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Giles beobachtete sie. »Wozu hast du all diese Dinger?«

»Welche Dinger?«, fragte Juniper, ohne ihre Untersuchung zu unterbrechen. Sie hatte den Mund gespitzt und war sehr konzentriert.

»Die Lupe und das Fernglas um deinem Hals. Und gestern hattest du so eine Art Teleskop dabei.«

»Ein Monokular«, korrigierte sie ihn, ohne aufzusehen.

»Von mir aus, ein Monokular. Warum benutzt du so was?«

»Ich …« Juniper musste kurz innehalten, um über diese Frage nachzudenken. Was mochte sie so an ihren Ferngläsern? Das war sie noch nie gefragt worden. Während sie lässig mit der Lupe herumspielte, drehte sie sich um und blickte Giles direkt an. »Wenn ich hindurchschaue, dann sehe ich …« Sie musste nach dem richtigen Wort suchen, denn Wörter sind sehr, sehr wichtig. »Dann sehe ich die Wahrheit.«

»Die Wahrheit«, wiederholte Giles.

»Meine Ferngläser lügen nicht. Sie holen alles näher heran.« Sie schaute sich um. »Diese Wolke dort oben sieht nicht wirklich so aus. Genauso wenig wie diese Ameise oder die Sterne oder der Mond oder du und ich oder alles andere, was wir sehen können. Mit meinen Ferngläsern kann ich die kleinsten Teile erkennen, aus denen alles besteht, das, was sich direkt vor unseren Augen befindet und uns doch verborgen bleibt. Ich weiß auch nicht … Ich glaube, am besten gefällt mir, dass sie mir die Welt näher bringen.« Sie zuckte mit den Schultern und fürchtete, zu viel gesagt und sich lächerlich gemacht zu haben. »Ich mag sie nun mal, das ist alles.«

»Läufst du immer mit deinen Ferngläsern herum?«

»Ich forsche einfach gern. Es gibt hier draußen so viel zu entdecken.« Dabei fiel ihr der Baum wieder ein und sie untersuchte ihn weiter.

»Für dich vielleicht.« Giles sah mit einem so durchdringenden Blick zum Himmel, als wolle er direkt ins Weltall schauen. »Ich glaube, ich habe schon alles über diese Welt herausgefunden, was ich wissen muss.«

»Leider haben wir keine andere«, witzelte Juniper.

Doch Giles lachte nicht. »Wer weiß? Es muss doch noch etwas anderes dort draußen geben, etwas Besseres.«

Juniper wusste nicht, was sie zu dieser traurigen Äußerung sagen sollte. Wie sonderbar, dachte sie. Er will die Welt verlassen und ich will ein Teil von ihr sein. Ob es noch etwas dazwischen gibt?

Ihre Finger fanden eine Kerbe seitlich im Stamm und sie hielt sofort die Lupe darüber. »Sieh dir das an!«

»Was ist das?«, fragte Giles.

Eine Stimme ertönte hinter ihnen. »Das war Betsy.«

Die Freunde fuhren herum und erblickten Dimitri, der mit über die Schulter geworfener Axt hinter ihnen stand. Plötzlich raschelte es, und sie sahen, wie der Rabe mit einem erschreckten Krächzen in den Himmel flog. Dimitri sah ihm misstrauisch nach. Bald war er nicht mehr zu sehen. Juniper fragte sich, wohin er geflogen war und ob er sie immer noch beobachtete.

»Betsy?« Giles starrte auf die Klinge.

Dimitri streckte ihm die Axt hin. »Betsy.«

Giles zögerte einen Moment, dann griff er nach der Axt, um einen Blick darauf zu werfen. Doch die schwere Klinge sauste augenblicklich herab und versank im Boden. Knallrot vor Verlegenheit und Anstrengung versuchte Giles, sie wieder herauszuziehen.

»Sie haben ihr einen Namen gegeben?«, fragte Juniper.

»Warum nicht? Die Leute geben allen möglichen leblosen Dingen Namen, oder? Autos, Waffen, Schaukelstühlen …«

»Gitarren«, fügte Giles hinzu. Er schaffte es endlich, die Axt zu befreien, auch wenn er dabei fast hintenüberkippte.

»Sei vorsichtig«, mahnte Dimitri. »Richtig, Gitarren gehören auch dazu. Sie bekommen normalerweise weibliche Namen, darum hab ich beschlossen, meine Axt Betsy zu nennen.«

»Wollten Sie diesen Baum fällen?«, erkundigte sich Juniper.

»Es ist ein hässlicher Baum. Ich wollte Brennholz für deine Familie daraus machen, aber dein Vater hat mich aufgehalten. Kaum hatte ich den ersten Schlag ausgeführt, kam er aus dem Haus gerannt. Er war furchtbar aufgebracht, seine Augen glühten vor Wut. Er schrie mich an, ich solle auf der anderen Seite des Grundstücks bleiben und diesen Baum niemals anrühren. So habe ich ihn noch nie gesehen. Ich habe meine Konsequenzen daraus gezogen und mische mich nicht mehr ein, auch wenn es mir manchmal schwerfällt. Doch es gibt Dinge, die muss jeder für sich allein lernen.«

»Wie meinen Sie das?«

Dimitri öffnete den Mund und schloss ihn plötzlich wieder. Während er nachdachte, wanderte sein Blick zum Himmel, dorthin, wo der Rabe verschwunden war. Aus irgendeinem Grund schienen die Leute immer zu glauben, dass die Antworten direkt über ihnen schweben würden. Zweifellos wog Dimitri etwas ab. Schließlich schüttelte er den Kopf und fuhr mit der Hand über die Kerbe, die seine Axt im Baum hinterlassen hatte. »Dieser Baum ist reif. Das ist genau die richtige Stelle. Ein paar kräftige Schläge, und das morsche, alte Ding fällt um. Ich würde ihm keine Träne nachweinen, so viel ist sicher.« Er zog die Hand zurück und wischte sie an seiner Hose ab. Juniper bemerkte die Gänsehaut auf seinem Arm.

Dimitri nahm Giles die Axt wieder ab und schlug sie in einen Baumstumpf, wo sie stecken blieb. »Hier schläft Betsy, also weckt sie nicht auf.« Er lächelte mit geschlossenen Lippen. »Ich mach jetzt Pause. Seht zu, dass ihr nicht in Schwierigkeiten geratet, ihr zwei.« Er ging davon.

Juniper und Giles schauten sich an. Seine Worte schienen in der Luft nachzuklingen, selbst diejenigen, die er nicht ausgesprochen hatte.

Juniper ließ ihre Finger noch einmal über die Kerbe gleiten. Ihr Vater hatte Dimitri verboten, den Baum zu fällen. Warum?

Sie setzten die Suche nach Erklärungen noch eine Weile fort. Juniper inspizierte nicht nur den Baum selbst, sondern auch seine nähere Umgebung, aber sie konnte nichts entdecken. Es gab keine neuen Erkenntnisse. Worin bestand die Verbindung zwischen ihren Eltern und Giles’? Was bedeuteten die auf die verkohlten Blätter gekritzelten Wörter und Zeichen, die Lichtung, der Baum? Sie mussten etwas übersehen haben. Aber was?

Nach einer knappen Stunde hatten sie die fehlende Verbindung immer noch nicht gefunden. Erschöpft und ratlos beschloss Juniper, es für diesen Tag gut sein zu lassen. Doch weder Juniper noch Giles wollten sich jetzt schon voneinander trennen.

»Ich muss noch nicht nach Hause«, sagte Giles. »Ich glaube, meinen Eltern ist es inzwischen sowieso egal, wann ich komme und gehe.«

»Tja, der Tag ist noch lang«, stellte Juniper fest. »Was würdest du gerne machen?«

»Was machst du denn normalerweise so?«

»Normalerweise bin ich allein«, gab sie zu.

»Was ist mit all den Leuten vor eurem Tor? Hast du dich nie mit einem von ihnen angefreundet? Sie würden bestimmt alles dafür geben, dich kennenzulernen.«

»Ha! Das würden meine Eltern nie und nimmer erlauben! Ich darf nicht mal in die Nähe des Tors. Mein Vater sagt, diese Leute sind verrückt, aber ich glaube, er sorgt sich mehr darum, dass es ein Gerichtsverfahren und schlechte Presse geben könnte.«

»Wahrscheinlich hat er recht«, sagte Giles. »Aber sie würden dich bestimmt mögen. Du bist klug und hübsch.« Er sah weg. »Über mich würden sie sich nur lustig machen.«

»Das stimmt nicht. Wie kommst du darauf?«

»Ist schon okay, ich bin daran gewöhnt. Sieh mich doch an, dürr und klapprig wie ich bin. Die Leute warten nicht ohne Grund vor dem Tor, um einen Blick auf deine Eltern zu erhaschen. Sie wollen alle genauso sein wie sie. Aber niemand will so sein wie ich. Und weißt du, was, ich will sowieso nichts mit ihnen zu tun haben. Am liebsten würde ich einfach abhauen, von hier verschwinden und nie mehr zurückkommen. Ich brauche niemanden, ganz ehrlich.«

Seine Worte verletzten Juniper. Sie hätte ihn gerne gefragt, ob das auch für sie galt, doch sie schwieg.