Dann begann sie ohne Auftakt zu singen:
Zuerst lähmendes Entsetzen. Viele Eupatriden im Saal kannten das Lied oder hatten es von den Lippen rebellischer Bediensteter in Küche oder Keller gehört. Und wenn sie es nicht selbst gehört hatten, dann kannten sie es vom Hörensagen. Jedenfalls machte der Text keinen Hehl daraus, für wen er Sympathie ergriff.
Die Stille und die Laute der Bestürzung aus der Zuhörerschaft entmutigten Calyxa nicht, obwohl selbst der Schlagzeuger ein- oder zweimal schwankte. Sie beendete den Refrain und begann sofort mit der ersten Strophe; die wie alle anderen Strophen dieses langen und epischen Liedes das Leid von Arbeitern verdammte, die für einen Industriellen oder Eigentümer schufteten.
Etliche sahen sich um, als wollten sie sehen, wie Präsident Deklan Comstock reagierte. War er wütend? Gekränkt? Würde die Republikanische Garde dem Spuk ein jähes Ende machen?
Doch Deklan der Eroberer schien nicht zu zürnen. Er nahm stattdessen die Hand an die Schläfe wie zu einer gespielten Ehrenbezeigung.
Diese knappe Geste war für die Eupatriden das Signal, dass für heute Abend die üblichen Anstandsregeln außer Kraft gesetzt waren. Sie folgerten daraus, dass Calyxas Darbietung kein Protest, sondern ironisch gemeint war. Piston, Loom, and Anvil, gesungen im Regierungspalast! Die köstlich auf den Kopf gestellte Logik eines Bacchanals. Ein paar der scharfsinnigeren Aristokraten begannen rechtzeitig zu klatschen.
Das ermutigte die ganze Kapelle, mit einzustimmen. Die Musiker hatten keinerlei Problem mit der Melodie und fingen an, Calyxas kräftige Stimme mit allerlei kleinen Trillern und Arpeggios zu umspielen. Calyxa selbst sang weiter, als gingen sie diese Schnörkel nichts an: Allein das Lied zählte, und sie sang es …
»Ist sie nicht großartig«, sagte Julian und baute sich neben mir auf.
Einige im Saal wollten immer noch keinen Gefallen an der unpassenden Darbietung finden. Mr. Wieland, Mr. Palumbo und Diakon Hollingshead standen mit eigensinnig verschränkten Armen beisammen. Weil sie direkt mit Abhängigen arbeiteten, war das Lied für Wieland und Palumbo nur eines: eine Waffe, die auf ihren Lebensunterhalt zielte. Der Diakon war nicht so existenziell beteiligt, dafür aber ein treuer Anhänger des Status quo, und folterte mitunter Männer, die es wagten, so etwas in seiner Gegenwart zu singen. Nicht einmal die Großzügigkeit des Präsidenten konnte diese honorigen Herren dazu bewegen, in ihrer Wachsamkeit nachzulassen.
Ich machte mir wirklich Sorgen um ihr Wohlergehen. Wielands ohnehin rötliches Gesicht lief dunkelrot an, bis sein Kopf wie eine Rote Bete aussah, die man in einen Hemdkragen gezwängt hatte, und Palumba lag nicht weit zurück in diesem Wettstreit.
Julian hatte mir einmal eine Geschichte über Tiefseetaucher erzählt. Kippern sei es neuerdings möglich, in einem versiegelten Gummianzug, versorgt mit Atemluft, die ihnen durch einen Schlauch heruntergepumpt werde, in das nasse Duster versunkener Küstenstädte zu tauchen. Dieses Gewerbe sei wahnsinnig gefährlich, aber hin und wieder lukrativ. Insofern es regelrechte Schätze ans Licht befördere, die von anderen, längst abgeräumten Stellen an Land stammten. Nur dass der Kipper für jede wertvolle Antiquität, die so geborgen werde, sein Leben aufs Spiel setze.
Nun sei es eine typische Eigenschaft des Meeres, dass der Wasserdruck mit der Tiefe zunehme. Es kursiere eine Legende unter den Unterwasserkippern, hatte Julian gesagt, dass ein Taucher, der unangeleint in zu große Tiefe sinke, von der Faust des Meeres zerquetscht werde. Schlimmer noch, er werde vom Wasserdruck buchstäblich wie eine Tube Zahnpasta aufgerollt. Sein Leib, von Gummi umhüllt, werde erst zermalmt und dann dahin gepresst, wo sich bereits der Kopf befinde, nämlich in den Taucherhelm, in dem sich der ganze Kipper am Ende wie ein blutiger Eintopf konzentriere — bis selbst der Helm zerberste.
Das war natürlich eine große Sauerei.
Die ging mir durch den Kopf, während ich Wieland, Palumbo und Hollingshead beobachtete. Mit jeder weiteren Strophe — über den verschütteten Grubenarbeiter — die Näherin, die durch ihren Arbeitgeber in bittere Armut und Prostitution getrieben wird — den Gepäckträger, der von einem Zug überrollt wird, dessen Bremse sich gelöst hatte — mit jeder weiteren Strophe drängte mehr Blut in das Hirn dieser entrüsteten Herren, dass ich mir sagte, wenn sie jetzt nicht der Schlag trifft, dann platzt ihnen der Schädel.
Vielleicht war Calyxa ein bisschen verstimmt durch die freundliche Aufnahme, die ihre Darbietung fand, denn ihre Verse wurden radikaler und bezeichneten Eigentümer als Tyrannen oder Senatoren als Dummköpfe. »Ich bin mir nicht sicher, ob das besonders schicklich ist«, sagte Mrs. Comstock neben mir. Doch der Präsident grinste immer noch (alles andere als fröhlich), und die allermeisten Eupatriden hielten weiterhin die Kränkungen für Ironie und entblödeten sich nicht, sie zu belächeln (viele hinter vorgehaltener Hand).
Ich dachte schon, Calyxa würde nichts mehr einfallen — was ja vielleicht ganz gut gewesen wäre —, da trat sie an den vorderen Rand des Podiums, richtete direkt und unmissverständlich ihren Blick auf den Industriellen Nelson Wieland, stampfte den Takt und sang:
Sollte es noch Zweifel geben, dass sie diese Strophe eigens für Mr. Wieland improvisiert hatte, dann sicher nicht bei Mr. Wieland. Die Augen quollen ihm förmlich aus dem Kopf. Er ballte die Fäuste — ja, der ganze Mann schien sich zu ballen. Es war, als hätte ihn die Tiefsee gepackt.
Calyxa, anscheinend zufrieden mit der Reaktion, die sie provoziert hatte, beendete den Refrain und wandte sich an den Landwirt Billy Palumbo und stampfte und sang:
Mr. Palumbo war nicht weniger überfordert als Mr. Wieland. Ich verfolgte mit ernsthafter Sorge, wie ihm vom Kragen bis zum Scheitel die Adern hervortraten, und wieder musste ich an den berstenden Unterwasserkipper denken.
Dann, wie hätte es anders sein können, war Diakon Hollingshead an der Reihe. Als sie den Refrain wiederholte, funkelte der Diakon sie an. Doch Calyxa hatte die Blicke ihrer Brüder ausgehalten, was wollte da ein Kirchenmann, und wenn er noch so einflussreich war. Ihre Stimme war ihr Knüppel, und sie würde ihn schwingen. Und sie sang — con brio, wie die Komponisten sagen:
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Ich kenne den Sohn eines Schmieds, der gelernt hat, aus Altstahl Teile für die Wagen der Reichen zu gießen; doch die Hitze forderte ihren Zoll und auch die Dämpfe der Kohle, und er brach am Wagenrad zusammen!...
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Die Abhängigen im Gehege des Eigentümers werden gekauft und verkauft wie Vieh; aber der Mensch hat Seele und Verstand, und ein Eigentümer könnte erleben, dass er nicht Arbeitskraft eingekauft hat, sondern eine Unmenge revolutionärer Mobilien, oje! …
71
Die Colorado-Maid hatte keine Angst, als die Schergen des Diakons sie ergriffen; sie litt in ihrem Stolz, doch sie schlugen sie, bis sie weinte; und als ihr Mut sie verließ, beichtete sie ihre Sünde: »Mich hat die Tochter des Diakons geküsst! …«