»Wenn ein Mensch sich selbst besitzt, dann muss er sich auch verkaufen dürfen. Was für eine Bedeutung sollte Eigentum sonst haben? Und was sein Stimmrecht betrifft, man hat es ihm nicht abgesprochen — es existiert nach wie vor —, er hat es lediglich seinem arbeitgebenden Grundbesitzer überantwortet, der es für ihn ausübt.«
»Ja, damit die Eigentümer diesen faulen Zauber von Senat kontrollieren können.«
Das hätte sie besser nicht gesagt. Gesichter drehten sich in unsere Richtung, und Calyxa wurde rot und senkte ihre Stimme. »Ich meine, das sind Meinungen, die ich gelesen habe. Aber egal — der Pakt, den Sie erwähnen, wurde vor mehr als einem Jahrhundert geschlossen, wenn er denn überhaupt geschlossen wurde. Heute werden Menschen in die Abhängigkeit hineingeboren.«
»Schuld ist Schuld, Mrs. Hazzard. Verbindlichkeiten erlöschen nicht einfach, weil ein Mensch das Zeitliche segnet. Wer sein Hab und Gut erbt, der erbt auch seine Verpflichtungen. Was haben Sie nur gelesen, dass Sie sich mit solchen Missverständnissen herumschlagen?«
»Einen Autor namens, oh, ich glaube, Parmentier«, sagte Calyxa mit Unschuldsmiene.
»Parmentier! Diesen europäischen Terroristen! Guter Gott, Mrs. Hazzard, Sie brauchen unbedingt ein bisschen Anleitung bei Ihrem Studium!« Wieland bedachte mich mit einem vorwurfsvollen Blick.
»Ich habe ihr die Romane von Mr. Charles Curtis Easton empfohlen«, sagte ich.
»Unser Problem ist das Alphabetentum hierzulande«, sagte Palumbo. »Oh, ich bin durchaus für einen sensiblen Grad an Allgemeinbildung — ganz wie Sie, Mr. Hazzard, in Anbetracht Ihrer Karriere als Journalist. Aber so etwas scheint anzustecken. Das Phänomen greift um sich und mit ihm die Unzufriedenheit. Sperrt man einen Alphabeten mit einem Dutzend Analphabeten zusammen, bringt er ihnen lesen und schreiben bei; und was sie dann lesen, sind nicht die vom Dominion geprüften Werke, sondern pornografische Machwerke, billiger Schund oder volksverhetzende Schriften. Parmentier! Nun, Mrs. Hazzard, vor einer Woche erst habe ich einem Pflanzer in Utica dreihundert Männer abgekauft, zu einem günstigen Preis, wie mir schien. Ich hielt sie eine Zeit lang vom alten Bestand getrennt, eine Art Quarantäne, und ich bin froh, dass ich das getan habe, denn es stellte sich heraus, dass unter diesen Männern das Lesen grassierte. Und was lasen sie? Unter anderem parmentieristische Druckschriften! So etwas kann ein ganzes Landgut ruinieren, wenn man es nicht unterbindet.«
Calyxa fragte nicht, was Mr. Palumbo getan hatte, um es zu unterbinden oder seinen »Bestand« vor dieser »Seuche« zu schützen — vielleicht, weil sie Angst vor der Antwort hatte. Doch ihr Gesicht sagte alles, und ich fürchtete schon, sie würde eine neue Anklage über den Tisch schleudern oder eine Gabel, aber dann wurde zum Glück abgetragen.
Nach dem Mahl machten allerlei berauschende Getränke die Runde, darunter so teure Abscheulichkeiten wie Champagner und Rotwein. Ich trank nicht mit, aber die Eupatriden hielten es wie die Pferde am Trog.
Deklan Comstock erschien kurz auf einem anderen Innenbalkon — er ziehe eine gebieterische Höhe vor, meinte Julian — und lud seine Gäste in den angrenzenden Ballsaal ein, wo eine Kapelle patriotische Lieder spiele. Wir folgten der präsidialen Aufforderung. Sofort setzte die Musik ein, und manche Aristokraten schwangen, beflügelt durch die feurigen Getränke, ihr Tanzbein. Ich konnte nicht tanzen und Calyxa wollte nicht; also sahen wir uns nach netter Gesellschaft um, die weit genug von Mr. Wieland und Mr. Palumbo entfernt war.
Wir fanden Gesellschaft — oder sie fand uns —, aber sie war nicht gerade das, was man nett nennt.
»Mr. Hazzard«, sagte eine dröhnende Stimme.
Ich drehte mich um und sah einen Mann in klerikaler Tracht.
Ich vermutete in ihm einen hohen Würdenträger des Dominions, denn er trug einen breitkrempigen Filzhut mit silbernem Besatz, ein nüchternes schwarzes Jackett und ein konventionelles Baumwollhemd, auf dem mit Goldfaden gestickt »Johannes 3,16« stand. Ich kannte das frische, runde Gesicht nicht. Er hielt ein Glas in der Hand, das zur Hälfte mit einer bernsteinfarbenen Flüssigkeit gefüllt war, und sein Atem roch wie die Kupferspiral-Destillen, die Ben Kreel immer in den Behausungen der Abhängigen daheim in Williams Ford gefunden und zerstört hatte. Seine Augen glitzerten hinterhältig oder beschwipst.
»Sie kennen mich, aber ich kenne Sie nicht«, sagte ich.
»Im Gegenteil, ich kenne Sie überhaupt nicht, aber ich habe Ihr Heft über Julian Comstock gelesen, und jemand hat mich freundlicherweise auf Sie aufmerksam gemacht.« Er streckte die freie Hand aus. »Ich heiße Simon Hollingshead, Diakon der Diözese Colorado Springs.«
Er sagte das, als wäre es gar nichts. Aber das stimmte nicht. Dieser einfache Titel täuschte über eine einflussreiche Stellung in der Hierarchie des Dominions hinweg. Über den Diakonen von Colorado Springs gab es im Grunde nur noch die siebzig Mitglieder des Hohen Dominion-Rats.
Die Hand von Pastor Hollingshead war heiß und feucht, und sobald ich sie loslassen konnte, ohne ihn zu beleidigen, ließ ich sie los.
»Was verschlägt Sie denn nach Osten?«, fragte Calyxa vorsichtig.
»Nun, ich muss mit meinen Worten hinter dem Berg halten. Aber man muss sich die östlichen Städte von Zeit zu Zeit zur Brust nehmen. Sich selbst überlassen neigen sie dazu, vom strengen Glauben abzuweichen. Nicht anerkannte Kirchen schießen wie Pilze aus dem Boden. Die Durchmischung von Klassen und Nationalitäten zeigt den allbekannten degenerativen Einfluss.«
»Die Menschen hier trinken vielleicht zu viel«, sagte ich unwillkürlich.
»Wein, der das menschliche Herz erfreut«, zitierte der Diakon, obwohl ich in seinem Glas Stärkeres als Wein vermutete.[67] »Es geht mir um die Heilige Lehre und nicht um persönliche Abstinenz. Trinken ist keine Sünde, Betrunkensein schon. Finden Sie, dass ich betrunken bin, Mr. Hazzard?«
»Nein, Sir, nicht wirklich. Was von der Heiligen Lehre sehen Sie denn in Gefahr?«
»Die gebotene Achtsamkeit des Hirten beim Hüten seiner Herde. Der hiesige Klerus verschließt die Augen vor den schlimmsten Dingen. Geilheit, Zügellosigkeit, Wollust …«
»Oje, alle mit ›l‹ in der Mitte«, sagte Calyxa leise.
»Genug der Probleme. Ich wollte Ihnen nur zu Ihrer Darstellung der Kriegserlebnisse von Julian Comstock gratulieren.«
Ich dankte freundlich und tat bescheiden.
»Erbauliche Lektüre für junge Menschen ist dünn gesät. Ihre Arbeit ist beispielhaft, Mr. Hazzard. Sie hat zwar noch nicht das Siegel des Dominions, aber das lässt sich ändern.«
Das war ein großzügiges Angebot, das womöglich zu höheren Verkaufszahlen führte, und daher fand ich, wir sollten Diakon Hollingshead nicht unnötig brüskieren. Calyxa war indes auf Konfrontationskurs und gänzlich unbeeindruckt von Rang und Einfluss des Kirchenmannes.
»Colorado Springs ist eine große Stadt«, sagte sie. »Hat sie nicht Probleme genug, um die Sie sich kümmern könnten?«
»Aber sicher! Die Verführung treibt überall ihr Unwesen. Colorado Springs ist Herz und Seele des Dominions, aber Sie haben Recht, Mrs. Hazzard, auch in Colorado Springs gedeiht das Laster. Sogar in meiner eigenen Familie …«
Jetzt hielt er inne, als sei er sich nicht sicher, ob er fortfahren solle. Vielleicht merkte er, dass der Alkohol ihn redselig machte. Zu meinem Leidwesen fasste Calyxa nach: »Laster in der Familie eines Diakons?«
»Meine eigene Tochter ist ihm zum Opfer gefallen.« Er senkte die Stimme. »Normalerweise würde ich ja nicht darüber reden. Aber Sie scheinen eine rücksichtsvolle junge Frau zu sein. Sie entblößen nicht Ihre Arme wie so viele von den Damen hier, noch verunstalten Sie Ihre Haut mit Impfnarben.«
»Ich bin bekannt für meine Sittsamkeit«, sagte Calyxa, obwohl sie unbedingt so ein ärmelloses Kostüm hatte tragen wollen — dass sie es nicht tat, war allein Mrs. Comstock zu verdanken.
67
Das Zitat aus den Psalmen ist verbürgt, obwohl es nie Eingang in den