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»Julian, ich bin nur ein Pächterjunge — ich habe keine Ahnung, wie man sich in Gegenwart eines Präsidenten benimmt, schon gar nicht, wenn dieser Präsident über Leichen geht!«

»Dir trachtet er bestimmt nicht nach dem Leben. Er muss spitzgekriegt haben, dass du der Chronist meiner sogenannten Abenteuer bist, und will dich einfach mal sehen. Und was dein Benehmen angeht …« Er zuckte die Achseln. »Sei du selbst. Du hast nichts zu gewinnen, wenn du deine Herkunft verleugnest, und nichts zu verlieren, wenn du dazu stehst. Und wenn der Präsident sich über mich lustig macht, weil ich mich mit Pächterjungen und Tavernensängerinnen einlasse, dann soll er doch.«

Das waren keine erfreulichen Aussichten; doch ich biss mir auf die Lippe und hielt mich bedeckt.

»Mittlerweile«, sagte Julian, »stehe ich in deiner Schuld.«

»Wie kommst du denn darauf?«

»Aber ja. In Williams Ford hast du dich um mich gekümmert, hast mir alles gezeigt, was du über das Landgut wusstest und wo man welche Tiere jagen konnte.«

»Und du hast mir Edenvale gezeigt.«

»Edenvale ist nichts. Manhattan, Adam! Meine Stadt heißt Manhattan, und ich will dich über die Gefahren und Freuden dieser Stadt aufklären, bevor du eine Arbeit annimmst und dich niederlässt.«

Mag sein, dass es ein Ablenkungsmanöver war, aber unser Leben schien inzwischen so gefährlich zu sein, dass ich nur allzu gerne darauf einging. »Vielleicht kann ich von euch noch was lernen, bevor ich mich in die Aristokratie des Präsidentenpalasts stürze.«

»Goldrichtig. Und die erste Lektion lautet: Benutze niemals die Wörter ›Aristokrat‹, ›Aristokratie‹ und ›aristokratisch‹. Wir nennen uns ›eupatridische Gesellschaft‹.«

Eine Bezeichnung, die lang genug war, um daran zu ersticken, dachte ich; aber ich hielt mich daran, und bald hatte ich den Zungenschlag heraus.

3

Der in der jüngeren Geschichte unbewanderte Leser möchte sicher wissen, ob Julian und ich nun am Unabhängigkeitstag umgebracht wurden oder nicht. Nicht dass ich die Antwort auf diese wichtige Frage hinauszögern will, doch die Ereignisse am Vierten Juli lassen sich besser verstehen, wenn ich zuvor das eine oder andere schildere, was vor diesem Tag passiert ist.

Es war eine angespannte Zeit für Calyxa und mich, obwohl wir Jungvermählte waren und als solche zur Unsterblichkeit berufen schienen. Präsident Comstock sei wohl kaum an uns interessiert, meinte Calyxa, und außerdem seien wir in diesen aristokratischen Gemächern nicht eingesperrt. Wir könnten jederzeit unsere Sachen packen und nach Boston oder Buffalo reisen, um dort ein anonymes Leben zu führen, außer Reichweite irgendeines übergeschnappten Oberbefehlshabers der amerikanischen Streitkräfte. Ich würde unter einem Pseudonym Bücher schreiben, und Calyxa würde in angesehenen Lokalen singen. Wir gingen so weit, dass wir uns nach den Fahrplänen und Preisen der Zugtickets erkundigten. Nur dass mir die Aussicht, Julian seinem Schicksal zu überlassen, überhaupt nicht gefiel.

»Es ist Julians Schicksal«, sagte Calyxa, »und er braucht es nur abzuschütteln. Er ist einmal weggelaufen — warum nicht wieder? Sag ihm, er soll mitkommen.«

Doch als ich Julian diesen Vorschlag machte, schüttelte er den Kopf. »Nein, Adam. Das wäre sinnlos. Die Flucht von Williams Ford grenzt an ein Wunder. Hier werde ich viel gründlicher überwacht.«

»Von wem? Wo denn? Ich sehe keinen. New York City kommt mir wie ein großes Labyrinth vor, in dem man sich verirren kann.«

»Mein Onkel hat seine Augen überall. Ich könnte keinen Koffer packen, ohne dass er es erfährt. Das Haus wird beobachtet, auch wenn du niemanden siehst. Wenn ich spazieren gehe, folgen mir weit hinten die Leute des Präsidenten. Wenn ich mich irgendwo am Broadway betrinke, landet es schwarz auf weiß auf seinem Schreibtisch.«

»Gilt das auch für Calyxa und mich?«

»Bestimmt, nur dass man die Überwachung etwas lockerer sieht.« Er sah nach rechts und links, um sicherzugehen, dass niemand mithörte. »Wenn ihr fliehen wollt, dann seid ihr gut beraten, es auch zu tun. Ich werde euch nicht aufhalten, und ich werde euch keine Vorwürfe machen. Aber es muss eine perfekte Flucht sein, sonst greifen euch die Leute des Präsidenten auf, und ich muss es ausbaden. Um ehrlich zu sein, bei der geringen Bedeutung, die Deklan euch beimisst, seid ihr hier besser aufgehoben als sonst wo. Ihr müsst natürlich wissen, was ihr tut.« Er fügte hinzu: »Es tut mir leid, dass ich euch da mit reinziehe, Adam. Ich habe das nicht gewollt, und ich werde alles tun, um euch zu helfen.«

Also studierten Calyxa und ich weiterhin Fahrpläne und schmiedeten Fluchtpläne, während wir in dem Haus mit der rotbraunen Sandsteinfassade wohnen blieben und die Tage und Wochen ungenutzt verstreichen ließen. Mrs. Comstock setzte ihre karitative Arbeit fort und veranstaltete gelegentlich Zusammenkünfte der hiesigen Künstlerzirkel, Ereignisse, die Julian sichtlich genoss. Sam war zu dieser Zeit oft abwesend und kontaktierte die höheren Ränge des Militärs — denn er war nicht mehr »Sam Samson«, sondern wieder Sam Godwin, der Veteran des Isthmischen Krieges; und ich stellte mir lebhaft vor, wie er auf eigene Faust Informationen über die eigentlichen Absichten des Präsidenten sammelte.

Ich dagegen konnte mich kaum nützlich machen, verbrachte aber viele schöne Stunden mit Calyxa, in denen wir das Leben zu zweit erprobten. Calyxa neigte auf ihre Weise genauso zum Philosophieren wie Julian und diskutierte am liebsten über die Mängel und Unzulänglichkeiten des aristokratischen Systems, das sie rundweg ablehnte. Hatten wir das Parlieren leid, machten wir die City unsicher. Calyxa liebte es, die Läden und Restaurants am Broadway und an der Fifth Avenue zu erforschen; und eines schönen Tages wagten wir uns bis an die mächtigen Mauern des Regierungssitzes.[55] Sie waren unsäglich hoch und dick und aus den Trümmern der Stadt erbaut. Ringsherum lief ein tiefer Graben. Das riesige Broadway Gate an der 59sten Straße mit seinem Wachhaus aus Stein und Stahl war ein Bauwerk, das fast so imposant und zweimal so monolithisch war wie die Kathedrale in Montreal, in der ich Calyxa entdeckt hatte (meine Calyxa im Chorhemd). Ich konnte mir nicht vorstellen, was hinter diesen Festungsmauern lag (obwohl ich es herausfinden sollte).

Der Juni war ungewöhnlich schön und sonnig, und wir unternahmen solche Ausflüge häufiger. Damit es nicht eintönig wurde, nahmen wir jedes Mal eine andere Route; und als wir auf dem Weg über die Hudson Street vom Broadway zurückkehrten, kamen wir an einem Buchladen vorbei. Das Sonnenlicht fiel schräg durchs Fensterglas und beschien den illustrierten Deckel eines mir unbekannten Buches von Mr. Charles Curtis Easton, es hieß American Sailors Afloat.

Überflüssig zu sagen, dass ich schleunigst hineinging.

Ich war noch nie in einem Buchladen gewesen. Alle Bücher, die ich gelesen hatte, hatte ich mir aus der Bibliothek des Landsitzes in Williams Ford geliehen oder (wie zum Beispiel A History of Mankind in Space) aus einer modrigen Halde gezogen. Selbstverständlich hatte ich gewusst, dass es solche Läden gab und eine stattliche Anzahl davon in Manhattan, aber einen aufzusuchen hatte ich mich bisher nicht getraut. Vermutlich hatte ich mir vorgestellt, ein Buchladen sei eine ehrfurchtgebietende Stätte, so ätherisch und von Marmorsäulen getragen wie ein griechischer Tempel. Dieser Laden hatte nichts Sakrales. Grogan’s Books Music and Cheap Publications war nicht eindrucksvoller als der Schuhladen zur Linken oder der Impfladen zur Rechten.

Selbst die Luft im Laden roch einladend, ein Parfüm aus Papier und Druckerschwärze. Viele und lauter verschiedene Bücher standen zum Verkauf, ich kannte bestimmt kein einziges; doch ich fand instinktiv zu der Abteilung, wo Mr. Eastons Romane ausgestellt waren — eine Überfülle, frisch und leuchtend in ihren farbenfrohen Buchdeckeln mit Prägedruck.

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55

Das Gelände des Regierungssitzes ist nach Julians Darstellung früher einmal ein großer öffentlicher Park gewesen; das hatte sich geändert, als der Sitz der Bundesregierung von Washington D.C. nach Norden verlegt wurde.