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Die Deutschen und ihr Luxus! Die Statthalter sind nicht bloß verwöhnte Gourmets; sie scheinen auf nichts verzichten zu wollen, was das Leben angenehm macht. Julian las den endlosen Katalog sorgfältig durch: Stoffe, Schildkrötenpanzer, Heilmittel, Rinderhörner, Musikinstrumente, Hufeisen, Ginseng, Rohrleitungen, Wasserhähne und vieles mehr, dank Beuterecht alles von uns. Er sah nachdenklich aus beim Lesen, wie jemand, der überschlägt und kalkuliert.

»Ihr habt diese Seidenballen nicht aufgeschlüsselt«, sagte er.

»Es waren zu viele«, erklärte ich ihm. »Die ganze Seide ist in Kisten verpackt und übereinandergestapelt — sieht aus, als wäre sie eingetroffen, kurz bevor wir die Stadt eingenommen haben. Aber Seide kann man nicht essen, Julian.«

»Ich habe nicht vor, sie zu essen. Kümmere dich morgen darum, Adam. Mich interessiert nicht nur die Menge, sondern auch die Qualität, vor allem, wie dicht das Gewebe ist.«

»Kann ich nichts Wichtigeres tun als Fäden zählen?«

»Stell dir vor, es wär ein Befehl«, sagte Julian scharf. Dann sah er von den Listen auf, und seine Miene entspannte sich. »Tut mir leid, Adam. Trag es mit Fassung. Aber zu niemandem ein Wort — ich will nicht, dass die Männer denken, ich sei übergeschnappt.«

»Ich strick dir einen Kimono, Julian, wenn es hilft, die Belagerung zu überleben.«

»Genau das will ich, überleben, meine ich … gestrickt werden muss nicht — aber vielleicht genäht, mal sehen.«

Mehr wollte er nicht verraten.

Mittwoch, 16. November 2174

Mir fällt ein, dass Erntedank vor der Tür steht. Wir haben uns keine großen Gedanken gemacht über diesen Universellen Christlichen Feiertag, vielleicht, weil wir in unserer momentanen Lage so wenig Anlass zur Dankbarkeit sehen. Wir versinken eher in Selbstmitleid, als uns auf das zu besinnen, was wir Gott sei Dank haben.

Meine Mutter hätte uns bestimmt für kurzsichtig gehalten. Tatsächlich bin ich Gott für vieles dankbar.

Ich bin ihm dankbar für Calyxas Brief — wie kurz er auch gehalten ist —, den ich gefaltet in meiner linken Brusttasche trage.

Ich bin dankbar, dass ich, so Gott will, Vater werde, das Ergebnis einer womöglich überhasteten, aber gesegneten und freigebigen Ehe.

Ich bin heilfroh, dass ich noch am Leben bin, und dass Julian noch am Leben ist, auch wenn unser Leben ein Provisorium ist, das jederzeit zusammenbrechen kann. (Kein sterbliches Geschöpf »kennt die Stunde oder den Tag«, nur dass wir von deutscher Infanterie umgeben sind, die es sich auf die Fahne geschrieben hat, uns dieses ungemütliche Ereignis so rasch wie möglich zu bescheren.)

Ich bin so froh, dass sich das Leben in Williams Ford — ungeachtet meiner Abwesenheit — ein Beispiel an den vielen anderen, ähnlich einfachen Orten in den großen Vereinigten Staaten von Amerika genommen hat und seinen gewohnten Gang geht. Ich bin auch dankbar für die zynischen Philosophen, dreckigen Kipper, blasshäutigen Ästheten, korrupten Eigentümer und verweichlichten Eupatriden, die sich in den Straßen von New York City drängen — und vor allem dafür, dass ich sie aus nächster Nähe sehen durfte.

Gott, ich danke dir für meine tägliche Ration, obwohl sie von Mal zu Mal kleiner wird.

Donnerstag, 17. November 2174

Heute überrannten unsere Soldaten einen mitteleuropäischen Schützengraben, den der Feind zu dicht an unseren Linien gegraben hatte. Wir nahmen fünf Gefangene, die wir in einem Akt christlicher Nächstenliebe am Leben ließen, obwohl sie von unseren Vorräten essen. Julian hofft, sie gegen amerikanische Gefangene austauschen zu können — er hat diesen Vorschlag von einem Parlamentär überbringen lassen, bis jetzt aber noch keine Antwort erhalten.

Ich wollte dabei sein, wenn die Gefangenen verhört wurden, nicht zuletzt, damit der Feind für mich ein Gesicht bekam, den ich bis jetzt nur als anonymen Kämpfer und Verfasser unverständlicher Briefe kennengelernt hatte. Nur einer der Männer sprach Englisch; die anderen vier wurden von einem Leutnant befragt, der ein paar Brocken Niederländisch und Deutsch konnte.

Die feindlichen Soldaten sind hagere, sture Männer. Sie geben nicht viel mehr als ihre Namen preis, nicht mal unter Zwang. Mit Ausnahme des Englischsprechenden, eines Briten, der auf einem Handelsschiff gefahren war, dienstverpflichtet in einer Bar in Brüssel, als er sturzbetrunken war. Seine Loyalität ist gemischter Natur, und er hat sich bereiterklärt, Angaben über Stärke und Stellungen des Feindes zu machen.

Er meinte, die Deutschen seien fest überzeugt, uns durch die Belagerung zermürben zu können. Mit einem Angriff halte man sich allerdings zurück, da Gerüchte über die (leider nicht vorhandene) chinesische Waffe durchgesickert seien. Man wisse nichts Genaues über »unsere« Waffe[80], nur dass sie ganz schrecklich und außergewöhnlich sei.

Das habe ich Julian heute Abend erzählt, und er hat es mit grimmigem Vergnügen zur Kenntnis genommen.

»Genau so hab ich mir das vorgestellt. Gut! Vielleicht finden wir ja eine Möglichkeit, ihnen noch mehr Angst einzujagen.«

Und wieder wollte er nicht erklären, was er vorhat. Doch er hat ein geräumiges Lagerhaus am Kai beschlagnahmt (außer Reichweite der feindlichen Artillerie) und ist dabei, es in eine Art Werkstatt zu verwandeln. Er hat Männer abgestellt und zum absoluten Stillschweigen verpflichtet. Er hat unzählige Ballen schwarzer Seide angefordert; außerdem Nähmaschinen, Haken und Ösen, Leisten und Latten aus den Trümmern zerstörter Häuser, Flaschen mit Ätznatron und andere komische Sachen.

»Vielleicht ist es gut, wenn die Deutschen an diese Waffe glauben«, sagte ich, »aber leider glauben unsere Soldaten auch daran. Und sie glauben, du bist dabei, sie scharf zu machen.«

»Und wenn es so wäre?«

»Julian, du weißt so gut wie ich, dass es keine chinesische Waffe gibt, oder hat dich der Hunger um deinen Verstand gebracht?«

»Natürlich weiß ich das. Ich glaube fest an ihre Nichtexistenz. Das heißt aber nur, dass wir auf unsere Erfindungsgabe angewiesen sind.«

»Du meinst, wir bauen eine Waffe aus Seide und Angelhaken?«

»Bitte behalte deine Idee für dich. Dir werden beizeiten die Augen aufgehen.«

Samstag, 19. November 2174

Das Treiben in dem versiegelten Lagerhaus wird immer emsiger. Die »Geheimwaffe« ist jetzt in aller Munde, und ich mache mir Sorge, die Männer könnten, wenn die Wahrheit ans Licht kommt, mit Verbitterung und Wut reagieren.

Heute schlugen mehr Granaten ein, und ein Regiment erlitt besonders hohe Verluste. Ich habe heute Nachmittag im Feldlazarett ausgeholfen, das heißt, ich habe Dr. Linch beim Absägen, Zurechtstutzen und Nähen zerschmetterter Glieder assistiert. Diese Arbeit ist nahezu unerträglich für empfindliche Naturen (zu denen ich mich zähle), aber die Not packt dich beim Wickel.

Unser schlimmster Feind, meint Dr. Linch, sei nicht die Artillerie, sondern die Ruhr. Schon ein Viertel unserer Soldaten sei daran erkrankt und sie verbreite sich wie ein Lauffeuer.

Zwieback und Salzdorsch zum Dinner, in kleinen Portionen.

Sonntag, 20. November 2174

Außergewöhnliche Ereignisse! Ich will sie noch zu Papier bringen, obwohl es schon reichlich spät ist.

Nach dem Abendessen bestellte Julian mich samt Schreibmaschine in sein Quartier. Sich mit so einer Maschine die Treppe der alten Bürgermeisterei hinaufzuquälen war keine leichte Aufgabe für einen vom Hunger Geschwächten. Julian bat mich, Papier einzuspannen und abzuwarten. Er wollte mir eine Botschaft diktieren.

Dann rief er einen Adjutanten und schickte zu meiner Verwunderung nach Langers.

»Langers!«, platzte ich heraus, als der Adjutant fort war. »Was willst du von Langers? Was hat er jetzt wieder verbrochen? Ich habe ihn heute im Lazarett gesehen, wo er die Schau mit dem Kirchenmann abzieht. Aber das kann es wohl nicht sein.«

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80

Was ja auch schlecht möglich war.