»Mindestens.«
»Und was willst du mit den Drachen?«
»Jede Erklärung, die ich dir geben könnte, würde von der Wahrheit übertroffen. Diese Nacht ist Generalprobe. Wenn du das Ergebnis siehst, wirst du etwas schlauer sein.«
Typisch Julian. Nur ja keinen Bühneneffekt beschreiben, weil dann das Pulver verschossen ist. Er wollte mich als »unvoreingenommenen Beobachter« einsetzen. Ich sei nicht unvoreingenommen, bemerkte ich, sondern ungeduldig; dann suchte ich das Lazarett auf, wo ich mich bis zum Einbruch der Dunkelheit nützlich machte.
Als die Nacht hereingebrochen war und die kärglichen Abendrationen vertilgt waren, machten Julian und ich uns erneut auf den Weg zum Kai. In besagtem Lagerhaus, das rund um die Uhr bewacht wurde, ging es um diese Zeit stiller zu. Die Männer, die Julian als Arbeitskräfte rekrutiert hatte, waren zum Stillschweigen verpflichtet worden und schliefen, um ungewollte Äußerungen zu verhindern, getrennt von den übrigen Soldaten. Die meisten von ihnen, sagte Julian, würden nur die Arbeit kennen, die ihnen aufgetragen sei, und mehr nicht. Aber gut hundert Männer wüssten über Ziel und Zweck der Operation Bescheid, und diese Elitetruppe sei heute Nacht im Lagerhaus — oder besser auf dem Lagerhaus, denn wir erklommen eine Eisentreppe, die zum Dach führte, das ordentlich gedeckt und nur leicht abschüssig war. Die »Drachenbrigade«, wie Julian sie nannte, wartete schon.
Die Nacht war mondlos, die Sterne wurden von hohen, schnell ziehenden Wolken verdeckt. Abgesehen von ein paar Lagerfeuern und schwach flackernden Fenstern lag Striver in völliger Dunkelheit. Die riesigen Drachen waren aufs Dach geschafft worden; sie waren noch aufgerollt, aber ihr Zaumzeug war bereits mit Hanfleinenspulen verbunden, die auf Holzfundamenten saßen und mit Handkurbeln versehen waren. Außerdem gehörte zu jedem Drachen ein Eimer, der über eine kurze Leine mit seinem Zaumzeug verbunden war. Wir kamen dazu, als ein Mann gerade damit fertig wurde, in jeden Eimer eine abgemessene Menge Sand zu füllen.
»Wozu soll das gut sein?«, fragte ich Julian — leise, denn in der unheimlichen Atmosphäre hier oben auf dem Dach schien sich jedes laute Wort zu verbieten.
»Ich habe ausgerechnet, wie viel Nutzlast ein Lenkdrachen tragen kann«, sagte Julian. »Heute Nacht sehen wir, ob die Berechnungen stimmen.«
Wie überschlug man die Tragkraft eines Lenkdrachens — wie rechnete man so was aus? Ich fragte erst gar nicht. Julian hatte das bestimmt wieder in einem antiken Buch gefunden. Sollte es vom Wind abhängen, hatten wir Glück — es blies eine kräftige Brise. Es war so kalt hier oben, dass ich meine Hände in den Manteltaschen ließ und wünschte, ich hätte statt der dünnen Armeekappe meinen alten Päckel auf dem Kopf.
Alles schien für die Premiere bereit, bis auf die Sichtverhältnisse. »Woher weißt du, dass sie fliegen, wenn weder Mond noch Nordlichter am Himmel sind?«
Julian gab keine Antwort und winkte einem Mann in der Nähe. Der Soldat hielt einen Behälter und einen dicken Pinsel bereit.
Die Flüssigkeit in dem Behälter entpuppte sich als eine Phosphorverbindung, die ein gespenstisches grünes Leuchten von sich gab.[83] Der Soldat klatschte mit dem Pinsel ein kleines Quantum der Chemikalie an jeden Eimer, bis sie alle wie dämonische Halloweenlaternen glühten.
»An die Leinen!«, rief Julian.
Dutzende von Männern sprangen an die verankerten Spulen.
»Präsentiert die Drachen!«
Genauso viele Männer, die mit dem Rücken zum Wind am Rand des Daches standen, packten die riesigen zusammengerollten Drachen und hielten sie mit beiden Händen vertikal und mittig vor dem Körper, damit sie sofort entrollt werden konnten, um den Wind zu fangen.
»Und Start!«, schrie Julian.
Der Leser muss wissen, dass ein übermannsgroßer schwarzseidener Drachen hoch oben in der stygischen Finsternis einer Labradornacht — während der Polarwind heranjault wie ein Wahnsinniger, der ein Messer zwischen den Zähnen hat — längst nicht so possierlich ist wie ein Kinderdrachen, der in der Sonne eines Sommertages tanzt. Diese schwarzen, schemenhaften Bestien machten sich in dem Augenblick bemerkbar, als die erste den eiskalten Wind fing und sich mit dem markerschütternden Knall eines Artilleriegeschützes öffnete.
Jeder Drachen tat, wenn er den Wind fing, denselben ohrenbetäubenden Knall (was mich an das Knallen der Segel erinnerte, wenn die Basilisk gegen schweres Wetter lavierte), bis es sich anhörte, als sei ein Artillerieduell im Gange und wir mittendrin. Dann erhoben sich die Drachen um die Länge des Seils, das sie mit ihrem Eimer und seiner abgewogenen Menge Sand verband …
Julians Berechnungen erwiesen sich als richtig. Nach einem winzigen Augenblick des Zögerns und einem ermutigenden Ruck an den Leinen schwangen sich die Eimer empor. Worte allein können nicht vermitteln, wie ungewöhnlich und seltsam sich das ausnahm: Alles, was zu sehen war, waren die vielen grün phosphoreszierenden Markierungen der Eimer. Diese (in einem ganz säkularen Sinne) überirdischen Lichter stiegen und tanzten und stiegen wieder, wie ein Schwarm von Engeln oder Dämonen. Ich war von Ehrfurcht durchdrungen, auch wenn ich genau wusste, was ich da sah. Einen nicht eingeweihten Beobachter hätte vielleicht das kalte Grausen gepackt.
»Nicht jeder amerikanische Soldat in der Stadt schläft schon«, sagte ich. »Was, wenn jemand das sieht und Alarm schlägt?«
»Umso besser. Der Gedanke, eine Kostprobe unserer Arbeit zu sehen, wird sie aufmuntern.«
»Sie werden es für eine übernatürliche Erscheinung halten.«
»Soll es jeder halten, wie er will, es macht keinen Unterschied.«
»So eindrucksvoll das Ganze ist, ein Drachen ist keine Waffe, Julian, auch wenn er nachts fliegt und glitzert wie das Auge einer Eule.«
»Manchmal ist der Schein so gut wie das Sein.« Julian befasste sich mit einer Art Sextant und tat etwas, was er »triangulieren« nannte. Inzwischen hatten die Drachen die volle Länge ihrer Leine bekommen. Die Leinen waren straff; die Männer an den Kurbeln hatten alle Hände voll zu tun, die Spulen mit ihren Holzfundamenten festzuhalten, so kräftig griff der Wind in die Drachen. Die Hanfleinen waren stramm und sangen, es klang schaurig in der Dunkelheit.
Julian unterwies die Männer an den Kurbeln, wie man Leine einhalten und ausgeben musste, damit der Drachen fiel und wieder stieg. Sie brachten es nicht zur Meisterschaft, doch etwas Erfahrung sei besser als keine, meinte Julian. Dann begann die mühselige Arbeit, die Drachen wieder aus dem Himmel zu kurbeln.
Ein eindrucksvolles Schauspiel, doch damit nicht genug — Julian wollte noch einen anderen Bühneneffekt erproben.
»An die Röhren!«, brüllte er.
Andere Soldaten, die der Wärme wegen am Schornsteinsockel gekauert hatten, sprangen auf, bildeten eine Reihe und nahmen Abstand voneinander. Jeder trug eine elastische Gummiröhre bei sich, ursprünglich vielleicht als Wasserleitungsrohr für die Villa eines deutschen Gouverneurs vorgesehen. Als sie genügend Freiraum hatten — sehr viel zu meiner Verwunderung —, begannen sie die Röhren über ihrem Kopf zu wirbeln, wie ein Rinderhirte ein Seil wirbelt, nur nicht so gekonnt. Mit dem Ergebnis, dass jede Röhre (sie waren verschieden lang) zu singen begann, ziemlich so, wie eine Orgelpfeife klingt, wenn die Luft hindurchgepustet wird. Was hier dargeboten wurde, war aber keine Musik, sondern eine Art unirdisches, misstönendes Johlen — so wie sich vielleicht ein Chor von Eistauchern anhört, die zur Größe von Elefanten aufgepumpt sind.
Ich musste mir die Ohren zuhalten. »Julian, die ganze Stadt wird wach — du weckst noch die deutsche Infanterie!« (Dabei waren die deutschen Schützengräben meilenweit entfernt.)
»Großartig!«, sagte Julian; oder schien er zu sagen, denn das Wehklagen der Gummiröhren übertönte ihn. Er lächelte zufrieden, wartete noch einen Moment und brachte dann das schaurige Konzert mit einem Handzeichen zum Schweigen. Die schwarzen Drachen waren fast wieder eingeholt, und bald darauf fiel der Vorhang.
83
Die Deutschen verwenden die Chemikalie für eine militärische Verständigung bei Nacht, sie wird aber auch für bestimmte Bühneneffekte benutzt.