»Und der Hafen von Goose Bay. Was siehst du bei dem Licht, Adam?«
»Sieht friedlich aus.« Am Himmel stand ein Nordlicht, das aussah wie eine vage glühende, ab- und zunehmende Staubwolke, und ich sah ein paar Masten und Schiffe, die vor Anker lagen — deutsche Handelsschiffe vermutlich. »Die haben ihre ganzen Kanonenboote nach Striver verlegt — und verloren.«
»Ich sehe dasselbe. Was ich nicht sehe, ist irgendein amerikanisches Kriegsschiff. Goose Bay müsste eigentlich unter Artilleriebeschuss stehen — wo bleibt Admiral Fairfield?«
Das fragte ich mich auch — jetzt, wo er mich mit der Nase draufstieß.
»Vielleicht kommt er morgen früh.«
»Vielleicht«, sagte Julian müde.
Bislang habe ich noch nicht viel über Sam Godwin und seine Rolle bei diesen Ereignissen erzählt.
Nicht weil sein Part unbedeutend war, sondern weil er sich in enger Beratung mit Julian ergab und ich nicht direkt an den strategischen Planungen beteiligt war.[78] Denn Sam grübelte mindestens so viel über den Karten wie Julian und brachte dabei seine größere Erfahrung ins Spiel. Er versuchte nicht, die Führung zu übernehmen, sondern ließ sich auf Julians Vorstellungen ein, widersprach nur selten, machte aber Verbesserungsvorschläge. Vermutlich hatte Sam genau diese Rolle schon bei Julians Vater Bryce im erfolgreichen Isthmischen Krieg gespielt — und zuweilen, wenn die beiden die Köpfe zusammensteckten, schien die Weltuhr zwanzig Jahre vorzugehen, und wir befanden uns im Kommandozelt der Kalifornischen Armee … obwohl Julians blonder Bart den Tagtraum Lügen strafte, der Bart und das kalte Novemberwetter.
Julian konnte sich jedenfalls seinen zerbrechlichen Optimismus, was diesen Feldzug betraf, erhalten; während Sam, obwohl er es nicht zu zeigen versuchte, offenbar nicht so zuversichtlich war. Seit wir von Manhattan losgesegelt waren, schien er allen Humor verloren zu haben. Kein Witz kam mehr über seine Lippen, und über Witze lachen konnte er auch nicht mehr. Stattdessen blickte er finster drein … und in seinen Augen lag ein Glitzern, das vielleicht eisern unterdrückte Furcht bedeutete. Ich glaube, Sam war überzeugt, New York City beziehungsweise Emily Baines Comstock nie wiederzusehen, jedenfalls nicht in dieser Welt; ich wünschte mir so sehr, der Lauf der Dinge würde ihn eines Besseren belehren. Doch die Ereignisse des folgenden Tages waren alles andere als ermutigend.
Im Morgengrauen griffen die Deutschen an.
Vielleicht hatten sie uns ausgespäht und waren zu dem Schluss gekommen, dass unser Heer zwar gewaltig, aber doch nicht so groß war, wie sie befürchtet hatten; oder auf dem Schienenweg war Verstärkung eingetroffen. Wie dem auch sei, es fehlte ihnen nicht an Entschlossenheit und schon gar nicht an Mut.
Auch wenn die Verteidiger von Goose Bay kein chinesisches Geschütz besaßen, so reichte ihre Feldartillerie doch um mehrere hundert Meter weiter als unsere. Sie hatten diese Differenz genau ermittelt und nutzten sie weidlich aus. Unsere Vorwärtsverteidigung wurde derart mit Kugeln und Granaten eingedeckt, dass wir stecken blieben. Unsere Männer ließen schon bald ihre eigenen Waffen sprechen, nicht zuletzt unsere bewährten Grabenfeger; aber die Deutschen waren so rasch vorgerückt, dass sie unsere Feldgeschütze unterliefen und im Handumdrehen einen strategisch wichtigen Hügel erobert und eine komplette Artillerieabteilung erbeutet hatten.
Den ganzen Morgen über hörte ich das Krachen der Geschütze und die Schreie der Verwundeten, die von der Front nach hinten transportiert wurden. Deutsche und amerikanische Regimenter schlugen aufeinander ein wie abertausend Säbel, die Funken aus Blut und Knochensplittern sprühten. Boten kamen und gingen, ihre Augen sagten alles, und jeder schien erschöpfter als sein Vorgänger. An unserer rechten Flanke wurde ein ganzes Bataillon von Artilleriefeuer aufgerieben, obwohl Verstärkung nachrückte und die Stellung mit Mühe und Not hielt.
Der Mittag kam, der Mittag ging, und der Rauch der Schlacht stieg wie ein rabenschwarzer Obelisk in den fahlen, windstillen Himmel. »Panik ist jetzt unser ärgster Feind«, sagte Sam verbittert.
Julian trat von seinem Kartentisch zurück und schmiss den Bleistift hin. »Wo ist die Marine? Hier passiert nichts, was ein Beschuss von Goose Bay nicht korrigieren könnte!«
»Admiral Fairfield hat uns seine Armada versprochen«, sagte Sam, »und das war kein leeres Versprechen. Was immer ihn aufhält, es muss stärker sein als er. Wir können nicht mehr mit ihm rechnen.«
»Meinst du, mein Onkel hatte das von Anfang an im Auge gehabt — uns hier zwischen den Deutschen zu isolieren und die Marine abzuziehen?«
»Das ist ihm zuzutrauen. Das Entscheidende ist, dass wir keine Marine haben und auch keine bekommen werden. Und ohne Marine können wir unsere Stellung nicht halten.«
»Und ob wir sie halten«, sagte Julian kategorisch.
»Wenn die Deutschen uns seitwärts umgehen und die Straße besetzen, ist uns der Rückzug nach Striver versperrt — das ist unser Ende.«
»Wir halten die Stellung«, sagte Julian, »bis wir genau wissen, dass Fairfield nicht kommt. Er ist nicht der Mann, der ein Versprechen nicht hält.«
»Und wenn er es nicht einlösen kann, es gibt tausend Gründe.«
Doch Julian ließ sich nicht umstimmen. Abseits vom Kampfgeschehen gab es einen Hügel, auf dem eine einzelne Fichte stand; Julian postierte in der Baumspitze einen wendigen Mann und übertrug ihm die Aufgabe des Matrosen im Ausguck: Sowie sich auf dem Lake Melville ein Schiff zeige, solle er im Hauptquartier Meldung erstatten.
In der Zwischenzeit beugte er sich Sams Vorschlag und versammelte seinen Befehlsstab, um vorsorglich einen geordneten Rückzug zu planen. Falls es dazu käme, meinte Julian, dann solle es ein kämpferischer Rückzug sein, bei dem der Gegner für jeden Meter moosbewachsenen Boden bezahlen müsse. Julian erläuterte, wie und wo Truppen hinter Bodenwellen und Bahndämmen platziert werden konnten, so dass deutsche Soldaten, die ein Regiment verfolgten, von diesem in einen Hinterhalt gelockt werden konnten. Boten wurden zu den Bataillonskommandeuren geschickt, um diese Strategie zu koordinieren und zu verhindern, dass aus einem geplanten Rückzug eine wilde Flucht wurde.
Der Plan funktionierte, bis zu einem gewissen Grad. Unsere Front gab nach — so sollte es wohl aussehen —, und die mitteleuropäischen Truppen ergossen sich in die Lücke (deshalb Goose Gap). Die deutsche Infanterie johlte und feuerte übermütig ihre Gewehre ab, als Reihen unserer Männer sie aus dem Hinterhalt mit Grabenfegern bestrichen und mitten unter ihnen Artilleriegranaten explodierten. Ihre Kreuz-und-Lorbeer-Fahne, die in rasendem Tempo vorgestürmt war, stürzte plötzlich zu Boden zusammen mit ihrem Träger und Dutzenden gemeiner Soldaten. Die deutschen Truppen stürmten wie am Schnürchen in die Feuerlinie, strauchelten über ihre toten Kameraden, drehten sich verstört um und wurden niedergemäht.
Die Deutschen rückten unter entsetzlichen Verlusten vor … doch am Ende zählte, dass sie vorgerückt waren, verlustreich oder nicht. Sam schlug vor, das Kommandozelt unverzüglich abzubrechen und mit dem Wagenkonvoi nach Striver zurückzukehren, wo wir im Falle einer Belagerung zumindest nicht hungern mussten.
Dann stürzte Julians »Mann im Krähennest« ins Zelt und berichtete, er habe ein Schiff gesichtet, genau genommen nur den Rauch aus dem Schornstein eines Schiffes.
Julian ging mit einem erbeuteten Feldstecher ins Freie. Seine Position war ungleich gefährlicher als noch vor einer Stunde — deutsche Granaten krepierten in bedenklicher Nähe —, doch er stand ungerührt da, der Generalmajor in seiner hellen Uniform, und suchte die bleierne Oberfläche des Lake Melville ab.
»Rauch«, bestätigte er, als Sam und ich hinzukamen. »Ein Dampfschiff. Verbrennt Anthrazit, wie es aussieht; könnte gut und gerne amerikanisch sein.« Und nach ein paar Atemzügen: »Ein Mast. Eine Flagge. Unsere Flagge.« Er fuhr zu Sam herum, in seinen Augen loderte so etwas wie Genugtuung. »Sag den Männern, sie sollen ihre Stellung halten, koste es, was es wolle.«
78
Ich bezog meine strategischen und taktischen Kenntnisse ausschließlich aus den Kriegsgeschichten von Mr. Charles Curtis Easton, in denen jeder Angriff grimmig und verwegen ist, nahezu scheitert, zuletzt aber durch eine Kombination aus Glück und amerikanischer Genialität zum Erfolg führt. Solche Umstände lassen sich eben in der Fantasie leichter arrangieren als auf dem Schlachtfeld.