»Ich weiß, was du jetzt denkst, Adam — die Barriere ist unüberwindlich.«
Es war nicht das, was ich gedacht hatte, aber es stimmte.
»Wie dem auch sei«, sagte Sam, »einen Teil meiner Gefühle habe ich Emily anvertraut, und Emily hat angedeutet, diese Gefühle bis zu einem gewissen Grade zu erwidern.«
»Sie wollte zum Beispiel, dass du dir den Bart wieder stehen lässt«, bemerkte ich.
»Bärte tun nichts zur Sache. Das ist ernst. Als Bryce Comstock noch lebte, habe ich meine Zuneigung für mich behalten, und Emily war die aufopfernde Gattin eines tapferen Soldaten — ein Mann, vor dem ich grenzenlosen Respekt hatte und mit dem mich eine unverbrüchliche Freundschaft verband. Doch Bryce ist seit mehreren Jahren nicht mehr unter uns, und Emily ist Witwe — hinzu kommt, dass sie gesellschaftlich in der Versenkung verschwindet. Vielleicht mache ich ihr eines Tages einen Antrag. Aber erst muss die Politik in ruhigeres Fahrwasser kommen — und es darf auf keinen Fall herauskommen, dass ich ein Jude bin.« Das Dominion hatte solche Ehen für unnatürlich erklärt und folglich verboten.
»Dann würdest du Julians Stiefvater«, sagte ich.
»Was sonst bin ich gewesen, seit er klein war? Ich war ihm wie ein zweiter Vater — obwohl ich fürchte, dass er mehr den Diener in mir sieht.«
»Er mag dich mehr, als er sagen kann. Er hört auf dich.«
»Ich leugne ja nicht, dass er mich wertschätzt — aber er schätzt mich so, wie man einen wertvollen Diener schätzt.«
»Viel mehr, Sam!«
»Na ja, vielleicht«, sagte Sam. »Die Lage ist undurchsichtig.«
Heute war der 3. Juli, morgen waren wir eingeladen — in den Regierungspalast.
Unabhängigkeitstag! Was für schöne Erinnerungen an Williams Ford dieses Datum hervorrief — trotz aller Unsicherheiten und Ängste, die mich zurzeit heimsuchten!
Der Vierte Juli war immer der heiterste der vier Universellen Christlichen Feiertage gewesen, der wichtigste nach Weihnachten in meiner kindlichen Welt. Er war zweifellos ein zutiefst sakrales Fest, wie die unzähligen Gottesdienste und Gedenkstunden in der Dominion-Halle zeigten. Ben Kreel hatte viele öffentliche Vorträge gehalten über die Christliche Nation, in der wir lebten, und über die wertvolle Rolle, die das Dominion im Leben eines jeden Einzelnen von uns spiele, und über andere ebenso wichtige Belange. Doch der Unabhängigkeitstag war auch der eigentliche Sommeranfang — der Anfang des gereiften Sommers, Juli und August schwängerten die Welt mit Düften und Insekten. Die Bäche, die den River Pine speisten, waren noch kalt, luden aber zum Schwimmen ein; Eichhörnchen bettelten, ihnen aufzulauern und sie zu erlegen; Hausierer kamen von Connaught herauf und verkauften Feuerwerkskörper. Das Beste war, am Unabhängigkeitstag zog es die Aristokraten aus ihrem Landsitz zu Picknick und Musik nach draußen, so dass sich meine Mutter in ihrer Rolle als Näherin in die Bibliothek stehlen konnte, um ein oder zwei Bücher für mich zu stibitzen. (Die Bücher wurden für gewöhnlich, aber nicht immer, in gutem Zustand zurückgestellt.)
Die Erinnerungen veranlassten mich, einen Brief an meine Mutter zu schreiben. Weil Julians richtiger Name in aller Munde war, konnte ich endlich offen zu ihr sein; ich hatte ihr schon mehrere kurze Nachrichten geschrieben, aber noch keine Antwort bekommen. Ich saß am Fenster des Zimmers, das ich mir mit Calyxa teilte; hier stand ein kleiner Schreibtisch, und ich nahm ein Blatt Papier aus der obersten Schublade und schrieb:
Liebe Mutter, falls Du meinen letzten Brief bekommen hast, dann weißt Du ja, dass ich das Jahr in Labrador überlebt habe — dass ich mich nicht blamiert habe auf dem Schlachtfeld — dass ich eine gute Frau geheiratet habe und das Dominion uns getraut hat — und dass Deine Schwiegertochter Calyxa Hazzard heißt (früher Blake) und aus Montreal stammt. Wenn das keine Neuigkeiten sind! Ich habe bis jetzt noch keine Antwort bekommen, hoffe aber, dass Du bald mal schreibst und mir Deine und Vaters Gedanken zu dieser spannenden Sache mitteilst. Natürlich hoffe und erwarte ich Deinen Segen. Wenn Vater enttäuscht ist, dass wir nicht von der Church of Signs getraut wurden, dann sag ihm, es habe hier leider keinen entsprechenden Pastor gegeben. Wir sind gesund, und es geht uns gut hier in New York City. Vor kurzem wurde sogar ein längerer Text von mir veröffentlicht (ein Exemplar lege ich Dir dazu), und derselbe Verlag will nun, dass ich einen ganzen Roman für ihn schreibe. Es sieht so aus, als wäre ich nun ein Autor, das heißt, ein Autor im Stil von Mr. Charles Curtis Easton! Die Arbeit wird besser bezahlt, als ich gedacht hatte; und ich will Euch etwas Geld schicken, wenn Du mir nur sagst, an welche Adresse, damit es nicht unters Fußvolk kommt. Ich sitze am Fenster, während ich schreibe, und der Morgen des Vierten Juli ist sonnig und wunderschön, in ganz Manhattan läuten die Glocken. Was macht Williams Ford am Unabhängigkeitstag? Redet Ben Kreel immer noch bis in den Abend? Spiegelt sich das Feuerwerk immer noch im River Pine? Ich habe gesagt, es geht uns gut, und das stimmt auch. Weil ich mit Julian Comstock befreundet bin, sind Calyxa und ich heute Abend sogar zu den Feierlichkeiten im Regierungspalast eingeladen! Ich weiß, Du hast gesagt, ich soll mich möglichst aus den Angelegenheiten der Aristokraten heraushalten — »riskiere nicht die Ansteckung durch Nähe«, wie Du den Dominion Reader zitiert hast —, aber eine Einladung des Präsidenten kann man nicht einfach in den Wind schlagen, das kann ins Auge gehen. Es wird schon nichts Schlimmes passieren im Palast. Dass ich geköpft oder ausgeweidet werde, ist ziemlich unwahrscheinlich — wobei Julian schon ein bisschen mehr Angst haben muss. Nun glaube bitte nicht, ich sei umgebracht worden, wenn Du nichts von mir hörst — Du weißt, wie unzuverlässig die Post ist! Das soll für heute reichen. Richte Vater alles Liebe aus. Mir sind viele Widrigkeiten begegnet, seit ich Williams Ford verlassen habe, aber ich bin nicht mehr das Kind, an das Du Dich erinnerst. Ich finde mich auch im giftigsten Garten zurecht, indem ich dem geraden und schmalen Pfad des Anstands folge und nur nach rechts oder links blicke, um nicht zu straucheln.
Am späten Nachmittag stiegen wir — Calyxa, Mrs. Comstock, Sam, Julian und ich — in eine Kutsche und machten uns auf den Weg zum Präsidentenpalast. Wir waren alle fünf reichlich nervös, aber auch tapfer und vor allem schweigsam — keine Beschwichtigungen, kein Wort über irgendwelche Befürchtungen, nichts.
Die tiefe Abendsonne vergoldete den Broadway, der den Festtag mit Fahnen und Wimpeln beging. Ich beging ihn mit einem maßgeschneiderten Aristokratenanzug, der in allerlei empfindliche Körperstellen kniff; Calyxa beging den Tag mit einem eleganten malvenfarbenen Kostüm, das den ganzen Platz beanspruchte, den Mrs. Comstocks noch unförmigere Robe nicht schon in Anspruch nahm. Ich konnte von Glück sagen, dass ich am Fenster saß, wo ich an den raschelnden Bergen zusammengedrückter Seide vorbei nach draußen sehen konnte.
Wir hielten am Broadway Gate in der 59sten Straße. Unsere Kutsche und unsere schriftlichen Einladungen wurden von einem schwarz uniformierten Mitglied der Republikanischen Garde kontrolliert.[64] Einmal von diesem unwirschen Typen als harmlos befunden, fuhren wir unter den kritischen Blicken eines weiteren Dutzend dieser Leute über den Graben und auf das gepflegte Gelände des einstigen, riesengroßen Central Park.
Von dem, so Julian, nur noch das große zentrale Wasserreservoir übrig sei. Alle bewaldeten Zonen seien während der Falschen Drangsal abgefackelt worden, und was nicht gebrannt habe, sei von den hungernden und frierenden Stadtbewohnern zu Brennholz verarbeitet worden. In den folgenden Jahren seien Sheepmeadow und Ramble umgepflügt und bestellt worden — ein ziemlich weltfremdes Unterfangen, denn der Boden eigne sich nun mal nicht für den Anbau. Nach dem Niedergang von Washington sei der gesamte Park der Regierung unter Präsident Otis gestiftet worden. Es war Otis, der den Bau der wuchtigen Umfassungsmauer aus den Steintrümmern von Manhattan in Auftrag gegeben hatte; es war Otis, der das Jagdgelände entworfen und mit Wild bestückt hatte; es war auch Otis, der den Regierungspalast hatte bauen lassen, der die Great Lawn überblickte.