»Allerdings«, sagte Julian, »zumal wir zahlenmäßig weit unterlegen sind.«
»Das haben natürlich Sie zu entscheiden.« Admiral Fairfield stand auf. »Sie unter diesen Umständen im Stich zu lassen ist unentschuldbar, aber ich habe die Dehnbarkeit meiner schriftlichen Befehle bereits über die Maßen strapaziert.«
»Verstehe«, sagte Julian und drückte bewegt die knorrige Hand des Admirals. »Ich hege keinen Groll gegen Sie, Admiral, und ich danke der Marine für alles, was sie in Ihrem Namen getan hat.«
»Ich hoffe, Ihr Dank ist nicht unangebracht«, sagte der Admiral verbissen.
Julian und ich gingen zum Kai hinunter, wo Sam und Dutzende von Schwerverletzten in Boote gehievt wurden, die sie zur Basilisk brachten. Ich übergab dem Quartiermeister der Basilisk mehrere maschinengeschriebene Seiten — meine Kriegsberichte für den Spark, die er in Neufundland auf die Post geben wollte.
Wir stießen auf Dr. Linch, der die Krankentransporte beaufsichtigte, und er brachte uns zu Sam, der in Wolldecken gehüllt auf einer Trage wartete, wobei sich in seinem Bart vereinzelte Schneeflocken sammelten. Seine Augen waren geschlossen, und auf seinen verwitterten Wangen blühten Fieberrosen. »Sam«, sagte Julian und legte behutsam die Hand auf die Schulter seines Mentors.
Sams Augenlider krochen zurück, und er starrte in die dahinziehenden Wolken, ehe er Julian fand.
»Lass nicht zu, dass sie mich mitnehmen«, sagte er mit erschreckend schwacher Stimme.
»Was sein muss, muss sein«, sagte Julian. »Tu, was der Doktor sagt, Sam, dann kannst du den Kampf bald wieder aufnehmen.«
Sam ließ sich nicht so leicht beschwichtigen und langte mit der rechten Hand nach Julians Kragen. »Du brauchst meinen Rat!«
»Du hast Recht; aber wenn du mir einen Rat geben willst, Sam, dann tu es jetzt, denn die Boote legen gleich ab.«
»Benutze sie«, drängte Sam.
»Was soll ich benutzen? Ich weiß nicht, was du meinst.«
»Die Waffe! Die chinesische Waffe.«
Julian bekam große, traurige Augen. »Sam … es gibt weit und breit keine chinesische Waffe.«
»Das weiß ich, du Kindskopf! Benutze sie trotzdem.«
Vielleicht war Sam im Fieberwahn. Wir erfuhren nicht mehr, ob er noch etwas zu sagen hatte, denn zwei Männer packten die Bahre und trugen ihn fort. Nicht lange, und er lag gut verstaut im Bauch der Basilisk, die Kurs auf das Marinehospital von St. John’s an der Küste Neufundlands nahm.
Ich glaube, ich hatte mich noch nie so einsam und verlassen gefühlt wie in der kurzen Zeit, da die Basilisk die Anker lichtete und nach Osten segelte — nicht einmal auf den verschneiten Ebenen von Athabaska, als ich Williams Ford und meine ganze Kindheit hinter mir ließ. Damals war ich wenigstens in Begleitung von Julian und Sam gewesen. Jetzt war Sam fort … und Julian in seiner blau-gelben (leicht ramponierten) Uniform hatte kaum noch etwas mit dem Julian von damals gemein.
Unter den Vorräten, die uns Admiral Fairfield dagelassen hatte, befand sich ein Sack mit Post. Noch am selben Tag wurden die Päckchen und Briefe an die Soldaten verteilt. Einer von Julians Adjutanten brachte mir einen Umschlag, auf dem mein Name stand, in Calyxas Handschrift.
Die Nacht war hereingebrochen; ich hielt den Brief nahe an die Lampe und öffnete ihn mit zitternden Händen.
Calyxa war kein Briefeschreiber — niemand würde sie wortreich nennen. Der Brief bestand aus einer Anrede und drei kurzen Sätzen:
Lieber Adam, das Dominion droht mir. Bitte komm bald nach Hause, aber bitte lebendig. Außerdem bin ich schwanger.
4
Es liesse sich manches darüber sagen, wie ich die Tage bis zum Erntedankfest erlebt habe. Aber ich will den Leser nicht mit Trivialitäten traktieren. Es war eine düstere und karge Zeit. Ich habe mich jede Nacht an die Schreibmaschine gesetzt und im Schein der Lampe alles sorgfältig zu Papier gebracht, bevor ich mir den Luxus des Schlafens gegönnt habe. Diese Seiten sind noch in meinem Besitz, und der gebotenen Kürze halber will ich mich darauf beschränken, einzelne Abschnitte daraus zu zitieren:
Donnerstag, 10. November 2174
Um den Verbrauch an Vorräten aller Art zu reduzieren, sehen wir uns gezwungen, den Rest der Zivilbevölkerung auszusperren.
Die Bewohner von Striver zeigten sich nicht feindseliger, als man es von jeder anderen Gruppe ansonsten umgänglicher Männer und Frauen erwarten würde, die von Besatzungstruppen mit Waffengewalt aus ihren Häusern vertrieben werden. Viele waren froh, wieder in mitteleuropäische Obhut zu gelangen, auch wenn das einem gesunden Amerikaner nicht in den Kopf will.[79] Ich stand diesen Nachmittag auf dem Dach unseres Hauptquartiers und sah zu, wie sich die Männer, Frauen und Kinder der Stadt unter dem Schutz einer weißen Fahne durch das frostige Niemandsland zwischen den gegnerischen Gräben schleppten. Die gebeugten Gestalten, die im frühen Halbdunkel dann und wann in einen Artilleriekrater stolperten, erregten mein Mitgefühl, und ich konnte mir beinahe vorstellen, einer von ihnen zu sein. Vielleicht ist jeder Mensch ein Spiegel, in dem man sich sehen kann — vielleicht ist es das, was Julian mit kulturellem Relativismus meint (obwohl der Klerus diesen Begriff kategorisch ablehnt).
Bei den Deutschen bekommen diese Unglücklichen wenigstens jeden Tag zu essen. Bei uns wird streng rationiert. Die deutschen Spezialitäten in den Lagerhäusern werden genauso sorgfältig aufgelistet wie die Vorräte an gepökeltem Rindfleisch und Maismehl — alle Nahrungsmittel werden portioniert, auch wenn es allem Anschein nach für amerikanische Soldaten gewöhnungsbedürftig ist, genau berechnete Portionen an Edamer Käse, Rogen vom Stör und Gänseleberpastete zusammen mit Zwieback und Speck zu essen. Wie dem auch sei, diese Delikatessen dienen nur dem Zweck, den Tag hinauszuschieben, an dem unser Hunger unerträglich wird. Nach Mäulern und aufgelisteten Vorräten hat Julian berechnet, dass wir Mitte des Monats den Gürtel enger schnallen müssen und bis zum Jahresende verhungert sind.
Im Stillen rechnen die Männer immer noch auf den baldigen Einsatz einer chinesischen Waffe. Aber Julian weigert sich, dieses Gerücht ein für alle Mal aus der Welt zu schaffen und lächelt in einer Art verrückter Unbekümmertheit, wann immer ich darauf zu sprechen komme.
Ansonsten sind meine Gedanken natürlich nur bei Calyxa und ihren Problemen mit dem Dominion und dieser anderen erstaunlichen Neuigkeit. Ich soll Vater werden! Nein, ich werde Vater, vorausgesetzt, Calyxa trägt das Kind aus. Ich werde sogar Vater, wenn ich in diesem verlassenen Winkel von Labrador sterben sollte. Denn selbst ein toter Mann kann Vater sein. Das ist ein kleiner, aber echter Trost für mich — obwohl ich mir jetzt nur noch Sorgen mache.
Dienstag, 15. November 2174
Es bläst ein beständiger, kalter Westwind, der Himmel bleibt klar. Es wird früher dunkel. Wir entzünden nur wenige Lampen, um Spiritus zu sparen. Diese Nacht führen Nordlicht und Polarstern einen eisigen und erhabenen Tanz auf. Es ist leider keine stille Nacht, denn die Deutschen haben ihre schwere Artillerie in Stellung gebracht, und in unregelmäßigen Abständen schlagen Granaten ein. Ich habe den Eindruck, als müsste jedes zweite Gebäude in Striver zerstört oder ausgebrannt sein. Schornsteinkästen säumen wie schwörende Finger die leeren, aufgeharkten Straßen.
Julian ist launisch und verhält sich merkwürdig ohne den Rat und die leitende Hand von Sam. Er besteht darauf, alle Waren in den Lagerhäusern aufzulisten, nicht bloß die Lebensmittel. Heute habe ich bei so einer Inventur geholfen und Julian die Listen ins ehemalige Bürgermeisterhaus gebracht.
79
Trotz der allseits bekannten Grausamkeit und Gottlosigkeit Mitteleuropas erzeugt dieses Fürstentum in seinen Untertanen dennoch so etwas wie »Patriotismus« (der dem wirklichen zum Verwechseln ähnlich sieht).