Die Abenddämmerung verlieh Edenvale etwas Melancholisches. Ob es jemals ein Paradies gewesen war oder nicht, jetzt hatte es mehr von einem Eden nach dem Sündenfalclass="underline" verwaist, nicht ganz vielleicht. Ich fragte mich schon, ob Julian mit seinem Lottermaul womöglich die Toten aufgescheucht hatte; und ich malte mir unsere entrüsteten Vorfahren aus, wie sie aus ihren wurmigen Souterrains stiegen, aufgeladen mit Elektrizität und Atheismus. Obwohl die Vorstellung absurd war, war ich heilfroh, als wir das Duster des Waldes hinter uns ließen und den weitläufigen Rasen des Landsitzes betraten. Lampenlicht so weich wie Butter sickerte aus den Fenstern, ein einladender Anblick.
Hinzu kam gedämpfte und beruhigende Musik. Leise betraten wir die hintere Eingangshalle und folgten ebenso leise den Klängen zum Salon, wo Mrs. Comstock am Klavier saß und die vertrauten Akkorde von Where the Sauquoit Meets the Mohawk hämmerte. Sam starrte sie voller Bewunderung an (so schien es mir jedenfalls), und Calyxa stand mit schimmerndem Lockenkopf und gefalteten Händen da und sang:
So unbestreitbar sentimental das Lied war — es war in Mrs. Comstocks Jugend populär gewesen —, seine Stärke war die Melodie, die eine Molltonleiter rauf- und runterkletterte, als nehme sie sich ein Beispiel am Auf und Ab von Zuversicht und Resignation, von Heiterkeit und Schwermut. Calyxa schien das so zu empfinden und verlieh ihrer Stimme den entsprechenden Ausdruck, so dass das Lied eine herzzerreißende Klage wurde, süß wie eine Sommerliebe, die in herbstlicher Dämmerung noch einmal reiflich überdacht wurde. Ich musste unwillkürlich an den Sündenfall von Edenvale denken und an all die Verluste, die Mrs. Comstock seit dem Tod ihres Mannes erlitten hatte, und an die Gefahr, in der ihr Sohn schwebte.
Calyxa sang das Lied zu Ende. Mrs. Comstock hämmerte die letzten Akkorde des letzten Refrains herunter und rückte vom Klavier ab, erschöpft … doch Calyxa sang zur allgemeinen Verwunderung noch zwei weitere Strophen ohne Begleitung. Ihre schöne, reine Stimme dehnte sich auch in den letzten Winkel der düsteren Stille hinein:
Als die letzte Silbe verklungen war, blieb es ein paar Atemzüge lang still im Salon. Mrs. Comstock, offensichtlich gerührt, wischte sich die Tränen aus den Augen. Als sie ihre Gefühle wieder unter Kontrolle hatte, bedachte sie Calyxa mit einem neugierigen Blick.
»Diese Verse stehen nicht im Notenheft«, sagte sie.
Calyxa nickte und schien verlegen. »Nein, tut mir leid — ich habe sie hinzugefügt — ganz impulsiv.«
»Die Verse sind von Ihnen?«
»Ein kleiner Kunstgriff, den ich beim Singen in Gasthäusern gelernt habe. Reime dir eine neue Strophe zusammen und überrasche die Menschen.«
»Sie haben sich die Verse vorher ausgedacht oder eben erst?«
»Aus dem Stegreif«, gab Calyxa zu.
»Was für ein bemerkenswertes Talent! Sie gefallen mir immer besser, meine Liebe.«
»Ganz meinerseits, Mrs. Comstock«, sagte Calyxa. Ein Hauch von Röte überzog ihr Gesicht — das erlebte man selten bei ihr.
Dann räusperte sich Mrs. Comstock. »Auf alle Fälle sind die Männer aus dem Gröbsten heraus. Julian, Adam, setzt euch zu uns. Wir haben Nachricht aus dem Regierungspalast, und ich habe euch etwas mitzuteilen.«
Julian erbleichte, soweit sein von Natur aus blasser Teint das noch zuließ. Wir setzten uns.
»Was denn?«, fragte Julian. »Vollstreckung oder Aufschub?«
Mrs. Comstock war ernst, schien aber nicht sonderlich beunruhigt. »Vielleicht von beidem etwas. Wir sind eingeladen zu den Feierlichkeiten am Unabhängigkeitstag. Deklan behauptet, er wolle den Heldenmut von ›Captain Commongold‹ ehren, zumal sich herausgestellt habe, dass der Captain sein Neffe sei.«
»Sieh an, mein Bekanntheitsgrad schützt mich also«, sagte Julian spöttisch. »Jedenfalls bis zum Vierten Juli.«
»Ich glaube nicht, dass du vorher etwas zu befürchten hast, und am Höhepunkt der Feierlichkeiten kann er dich schlecht niedermetzeln lassen, nicht auf dem Gelände des Regierungspalastes. In der Zwischenzeit solltest du eine Stellungnahme an die Presse geben, in der du dich zum Erbgut deines Vaters bekennst und deine Heldentaten auf die Blutlinie der Comstocks zurückführst.«
»Ich soll vor diesem Mörder zu Kreuze kriechen? Und das Grab meines Vaters entehren, indem ich es aufsuche?«
Mrs. Comstock zuckte zusammen. Sam sagte schroff: »Das sind Maßnahmen, die dein Leben schützen sollen, Julian.«
»Was immer es wert ist.«
»Es ist mir eine ganze Menge wert«, sagte Mrs. Comstock scharf. »Ich bin nicht ganz unbeteiligt, Julian.«
Julian nahm den Tadel seiner Mutter an, und seine Miene entspannte sich. »Also gut. Der Unabhängigkeitstag ist nicht morgen und auch nicht übermorgen. Sollte ich ihn erleben, dann will ich bis dahin als freier Mensch und nicht als Flüchtling gelebt haben.«
»Was willst du damit sagen?«
»Dass ich morgen nach Manhattan zurückkehre.«
Unsere nervöse Idylle war zu Ende.
Der nächste Morgen fand uns an Bord der Sylvania. Über Nacht war ein Sturm aufgekommen, und an Deck war es kühl und regnerisch. Ich hielt mich eine Zeit lang im Ruderhaus auf, um zumindest eine Ahnung von Theorie und Technik der Dampfschifffahrt zu bekommen. Dann stieg ich in die wärmere Kabine hinunter, wo Julian saß; er hatte ein Buch auf dem Schoß.
»Mich beschäftigt die Zukunft.«
»Ob wir eine haben oder nicht?«
»Mach keine Witze, Julian. Ich kenne die Gefahren, die auf uns lauern. Aber ich bin ein verheirateter Mann — ich habe Verpflichtungen, und ich kann nicht einfach in den Tag hineinleben. Calyxa und ich können dir nicht ständig auf der Tasche liegen. In Manhattan werde ich mir einen Job suchen — alles, was nichts mit Fleischverpackung zu tun hat[54] —, und dann werde ich für Calyxa und mich eine Wohnung auftreiben.«
»Deine Motive in Ehren, Adam. Aber findest du nicht, wir könnten damit bis zum Unabhängigkeitstag warten? Bis dahin könnt ihr allemal bei uns wohnen. Ihr fallt uns nicht zur Last, ehrlich nicht.«
»Lieb von euch, Julian, aber warum warten? Ich könnte eine Chance verpassen.«
»Oder etwas unterschreiben, was du nachher bereust. Adam … vielleicht hat meine Mutter sich nicht deutlich genug ausgedrückt. Als sie sagte, Deklan Comstock hätte uns in den Regierungspalast eingeladen, da wart ihr auch gemeint.«
»Was?« Ich bekam weiche Knie.
»Du und Calyxa.«
Ich war entsetzt. »Wie ist das möglich? Was will der Präsident mit uns? Woher weiß er überhaupt von uns?«
»Der Präsident hat Leute, die Bedienstete bestechen oder bedrohen. Für die sind alle Wände durchsichtig. In der Einladung standen ausdrücklich eure Namen.«
53
Obwohl die Jahre verflogen sind, seit wir geheiratet haben, da wo der Sauquoit auf den Mohawk trifft, sind die Felder immer noch grün, da wo der Sauquoit auf den Mohawk trifft … Hier hast du mich im zarten Alter geküsst, zwei Herzen schlugen wie eines; doch aus Liebenden werden Leidende, und wie die Zeit, so verfliegt auch die Liebe. Aber wenn dein Herz von meinem scheiden muss, da wo der Sauquoit den Mohawk trifft, wird die endlose See die Erinnerungen der beiden Flüsse bewahren.