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Die Aufführung hatte eine knappe Stunde gedauert.

Und obwohl ich über die Maßen beeindruckt war, gestand ich Julian, noch immer nicht zu wissen, wozu das alles gut sein solle. Die deutschen Truppen, so ins Bockshorn gejagt, würden ohne Frage perplex — wahrscheinlich sogar in Angst und Schrecken versetzt sein, aber meines Erachtens keinen wirklichen Schaden davontragen.

»Wir werden sehen«, sagte Julian.

Am Tag darauf griffen wir die mitteleuropäischen Truppen nicht an, sondern tauschten mit ihnen Gefangene aus.

Julian ging zu den Schützengräben, um den Austausch zu überwachen, und ich ging mit. Die Deutschen beeilten sich, unter einer flatternden weißen Fahne das Niemandsland zu überqueren, und genauso viele von unseren Männern kamen von drüben an ihnen vorbei. Es gab keine Formalitäten, nur eine kurze Waffenruhe; und als der Tausch vollzogen war, nahmen uns die deutschen Heckenschützen wieder ins Visier, und die deutsche Artillerie nahm ihr zweckloses Feuer wieder auf.

»Die Gefangenen, die wir ausgetauscht haben«, sagte ich zu Julian, als wir frierend in einem rückwärtigen Graben standen, »wissen die von dem Probelauf letzte Nacht?«

»Ihre Quartiere haben jedenfalls in die richtige Richtung geblickt, dafür war gesorgt.«

»Und es kommt dir gelegen, dass sie jetzt den Gerüchten Nahrung geben, die sich drüben ausbreiten. Hinzu kommt noch der Brief an Major Walton, sofern Langers der Versuchung erlegen ist.«

»Du hast es erfasst.«

»Schön und gut, Julian, aber der ganze Zauber …«

»Psychologische Kriegsführung, Adam.«

»Meinetwegen. Aber diese psychologische Kriegsführung muss früher oder später handfeste Resultate haben.«

»Das wird sie. Die Befehle sind erteilt, die Vorbereitungen für die Schlacht angelaufen. Heute Nacht schlafen wir in vorgeschobener Stellung, vor Tagesanbruch greifen wir an. Wir müssen zuschlagen, solange die Angst noch frisch ist, die ihnen im Nacken sitzt.«

Ich packte Julian beim Ärmel seines ramponierten blau-gelben Jacketts, um sicherzugehen, dass er mir zuhörte. Es war kalt in dem Graben, und trotz des schneidenden Windes stank es nach Blut und Fäkalien, und wo ich auch hinblickte, sah ich Elend und Zerstörung. »Sag mir die Wahrheit, Julian — ist das alles nur Theaterdonner, um den Männern Mut zu machen?«

Julian zögerte, bevor er antwortete.

»Die Moral ist auch eine Waffe«, sagte er. »Und ich gehe mal davon aus, unser Arsenal wenigstens ideell erweitert zu haben. Wir haben einen Vorteil, den wir vorher nicht hatten. Wir haben jeden Vorteil bitter nötig. Denkst du an zu Hause, Adam?«

»Ich denke an Calyxa«, gab ich zu. Und an das Kind, das sie unter dem Herzen trug, wovon ich Julian nichts gesagt hatte.

»Ich kann natürlich nichts versprechen.«

»Gibt es denn Hoffnung?«

»Aber sicher gibt es Hoffnung«, sagte Julian. »Es gibt immer Hoffnung — die Hoffnung stirbt zuletzt.«

An diesem Nachmittag schrieb ich noch einen Brief an Calyxa und schob ihn in die Brusttasche meiner Jacke, wo er leicht zu finden war, falls ich getötet wurde. Entweder sie bekam ihn, oder er wurde mit mir begraben oder irgendein mitteleuropäischer Infanterist behielt ihn als Souvenir — es lag nicht in meiner Hand.

Ich überlegte, ob ich für unseren Erfolg beten sollte, doch ich war mir nicht sicher, ob Gott überhaupt daran interessiert war, was in einem derart entlegenen und menschenleeren Land vor sich ging.[84] Ich war mir auch nicht sicher, ob meine Gebete überhaupt gnädig aufgenommen würden in Anbetracht meiner konfessionellen Gemengelage. Ich brauchte noch viel Zeit, um mit mir ins Reine zu kommen, und wünschte, ich müsste dem Tod so bald noch nicht ins Auge blicken.

Weil fast Erntedank war, befahl Julian Sonderrationen für alle, dazu gehörten die letzten Fleischvorräte (Streifen von gepökeltem Rindfleisch und alle Pferde, die wir erübrigen konnten — die Maultiere hatten wir bereits gegessen). Es war kein richtiges Erntedank-Dinner, wie meine Mutter es zubereitet hätte, mit einer gebratenen Gans vielleicht, dazu Preiselbeeren, stibitzt aus der Duncon-und-Crowley-Küche, und danach Rosinenkuchen mit Sahne. Aber es war so viel wie lange nicht mehr. Das Festmahl leerte unsere Speisekammer: Übrig blieb nur der Schiffszwieback, und den würden wir als Marschverpflegung brauchen, sollte es uns gelingen, die Belagerung von Striver zu brechen.

Das Feldlazarett war ein trostloser Ort, als ich es heute Abend besuchte. Ein Gruppe von Krankenpflegern sang etwas halbherzig geistliche Lieder, die dem Fest gerecht werden sollten. Viele Verwundete waren nicht transportfähig, und Dr. Linch meinte, man müsse sie wohl oder übel der Barmherzigkeit der mitteleuropäischen Armee überlassen. Die Entscheidung, wer mitgenommen und wer hiergelassen wurde, lag bei ihm; und er hasste dieses Richteramt und war in entsprechend gedrückter Stimmung.

»Wenigstens«, sagte Dr. Linch, »haben die Männer es diese Nacht etwas wärmer hier — dieser unerträgliche, kalte Wind hat endlich aufgehört.«

Es brauchte einen Augenblick, bis mir die Tragweite seiner Feststellung zu Bewusstsein kam. Dann lief ich ins Freie, um mich selbst zu überzeugen.

Dr. Linch hatte völlig Recht. Der Wind, der seit einem Monat unaufhörlich geklagt hatte, war verstummt, und die Luft war so still wie Eis.

Wir stecken in einer Flaute!, schrieb ich in mein Tagebuch.

Keine Nahrung außer Schiffszwieback, und damit müssen wir noch knausern. Julian kann den Männern nicht erklären, warum der Angriff verschoben wurde, ohne das Geheimnis der schwarzen Drachen preiszugeben (die ohne Wind nicht fliegen können). Die Truppen sind nervös und murren. Erntedankfest 2174 — bitter und enttäuschend.

Wieder ein kalter und windstiller Tag. Julian findet keine Ruhe und sucht dauernd den Horizont nach irgendwelchen meteorologischen Anzeichen ab.

Vergebens — heute Nacht schimmert allerdings ein Polarlicht wie ein goldenes Tuch knapp nördlich des Zenits.

Das deutsche Granatfeuer nimmt zu, und wir hatten im Ostteil der Stadt etliche Brände zu löschen. Zum Glück greifen die Feuer nicht um sich — kein Wind.

Kein Wind.

Wir laufen Gefahr, alles zu verlieren, was Julian sich von seinem Plan erhofft hat. Er befürchtet, dass die Mitteleuropäer schon Verstärkung bekommen haben. Zahlenmäßig sind wir weit unterlegen, und die chinesische Waffe wird allmählich zu einer leeren Drohung, sollte sie jemals mehr gewesen sein.

Trotzdem hat Julian sich etwas Neues ausgedacht: Seine Näher haben in aller Eile nahezu zweihundert »Schutzmasken« für die Männer an der Spitze unseres geplanten Vormarschs genäht. Schwarzseidene Strumpfmasken mit weiß umrandeten Augenlöchern, die sich aus der Entfernung furchterregend und aus der Nähe etwas albern ausnehmen. Doch eine Phalanx bewaffneter Männer in dieser Aufmachung könnte einen argwöhnischen Feind durchaus einschüchtern.

Es weht noch immer kein Wind.

Kein Wind, aber Schnee. Er fällt ruhig und gleichmäßig und deckt einen weißen Teppich über die Lücken und Schrägen dieser heimgesuchten Stadt.

Heute ein paar Böen, zu wenig für unsere Zwecke.

Wind! — aber der Schnee nimmt jede Sicht. Wir können nicht vorrücken.

Klarer Himmel heute früh. Böen launisch, aber auffrischend, während der Nachmittag voranschreitet. Wird der Wind bis zum Abend anhalten?

Julian meint, ja. Bei Morgengrauen marschieren wir los, Wind hin, Wind her.

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84

Ich an seiner Stelle wäre versucht, meine Allwissenheit zu vergessen, wenn die Sprache auf Labrador käme, und mich auf die wärmeren und grüneren Gegenden dieser Welt zu konzentrieren.