Vor uns erstreckte sich die Weite des Lake Melville, der von den Einzugsgebieten des Naskaupi River und des Churchill River gespeist wurde. Im Süden erhob sich das graue, stumpfzahnige Mealy-Gebirge — ein einschüchternder Anblick, wenn er nicht von Wolken verstellt war. Außerhalb unserer Sichtweite lagen unsere eigentlichen Angriffsziele: die von den Deutschen besetzten Städte Shesh und Striver und der ungemein wichtige Schienenkopf in Goose Bay.
Julian und Sam waren die meiste Zeit mit militärischen Planungen und Rücksprachen mit Admiral Fairfield beschäftigt. Doch an diesem besonderen Nachmittag kam Julian an Deck, wo ich mir eben das Kalfatern hatte erklären lassen.[74]
Der antike Forschungsreisende Jacques Cartier, sagte Julian, habe Labrador »das Land, das Gott Kain gab« genannt.[75] »Sicher, damals war es kälter hier«, setzte er hinzu. »So unfruchtbar ist es heute nicht mehr — auch wenn ich hier kein Farmer sein wollte.«
»Kein Wunder, dass Kain so wütend war«, sagte ich und zog mir den Dufflecoat enger um den Körper, denn der Wind war rau und schneidend, und die wachhabenden Matrosen hatten sich zwischen die aufgerollten Taue gekauert, wo sie ungestört schwören und fluchen und ihr Pfeifchen schmauchen konnten. Dabei war das Land überhaupt nicht unfruchtbar: Es brachte große Mengen an Schwarzfichten und Hängebirken hervor, Balsamtannen, Zitterpappeln; und in den kalten Schatten dieser Bäume war das Karibu zu Hause — und ähnlich hartgesottene Kreaturen. Und in den wärmeren Monaten sollte es hier jede Menge Wasservögel geben. Doch Labradors Wälder waren düster und das Land nicht gerade einladend für die menschliche Rasse. »Immerhin haben wir den Deutschen eingeheizt und sind noch in der Lage, damit anzugeben«, sagte ich.
Wir drei — Sam, Julian und ich — waren uns darüber im Klaren, dass wir — oder zumindest Generalmajor Comstock — nicht auf diese Expedition geschickt worden waren, um sie zu überleben. Es komme immer wieder vor, beschwichtigte Julian, dass sich ein Feldzug, auch der aussichtsloseste, zum Guten wende. Für gewöhnlich weckte diese Zuversicht meine Lebensgeister. Doch heute, obwohl wir haushoch gesiegt hatten, hatte sich ein kleiner November in meine Seele geschlichen. Ich war weit weg von zu Hause, und ich machte mir Sorgen.
Wenn ich gehofft hatte, Julian würde sich auch diesmal wieder zuversichtlich zeigen, so hatte ich mich getäuscht. »Das Schlimmste liegt noch vor uns«, räumte er ein. »Admiral Fairfield hat Befehl, die Infanterie in Striver zu landen; wir sollen Goose Bay angreifen, und Goose Bay wird kein Spaziergang. Die werden vorbereitet sein — die Telegrafen müssen schon schnattern.«
Ich ließ meinen Blick achteraus über das windige graue Gewässer schweifen. »Ich habe mehr Angst um Calyxa. Sie ist allein in New York City, sie hat sich schon die Feindschaft von Diakon Hollingshead eingehandelt und bestimmt noch von anderen Autoritäten, so wie ich sie kenne.«
»Meine Mutter wird ihr schon Schützenhilfe geben«, sagte Julian.
»Das ist lieb von ihr, aber ich wünschte, ich könnte Calyxa selbst beistehen.«
»Du wirst noch früh genug wieder bei ihr sein, wenn du mich fragst.«
Deklan der Eroberer hatte auf Julians Jugend und Unerfahrenheit gesetzt, beides sollte seinen Neffen zu einem leichten Ziel für die Deutschen machen. Aber der Präsident hatte ihn wohl unterschätzt. Julian war jung, und manche Truppe unter seinem Kommando hatte erst gezögert, Befehle von einem Jungen mit einem blonden Bart entgegenzunehmen. Doch Julian hatte heimlich ein paar Exemplare meines Hefts in Umlauf gebracht, und zwar als Lektüre für die Soldaten, die lesen konnten; und in dem Maße, wie sie anderen daraus vorlasen und der Inhalt in Kurzform weitererzählt wurde, war sein Ansehen gewachsen. Außerdem war Julian nicht das unbeschriebene Blatt, für das ihn Deklan Comstock hielt. Von Sam ausgiebig in der Theorie der Kriegsführung unterwiesen, hatte Julian auf dem Saguenay-Feldzug Gelegenheit gehabt, Theorie und Praxis zu vergleichen. »Vielleicht kehren wir ja im Triumphzug nach Manhattan zurück«, sagte ich.
»Richtig, und zwingen meinen Onkel, mich weniger umständlich aus dem Weg zu räumen.«
»Wir werden den Eroberer überleben«, sagte ich mit gesenkter Stimme. »Sam ist überzeugt davon.«
»Hoffentlich behält er Recht. Und du, Adam? Du zitterst ja wie Espenlaub — gehst du nicht besser in deine Kabine und hältst unsere Heldentaten fest?«
Meine Kabine lag so nahe an der Bilge, dass frische Luft mitunter nottat, egal wie kalt es an Deck war. Aber Julian hatte Recht. Ich hatte mich bereiterklärt, die Ereignisse für den Spark festzuhalten. Der Fall von Eskimo Island war dramatisch genug, da musste ich nicht viel hinzudichten. »Dann will ich mal«, sagte ich. Ich hatte bereits etliche Seiten vollgeschrieben und ging im Stillen davon aus, sie würden für irgendetwas gut sein. Sicher war ich mir nur, wozu sie nichts taugten: Die Basilisk würden sie nicht wieder flottmachen, wenn sie unter der Wasserlinie getroffen wurde, und auch die feindlichen Geschosse würden sie keinen Augenblick ablenken können.
Ich ließ Julian an Deck zurück. Er blieb an der Heckreling stehen und starrte gedankenverloren zurück auf die Narrows, die Augen von der Krempe seines Uniformhuts beschattet. Die Schöße des blau-gelben Uniformrocks flappten im kalten Wind, der vom Mealy-Gebirge blies.
Als die Narrows fest in unserer Hand waren, ging es nach Striver, einer Stadt am Nordufer des Lake Melville.
Ein Dutzend deutscher Kriegsschiffe lagen dort vor Anker. Wuchtige Kähne, schwer gepanzert und schwer bewaffnet; im ersten Licht der Morgendämmerung nahmen wir sie heftig unter Beschuss; und noch ehe ihre Anker gehievt waren, hatten wir ihre Masten mit Geschützfeuer gekürzt und ein paar Dellen in die gepanzerten Flanken geschossen.
An diesem Tag lag die Basilisk schwer unter Beschuss. Wir Infanteristen suchten Schutz unter Deck, während oben die Seeleute kämpften; und ich war dabei, als uns mittschiffs ein massives Geschoss traf. Nun konnten solche Projektile die Panzerung von Maschinenraum und Heizkesseln nicht durchschlagen, aber wohl die hölzerne Hülle, und das passierte gerade da, wo wir hockten. Ich wurde bei der Explosion nicht verletzt; aber mehrere Männer in der Nähe des Schotts wurden von riesigen Splittern durchbohrt, und einem frisch einberufenen Pächterjungen aus Kentucky wurde der Schädel gesplissen, dass es nur so spritzte. Der Junge war auf der Stelle tot.
Danach hörte ich nur noch Geschützfeuer und das Kreischen von Verwundeten. Die Kanonen der Basilisk feuerten eine Salve nach der anderen ab, Kugeln und Granaten. Einmal riskierte ich einen Blick durch das frisch gebrochene »Bullauge« in der Schiffsflanke, konnte aber nichts anderes als in nächster Nähe die Hülle eines deutschen Schiffes sehen und duckte mich hastig zurück, als die noch rauchende Mündung einer deutschen Kanone sichtbar wurde. Unser Schiff erbebte ein ums andere Mal wie ein sterbender Riese, bis ich mir sicher war, dass wir unsere Maschinen verloren hatten; und ich erwartete jeden Moment, dass der eiskalte Lake Melville über uns zusammenschlug.
Aber der Gestank nach Blut und Pulverdampf musste mich wohl kirre gemacht haben. Denn schließlich erstarb der Gefechtslärm, und Julian kam herunter in den Frachtraum, wo wir kauerten, und erklärte uns, der Feind sei besiegt und der Hafen eingenommen.
Ich ging mit ihm nach oben, um mich zu überzeugen.
Es war windstill, Rauch hing über dem See. Der Himmel war bedeckt. Ein Mast der Basilisk war heruntergekommen, und eine Gruppe von Matrosen war dabei, die Trümmer über Bord zu werfen. Die Basilisk hatte keine gefährlichen Schäden davongetragen, aber andere Schiffe unserer kleinen Armada waren umso schlimmer getroffen. Die Christabel brannte unablässig, und die Beatrice hing gefährlich tief im Wasser.
74
Ich hatte mich extra mit ein paar Matrosen angefreundet, um das eine oder andere von ihrem Latein aufzuschnappen und damit meine späteren Romane anzureichern.
75