»Ich erhebe Einspruch! Das ist Erpressung — ich bin so oder so ein toter Mann.«
»Mit ein bisschen Glück kommen Sie ungeschoren durch. Sie müssen sehr leise sein und bei Mondlicht losgehen. Wenn ich der Meinung wäre, Ihre Gefangennahme sei so gut wie sicher, würde ich Sie gar nicht erst losschicken.«
Langers ließ verdrießlich den Kopf hängen, er sah keinen Ausweg aus der Falle, die Julian hatte zuschnappen lassen.
»Lassen Sie mich hinzufügen«, sagte Julian, »dass dieses Dokument, sollte Ihnen wirklich etwas zustoßen, auf keinen Fall in die Hände der Deutschen fallen darf. Unser Vorhaben wäre ein Schlag ins Wasser, wenn sie von unserem Plan erführen. Und der Feind ist schlau — selbst wenn er Sie gefangen nimmt, selbst wenn er Sie mit Privilegien oder großartiger Belohnung zu bestechen versucht — Sie dürfen nicht nachgeben.«
Das sagt er dem Richtigen, dachte ich bei mir. An Langers’ Gewissen zu appellieren war zwecklos — wenn er überhaupt eines hatte, war es ein besonders schwaches und blutarmes Exemplar —, und ich hätte Julian am liebsten über seinen Irrtum aufgeklärt. Doch eingedenk seiner Warnung biss ich mir auf die Zunge.
Nach Julians Ermahnung schien Langers ein wenig erleichtert. Ich bin überzeugt, er sondierte die Lage, in die er so unverhofft geraten war, und begann sich häuslich darin einzurichten. Er erhob noch ein paar kleinere Einwände, nur um den Schein zu wahren, und war schließlich einverstanden, den drohenden Vermerk in seiner Führungsakte über das Bestehlen noch nicht ganz Toter zu vermeiden. Ja, er war einverstanden, den mitteleuropäischen Linien zu trotzen und sich auf dem schnellsten Weg zu den Narrows zu begeben, wenn das von ihm verlangt werde. »Aber wenn ich ums Leben komme«, sagte er, »und wenn Sie davon Kenntnis bekommen, General Comstock, dann bitte ich Sie, mich in die Reihe der ehrenwerten Gefallenen aufzunehmen; ich möchte meiner Familie keine Schande bringen.«
»Welcher Familie?«, platzte ich unwillkürlich heraus. »Haben Sie nicht immer behauptet, Sie wären ein Vollwaise?«
»Ich meine die, die mir so nahestehen wie eine Familie«, sagte Langers. (Und Julian bedachte mich mit einem giftigen Blick.)
»Versprochen«, sagte Julian. Es war kaum zu glauben, aber er streckte dem Ganoven die Hand hin. »Ihr Ruf ist gerettet, Mr. Langers. Sobald Sie den Auftrag übernehmen, sind Sie in meinen Augen rehabilitiert.«
»Ich bedanke mich für Ihr Vertrauen. Sie sind ein großzügiger Befehlshaber, Sir, und ein aufrechter Christ — ich habe nie etwas anderes behauptet.«
(Wenn das nicht aufhört, dachte ich, zerbeiße ich mir noch die Zunge.)
»Es ist wichtig, dass Sie sofort aufbrechen. Ein Adjutant wird Sie an die vorderste Linie bringen und Ihnen letzte Anweisungen geben. Sie bekommen einen Mantel und ein frisches Paar Stiefel sowie eine Pistole mit Munition.«
Julian rief einen jungen Leutnant, der den Brief mit ein paar Stichen hinter das Futter einer Ledertasche nähte und dann mit Langers fortging.
Jetzt, da wir allein waren, sah ich Julian entgeistert an.
»Nun?«, fragte er mit einem Anflug von Unbekümmertheit. »Raus damit, Adam.«
»Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll, aber — Julian! Gibt es denn nun doch eine chinesische Waffe?«
»Kannst du dir einen anderen Grund vorstellen, warum ich diese Nachricht an General Walton schicke?«
»Aber das ist ja das Verrückte! Du machst Langers zum Boten, und dann erzählst du ihm, die Deutschen würden ihn belohnen, wenn er uns verrät! Du wirfst mir manchmal meine Naivität vor, aber das schlägt dem Fass den Boden aus — du ermunterst ihn förmlich zur Fahnenflucht!«
»Glaubst du wirklich, er erliegt der Versuchung?«
»Was sonst?«
»Dann sind wir derselben Meinung.«
»Heißt das, du erwartest, dass er zum Feind überläuft?«
»Wenn mein Plan funktionieren soll, dann wäre es besser, er täte genau das.«
Ich war völlig aus dem Häuschen, und ich nehme an, mein Gesicht machte keinen Hehl daraus, denn Julian bekam Mitleid und legte mir den Arm um die Schulter. »Tut mir leid, wenn es so aussieht, als würde ich dich an der Nase herumführen, Adam. Wenn ich nicht ganz offen zu dir war, dann nur, weil mir an absoluter Geheimhaltung liegt. Melde dich morgen früh bei mir, und du wirst alles erfahren.«
Mehr als dieses dubiose Versprechen konnte ich ihm nicht entlocken, und als ich das Hauptquartier verließ, schwirrte mir der Kopf.
Jetzt muss ich aufhören mit Schreiben, sonst schreibe ich noch bis zum Wecksignal.
Die Nachtluft ist kalt, der Himmel klar und der Wind messerscharf. Meine Gedanken sind bei Calyxa, auch wenn sie so schrecklich weit weg ist.
Montag, 21. November 2174
Julian hat mir seinen Plan erklärt. Diese Nacht führen wir einen entscheidenden Test durch. Ich darf niemandem die Wahrheit anvertrauen — nicht einmal dem Papier in meiner Maschine.
Es ist eine winzige Chance, aber wir haben keine andere.
(Hier ist Schluss mit dem Tagebuch, und ich erzähle wieder im gewohnten Stil.)
5
Julian hat mich endlich ins Vertrauen gezogen und nahm mich am Nachmittag des 21. Novembers mit in das Lagerhaus, in dem die »Waffe« entstand.
Auf unserem Rundgang wurde mir schon bald klar, was ich gänzlich aus den Augen verloren hatte — Julians allgegenwärtige Liebe zum Theater. Sie schien sich seit seiner Beförderung zum Generalmajor in nichts aufgelöst zu haben, hatte aber wohl nur auf ihre Stunde gewartet. Das Innere des Lagerhauses (erhellt durch frisch gereinigte Oberlichter und eine großzügige Anzahl Laternen) ähnelte nichts so sehr wie dem Chaos hinter der Bühne bei einer Mammutproduktion von Lucia di Lammermoor mit Julian als Requisiteur.[82]
Männer in Uniform ersetzten die Näherinnen und verarbeiteten in fieberhafter Eile ganze Ballen schwarzer Seide, oft schon, wenn das Tuch noch abgeschnitten wurde. Schreiner hatten von Holzstangen und Latten mannsgroße, biegsame Stücke geschnitten. Dünnes Seilwerk von einer mühlradgroßen Fabrikspule wurde sorgfältig abgemessen und die Segmente auf kleinere Kerne gewickelt. Das war nur eine Kostprobe der Betriebsamkeit, die hier herrschte.
Der riesige Raum stank nach chemischen Substanzen, einschließlich Ätznatron und einer Chemikalie, die Julian eine »niederwertige Phosphorlösung« nannte (in angefressenen narbigen Metallfässern). Sowie sich die Tür hinter mir geschlossen hatte, fingen meine Augen an zu tränen, und ich fragte mich, ob das, was ich bei Julian für Anzeichen von Erschöpfung gehalten hatte, nicht in Wirklichkeit auf die langen Stunden zurückzuführen war, die er in dieser Lagerhalle verbracht hatte. Ich war beeindruckt von der Emsigkeit und dem Umfang der Arbeit, die den geschlossenen Raum mit einem fürchterlichen Lärm erfüllte — musste aber zugeben, dass ich mir keinen Reim darauf machen konnte.
»Komm schon, Adam, rate mal.«
»Und du sagst dann ›warm‹ oder ›kalt‹? Ich denke, du baust irgendeine Waffe zusammen — oder etwas, das so aussieht.«
»Von jedem ein bisschen«, sagte Julian und lächelte schelmisch.
Ein Soldat kam vorbei, er trug ein zusammengewickeltes Gebilde aus Latten und schwarzer Seide, das Julian kurz in Augenschein nahm. Ich sagte zu Julian, das Bündel erinnere mich an die Angeldrachen, die er in Edenvale habe steigen lassen.
»Sehr gut!«, sagte Julian. »Gut beobachtet.«
»Aber was ist es wirklich?«
»Das, was du dir darunter vorstellst.«
»Drachen?« Der besagte Soldat stellte das Gebilde aufrecht zu den vielen ähnlichen Gebilden. Zusammengefaltet ähnelten sie finsteren Schirmen, die für einen wählerischen Riesen hergestellt wurden. »Aber das sind bestimmt hundert!«
82
In Manhattan war letzten Sommer eine Neuinszenierung dieser Oper in aller Munde gewesen.