Am Tag darauf streifte ich wieder durchs Lager. In einer Gasse hinter einer geplünderten Taverne fand ich den Gefreiten Langers und andere Infanteristen beim Würfelspiel. Sie bemerkten mich nicht, und ich störte sie nicht. Sollten sie doch ihr Geld verspielen, überlegte ich; viele würden nicht mehr dazu kommen, sich ihren Sold nachzahlen zu lassen, geschweige denn, ihn sinnvoll auszugeben.
Natürlich war Glücksspiel ein Laster und ihm nachzugeben eine Sünde. Aber hatten sie nicht auch etwas gut? Wenn ein Mann vor dem Jüngsten Gericht mit Ein- und vielleicht sogar Durchschusslöchern erschien, die er sich bei der Verteidigung seines Vaterlandes zugezogen hatte, würde man ihn da wirklich abweisen, nur weil er um ein bisschen Geld gewürfelt hatte?
Das konnte ich mir nicht vorstellen. So viel zu dem Agnostiker, den Julian aus mir gemacht hatte.
Am nächsten Morgen blieben die Truppentransporter aus.
Das ließ nichts Gutes ahnen. Die Schiffe waren mit verlässlicher Regelmäßigkeit aus den Narrows gekommen und hatten Soldaten, Waren und Kriegsmaterial gebracht; aber wir waren noch nicht zu der Stärke aufgelaufen, die man uns strategisch zugedacht hatte. Nicht dass die Armee, die sich inzwischen angesammelt hatte, unbedeutend gewesen wäre. Die Marine hatte zwei volle Divisionen von je dreitausend Mann gelandet und eine Abteilung Kavallerie samt Pferden; außerdem ein voll ausgerüstetes Feldlazarett und eine Artilleriebrigade mit nagelneuen Feldgeschützen und üppige Munitionsvorräte.
Auf dem Papier eine eindrucksvolle Streitmacht, obwohl bereits Hunderte von Männern an Beschwerden litten, von Seekrankheit bis zu fiebrigen Infekten. Dabei hatten wir mit insgesamt zehntausend gesunden Soldaten antreten wollen — denn das sollte ungefähr die Stärke der deutschen Truppen sein, die Goose Bay verteidigten, eine Streitmacht, die noch, wenn nicht längst geschehen, auf dem Schienenweg verstärkt werden sollte.
Julian hielt sich den ganzen Tag am Kai auf und spähte mit der Erwartung einer Seemannswitwe über das unruhige Wasser des Lake Melville. Ich war gekommen, um ihn zu einer warmen Mahlzeit und einer Konferenz mit seinen untergeordneten Kommandeuren abzuholen, als endlich ein Segel in Sicht kam … doch es war nur die Basilisk, die vor Shesh gelegen hatte, einer kleineren Ortschaft am gegenüberliegenden Seeufer. Der Admiral ließ sich mit einem Boot an Land bringen und schloss sich uns an.
Admiral Fairfield ist hinreichend beschrieben, wenn ich sage, dass er noch älter als Sam Godwin war, aber lebhaft und hellwach, und dass er ein Veteran vieler Seeschlachten und genauso unpolitisch war, wie es Marinesoldaten zu sein pflegen; denn die Marine war, anders als die beiden Armeen, nur selten aufgerufen, das Gerangel um den präsidialen Rang des Oberbefehlshabers der amerikanischen Streitkräfte zu schlichten. Die Marine war, kurz gesagt, noch nie nach New York City marschiert, um den König auszurufen. Sie bekämpfte einfach den Feind auf See und war stolz auf diese Tradition; und genauso hielt es Admiral Fairfield.
Er trug einen grauen Bart, dessen Länge mit Fairfields Alter und Position wetteiferte; heute Abend blickte der Admiral missbilligend durch seinen Schnauzbart auf den Teller, obwohl das Beefsteak darauf hervorragend war, das Beste, was der Verpflegungsoffizier zu bieten hatte.
»Wo bleiben meine Männer?«, war das Erste, was Julian den Admiral fragte, nachdem wir Platz genommen hatten.
»Es kommen keine Schiffe«, sagte der Admiral ohne Umschweife.
»Halten wir noch die deutschen Festungen?«
»Zu hundert Prozent. Aus Sicht der Marine ist Melville jetzt ein amerikanischer See. Irgendetwas muss den Seeweg zwischen Neufundland und Hamilton Inlet blockieren. Vielleicht ein Hinterhalt. Rigolet und Eskimo Island haben auch keine Nachricht.«
»Ich weiß nicht, ob ich den Marsch nach Goose Bay länger aufschieben kann. Jede Stunde zehrt an unserem Vorteil, wenn wir überhaupt noch einen haben.«
»Ich verstehe Ihre Sorge«, sagte der Admiral. »Ich an Ihrer Stelle würde auch nicht warten. Geben Sie den Marschbefehl, und ziehen Sie los mit Ihren sechstausend Mann.«
Julian lächelte, obwohl ihm nicht danach zumute war. »Solange die Marine zur Stelle ist und uns mit ihren Kanonen unterstützt, könnte sich das Risiko in Grenzen halten.«
Admiral Fairfield sagte mit seinem ganzen Gewicht, und das war erheblich: »Sie haben mein Wort, Generalmajor Comstock, dass die Basilisk vor Goose Bay liegt, wenn Sie und Ihre Armee dort eintreffen. Und wenn die Deutschen jedes andere Schiff der Flottille versenken, solange ich das Kommando habe, werden Sie nicht allein sein.«
»Danke, Admiral«, sagte Julian.
»Das ist ein verwegener Feldzug. Manch einer würde ihn für verrückt halten. Sicher, die Chancen stehen nicht gut. Aber ein Anschlag auf die Pulsader der Deutschen ist längst überfällig.«
»Dann warten wir nicht länger.« Julian wandte sich an Sam. »Morgen früh ziehen wir los.«
»Wir sind noch knapp an Pferden und Maultieren.«
»Die Kavallerie soll möglichst verschont bleiben, aber die Feldgeschütze müssen wir unbedingt mitnehmen.«
»Verstehe. Soll ich die Männer informieren?«
»Nein, das mache ich«, sagte Julian. »Nach dem Dinner.«
Die Nachricht vom bevorstehenden Abmarsch verdarb manchem Regimentskommandeur den Appetit, bei Julian schien es umgekehrt zu sein. Es wurde ein Nachtlager für den Admiral organisiert; dann machten sich Julian und sein Befehlsstab auf, um die Männer zu instruieren. Ich trottete aus journalistischen Beweggründen mal dem einen, mal dem anderen hinterher.
Wir suchten die Gebäude auf, die als Unterkünfte für die Infanteristen requiriert worden waren, dann die Quartiere der Kavallerie und schließlich das große Lager auf dem Marktplatz. Die Begegnungen verliefen meist ohne Zwischenfälle, und die Männer klatschten und pfiffen; sie waren heiß auf den Kampf.
Wir betraten einen Bau, eine frühere Sporthalle, in der fünfhundert Veteranen vor der Kälte Schutz gesucht hatten. In den nördlichen Gegenden der Welt wird es um diese Jahreszeit früh dunkel, und ein November in Labrador ist wie ein Januar in einem freundlicheren Teil des Landes. Die Männer scharten sich um etliche Kohleöfen, die man aufgestellt hatte, und schmetterten Piston, Loom, and Anvil, als wir hereinkamen. Ein Colonel namens Abijah, der mit uns gespeist hatte, war peinlich berührt von dem Benehmen und ging unter die Leute und brüllte immerzu »Aufhören!« und »Stillgestanden!«.
Doch die Männer verstummten erst, als sie Julian gewahrten.[76] Julian war auf ein Fass gestiegen und ergriff das Wort.
»Morgen rollen die Munitionswagen Richtung Goose Bay«, rief er. »Es ist nur ein Tagesmarsch, dann wird gekämpft. Seid ihr bereit?«
Sie schrien »Ja!«, gepaart mit anderen martialischen Rufen, denn sie waren in Hochstimmung.
»Gut«, rief Julian. Er wirkte fast wie ein Kind im Laternenlicht — mehr wie ein Junge, der Soldat spielt, als ein angegrauter General —, aber genau das gefiel der Infanterie, die in die Idee verschossen war, vom jugendlichen Helden am Saguenay geführt zu werden. »Ich glaube, ihr wart beim Singen, als ich kam. Lasst euch bitte nicht aufhalten.«
Dem stand allerdings ein Unbehagen im Weg. Diese Männer hatten in der Fabrik gearbeitet oder auf einem Landgut Pferde gehütet oder waren die lebendige Leihgabe eines Großgrundbesitzers, dem sie auf alle Zeit verschrieben waren. Bei aller Loyalität war nicht vergessen, welcher Klasse Julian angehörte, so dass manche sich für das genierten, was sie gesungen hatten, als seien die Worte eine einzige Beleidigung der Aristokraten (was sie ja auch waren). Doch Julian klatschte in die Hände und machte in seinem näselnden, aber herzlichen Tenor den Anfang: »By Piston, Loom, and Anvil, boys …« Und ehe der Refrain beendet war, hatten alle mit eingestimmt; und nach ein paar Strophen verfielen sie in Bravound Hurrarufe und riefen »General Julian!« oder »Julian Comstock!« oder — das erste Mal, dass ich diese Kombination hörte — »Julian der Eroberer!«.
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Vielleicht war ihr Auffassungsvermögen um diese Stunde ein wenig beeinträchtigt, denn unter den importierten Luxusartikeln der Deutschen waren auch ein paar Ballen Indischer Hanf gewesen, wovon eine Portion in Umlauf gekommen war, bevor Sam die Bannware unter Verschluss genommen hatte.