[49]
Dann kletterten wir wieder in die Kutsche und setzten unseren Weg zum Bahnhof fort. Die Atmosphäre war ein bisschen abgekühlt, und das Turteln hatte vorerst ein Ende. Stattdessen versuchte Calyxa mit uns ins Gespräch zu kommen.
Sie kannte Sam und Julian bis jetzt nur flüchtig. Eigentlich kannte sie die beiden überhaupt nicht; denn trotz der Vertraulichkeiten, die wir teilten, hatte ich ihr verschwiegen, dass Julian in Wahrheit der Neffe des amtierenden Präsidenten war und Sam der beste Freund von Julians ermordetem Vater gewesen war. Ich hatte Sam und Julian hoch und heilig versprochen, all das für mich zu behalten, und ich hatte mein Wort gehalten.
Andere Sachen über meine Freunde und meine Abenteuer mit ihnen hatte ich ihr allerdings erzählt. Sie sah Julian freimütig an und sagte: »Und du erzählst gerne biblische Geschichten.«
Julian fühlte sich nicht wohl in seiner Haut — wie so oft in Gegenwart von Frauen — und schien um eine Antwort verlegen. Er schluckte mehrmals, sein Adamsapfel tanzte auf und ab. »Ähm … na ja — tu ich das?«
»Laut Adam, ja. Biblische Geschichten, die du dir ausdenkst, die meisten blasphemisch.«
»Adam übertreibt gerne.«
»Erzähl mir eine«, sagte Calyxa, während die Kutsche eine düstere, zugige Straße hinunterrasselte und ein feiner Regen einsetzte. Calyxas Blick rutschte zum Kutschfenster. »Erzähl mir eine Ostergeschichte, wenn du kannst.«
Die Unterhaltung nahm einen Verlauf, der mir nicht behagte. Für Ahnungslose waren Julians Ketzereien oft schockierend, und mir wäre es viel lieber gewesen, Calyxa hätte die Chance gehabt, ihn besser kennenzulernen, bevor er die Kanone seines Agnostizismus aus nächster Nähe auf sie richten konnte. Aber Julian liebte die Herausforderung; und ihm gefiel wohl auch, wie keck und offen sie ihn anging.
Er räusperte sich. »Dann wollen wir mal sehen.« Die Laterne an der Kutschdecke schlingerte in ihrer kardanischen Aufhängung. Regen trommelte aufs Kutschdach, und Julians Atem hing sichtbar in der kalten Luft. »Und Gott erschuf die Welt …«
»Die fängt aber früh an«, meinte Calyxa.
»Vielleicht; willst du die Geschichte nun hören oder nicht?«
»Pardon, Sir. Fahren Sie fort.«
»Am Anfang erschuf Gott die Erde«, sagte Julian, »und versetzte sie in Drehung und ließ die Ereignisse sich ereignen, ohne sich besonders darum zu kümmern. Er inszenierte ein paar Zwistigkeiten zwischen den Menschen und arrangierte eine völlig unangemessene Flut, die viele Menschenleben kostete und nur wenige Probleme löste; doch am Ende entschied er, die Menschheit sei zu korrupt, um gerettet zu werden, und zu erbärmlich, um sie auszulöschen, und da hörte er auf, an ihr herumzupfuschen, und ließ sie in Ruhe.
Aber die Menschheit war sich im Großen und Ganzen ihres Sündenfalls bewusst und fuhr fort, Gott um unverdiente Gaben oder die Abschaffung von Missständen zu bitten. Das ganze Gewinsel war, wie Gott es sah, ein einziges Klagelied über die verlorene Unschuld — das verlorene Paradies, den Garten Eden. ›Gib uns die Unschuld zurück‹, schrie die Menschheit, ›oder schicke uns die Unschuld persönlich, damit sie uns als Beispiel diene.‹
Gott war skeptisch. ›Ihr würdet die Unschuld nicht einmal erkennen, wenn sie euch eine Visitenkarte unter die Nase hält‹, sagte er zur Menschheit, ›und Güte übersteigt euer Begriffsvermögen mit der Präzision eines Uhrwerks. Seht zu, wo ihr findet, wonach ihr sucht, und lasst mich in Frieden.‹
Aber die Gebete nahmen kein Ende, und Gott konnte all das Leid und all das Klagen nicht ewig ignorieren, das wie Ebbe und Flut an den Festen des Himmels nagte. ›Also gut‹, sagte er schließlich, ›ich habe euren Jammer vernommen, und ihr sollt bekommen, wonach euch verlangt.‹ Also zeugte er mit einer Jungfrau ein Kind — sie war in Wirklichkeit eine verheiratete Jungfrau, denn Gott hatte Spaß an Wundern, und dass eine Frau gleichzeitig Ehefrau, Jungfrau und Mutter war, schien ein Wunder zu sein, das eine besonders hohe Rendite versprach. Und so wurde zu gegebener Zeit ein Kind geboren — unschuldig, ohne Erbsünde, gefeit gegen Versuchung und gutherzig bis ins Mark. ›Macht mit ihm, was ihr wollt‹, sagte Gott grimmig, verschränkte die Arme und wartete.«
(Ich versuchte herauszufinden, wie diese Gotteslästerungen bei Calyxa ankamen. Ihr Gesicht zeigte keine Regung, aber ihre Augen verrieten, dass sie der Geschichte aufmerksam und unerschrocken folgte. Es regnete Bindfäden, und die Geräusche der vorbeifahrenden Gespanne drangen gedämpft ins Innere.)
»Es verging etwa ein Vierteljahrhundert«, fuhr Julian fort. »Und schließlich schickten wir dieses Gotteskind zu seinem Erzeuger zurück — verhöhnt, beleidigt, gegeißelt, erniedrigt und an ein splittriges Kreuz genagelt und der galiläischen Sonne ausgesetzt, bis es seinen körperlichen und seelischen Wunden erlegen war.
Gott bekam sein mehrfach misshandeltes Geschenk sozusagen postwendend vor das Himmelstor gelegt und wandte sich mit abgrundtiefer Verachtung an die Menschheit: ›Seht nur, wie ihr mit der Unschuld verfahrt! Seht nur, was ihr aus Liebe und Wohlwollen macht, wenn sie euch in die Augen blicken!‹ Und indem er das sagte, kehrte er der Menschheit den Rücken und nahm sich vor, nie wieder zur menschlichen Rasse zu sprechen oder sonst wie mit ihr zu verkehren.
Und selbst das hätte eine nützliche Lektion sein können, wenn die Menschen sie als solche begriffen hätten; aber sie verkannten die Strafe und bildeten sich ein, Gott habe ihnen ihre Sünden vergeben, und hängten überall Bildnisse des gemarterten Halbgottes und des Instrumentes auf, an dem er zerbrochen war, und begingen dieses Ereignis jedes Jahr zu Ostern mit einem Gottesdienst und einem farbenprächtigen Hut. Und so wie Gott sich taub gegen den Menschen stellte, wurde der Mensch taub gegen Gott; und seither siechen unsere Gebete in der abgestandenen Luft unserer hallenden Kirchen dahin.«
In der Kutsche herrschte Schweigen nach dieser grausamen und unverhohlen blasphemischen Erzählung. Sam seufzte und starrte in den Regen hinaus. Die Kutsche knarrte, wenn sie über nasses Kopfsteinpflaster federte, ein Geräusch, das mich an den Galgen erinnerte, an dem Job Blake pendelte. Julian blickte Calyxa dreist, aber auch ein bisschen ängstlich an, als sie nach einer Antwort suchte.