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Weniger durch die Geschichten als durch die in sie verpackte Gesellschaftskritik. Sie hatte etwas Anarchistisches. Sie entsprach nicht der Wirklichkeit, sie entsprach seinem Kopf. Er verwirrte sich in eine Geschichte um einen Mordprozeß. Er machte den Angeklagten nach, die fünf Oberrichter. Die Bauern wieherten. Er als Verteidiger habe den Prozeß gewonnen. Darauf habe er bemerkt, daß der Freigesprochene doch der Mörder sei. Der Freigesprochene, ein Regierungsrat, hatte ihn, den Fürsprecher, und die fünf Oberrichter hereingelegt. Die Bauern jauchzten, soffen nun auch Bäzi. Offensichtlich hatten sie die Geschichte schon oft gehört und konnten sie nicht genug hören. Immer wieder forderten sie den Fürsprecher auf weiterzuerzählen, er zierte sich, man schenkte ihm Bäzi ein, er wies auf mich, das interessiere mich doch nicht, man schenkte mir Bäzi ein, doch, doch, das interessiere mich. Der Fürsprecher erzählte, wie er versucht habe, einen Revisionsprozeß zu erreichen, aber die Regierung und zuletzt das Bundesgericht hätten das verhindert. Ein Regierungsrat sei eben ein Regierungsrat. Jedes juristische Hindernis, jede Schikane rief ein Hohngelächter hervor. So gehe es zu in der freien Schweiz, rief ein Bauer und bestellte noch ein Bäzi. Dann habe er auf eigene Faust gehandelt, sagte der Fürsprecher. Er habe gewartet, bis der Regierungsrat von einer Weltreise zurückgekommen sei. Aus der Presse habe er die Ankunftszeit erfahren. Dann habe er dem Polizeikommandanten seine Absicht mitgeteilt. Der habe den Flughafen abriegeln lassen. Aber der Fürsprecher habe sich in der Putzmannschaft als Putzfrau verkleidet eingeschmuggelt. Er habe in einem aufklappbaren künstlichen Busen einen Revolver versteckt. Ein Polizist habe nach seinen falschen Brüsten gegriffen. Der Fürsprecher habe geschrien, man wolle ihn vergewaltigen. Der Polizeikommandant habe sich entschuldigt und den Polizisten in die Gefängniszelle des Flughafens gesperrt. Die Bauern schlugen sich johlend auf die Schenkel. Dann erzählte der Fürsprecher, wie er den durch ihn freigesprochenen Mörder erschossen habe. Auf dem Weg zur First Class Lounge. Der Regierungsrat fiel Kopf voran in den Putzkübel. Wie Tell den Geßler in der Hohlen Gasse hab er den» Uhung «erledigt, grölte ein Bauer. Die anderen brachen in Beifallsrufe aus. Ein Heidenlärm. Das sei noch echte Gerechtigkeit. Der Fürsprecher spielte seine Verhaftung vor. Schilderte, wie ihm der Polizeikommandant den falschen Busen vom Leib gerissen habe. Kletterte auf den Tisch. Hielt die Verteidigungsrede vor den fünf Oberrichtern, die den Ermordeten freigesprochen hatten und nun dessen Mörder freisprechen mußten. Da habe er den Oberrichtern gesagt» Pfui Teufel, Justiz «und sei Fürsprecher im Stüssital geworden. Dann fiel er auf den Stuhl herunter. Ein Bauer erhob sich, eine halbvolle Flasche Bäzi in der Linken, klopfte dem Erzähler auf die Schultern, erklärte, er selber sei ein Stüssi-Stüssi, und der Fürsprecher sei der einzige Nicht-Stüssi in Stüssikofen, aber trotzdem ein Schweizer von echtem Schrot und Korn, dann trank er die Flasche leer und fiel über den Tisch, begann zu schnarchen. Die anderen stimmten die abgeschaffte Nationalhymne an, deren erste Strophe schließt:»Heil dir Helvetia! Hast noch der Söhne ja, wie sie St. Jakob sah, freudvoll zum Streit. «Die Geschichte kam mir irgendwie bekannt vor. Ich wollte noch einige Details wissen, aber der Fürsprecher war zu betrunken, um noch ansprechbar zu sein. Einige Bauern erhoben sich drohend, während die anderen schon den Schluß der zweiten Strophe sangen:»Da wo der Alpenkreis nicht dich zu schützen weiß, wall dir vor Gott, steh'n wir den Felsen gleich, nie vor Gefahren bleich, froh noch im Todesstreich, Schmerz uns ein Spott. «Der Fürsprecher tat mir leid. Aus dem Staranwalt war ein heruntergekommener Winkeladvokat geworden. Er hatte einen Mord begangen, hatte seinen eigenen Prozeß gewonnen, aber der Mord hatte ihn erledigt. Ich gab den Gedanken auf, den Hof zu kaufen. Ich hatte zu gehen, im Stüssital sind die Leute aus der Stadt unbeliebt, und da sie an meinem Wagen gesehen hatten, daß ich aus Neuchâtel kam, war ich ohnehin ein fremder Fötzel, obgleich ich die gleiche Sprache rede wie sie, vielleicht weniger singend. Ich verließ das Wirtshaus.»Trittst im Morgenrot daher, seh ich dich im Strahlenmeer, dich, du Hocherhabener, Herrlicher! Wenn der Alpen Firn sich rötet, betet, freie Schweizer, betet. Eure fromme Seele ahnt Gott im hehren Vaterland!«dröhnte es mir nach. Sie waren zur neuen Nationalhymne übergegangen.

Dann wieder Vergessen. Der Greis im Rollstuhl, seine Tochter, der besoffene Mörder in der Gaststube in Stüssikofen inmitten von besoffenen Bauern sanken ins Unterbewußte. Der Ärger, den Hof nicht kaufen zu können, deckte sie zu. Ich hatte den Hof nicht aus bloßer Laune zu kaufen versucht. Ich brauchte Veränderung. Zurückgekehrt, begann ich umzuorganisieren. Der Unrat, der sich während vierzig Jahren Schriftstellern angesammelt hatte, wurde ausgemistet. Haufen unerledigter Korrespondenz, nie gesehene und doch bezahlte Rechnungen, Abrechnungen, nie zur Kenntnis genommen, Berge von Korrekturen, endlos umgeschriebene Manuskripte, Fragmente, Fotos, Zeichnungen, Karikaturen, eine Heidenunordnung, die teils in Ordnung verwandelt, teils zum Verschwinden gebracht werden mußte. Berge ungelesener Manuskripte, in der Sintflut unerledigter Post seit Jahrzehnten untergegangen, wahllos schlug ich eines auf. Justiz. Fort mit dem Plunder. Beim Wegwerfen fiel mein Blick auf die erste Manuskriptseite, und ich las den Namen Dr.h.c. Isaak Kohler. Ich holte das Manuskript wieder aus dem Plastiksack. Ein Dr.H. hatte es aus Zürich geschickt, aber ich lese nie die Manuskripte, die mir zugeschickt werden. Mich interessiert Literatur nicht, ich mache selber welche. Dr.H. Ich erinnerte mich. Chur. 1957. Nach einem Vortrag. In einem Hotel. Ich ging zur Bar, um noch einen Whisky zu trinken. Außer der älteren Bardame fand ich dort noch einen Herrn, der sich mir vorstellte, kaum daß ich Platz genommen hatte. Es war Dr.H., der ehemalige Kommandant der Kantonspolizei Zürich, ein großer und schwerer Mann, altmodisch, mit einer goldenen Uhrkette quer über der Weste, wie man dies heute nur noch selten sieht. Trotz seines Alters waren seine borstigen Haare noch schwarz, der Schnurrbart buschig. Er saß an der Bar auf einem der hohen Stühle, trank Rotwein, rauchte eine Bahianos und redete die Bardame mit Vornamen an. Seine Stimme war laut, und seine Gesten waren lebhaft, ein unzimperlicher Mensch, der mich gleicherweise anzog wie abschreckte. Er nahm mich am nächsten Morgen in seinem Wagen nach Zürich mit. Ich blätterte im Manuskript. Es war in Schreibmaschinenschrift. Über dem Titel in Handschrift:»Fangen Sie damit an, was Sie wollen. «Ich begann das Manuskript zu lesen. Ich las es durch. Der Verfasser, ein Rechtsanwalt, war seinem Stoff nicht gewachsen. Die Gegenwart kam ihm dazwischen. Das Wichtigste erzählte er am Schluß, und dann fehlte ihm auf einmal die Zeit. Er überhastete sich. Im großen und ganzen eine eher dilettantische Arbeit. Auch machten mich gewisse Szenen stutzig. Etwa die Kapitelüberschriften: Ein Versuch, Ordnung in die Unordnung zu bringen. Auch gewisse Namen. Wer heißt schon Nikodemus Molch, wer Daphne Müller, wer Ilse Freude? Und wer hält sich schon eine Armee von Gartenzwergen? Hatte mir nicht der Kommandant einmal gesagt, er liebe Jean Paul? Ich konnte den Kommandanten nicht fragen. Er war gestorben. 1970. Dann las ich den Brief, den der Kommandant beigelegt hatte:»Komme von der Beerdigung Stüssi-Leupins. Nur Mock war anwesend. Aß mit ihm nachher im >Du Théâtre< Leberknödelsuppe, Tournedos Rossini mit grünen Bohnen. Nachher langes Suchen nach Mockens Hörgerät. Die Kellnerin hatte es mit der Platte hinausgetragen. Was unseren guten Gerechtigkeitsfanatiker betrifft, so war es ihm doch gelungen, sich in den Flughafen einzuschleichen. In der Putzmannschaft. Und geschossen hat er auch und fiel vor Schreck, daß der Schuß losging, kopfüber in den Putzkübel, zum Glück'hat Kohler nichts bemerkt, da gerade ein viermotoriges Flugzeug startete. Schaden hätte der Attentäter ohnehin nicht anrichten können. Er hatte sich getäuscht. Ich bin doch auf den Trödler näher eingegangen. Die Patronen im Alphorn waren sorgfältig präparierte Platzpatronen. Wußte nachher nicht, was ich mit dem Gerechtigkeitsfanatiker anfangen sollte. Er war am Ende. Der Justiz übergeben mochte ich ihn nicht. Stüssi-Leupin (siehe oben) nahm sich seiner an. Verschaffte ihm eine Stelle. Sind nun einige Jahre her. Ihr Dr.H., Exkommandant. «Ich telefonierte nach Stüssikofen. Der Leuenbergerwirt meldete sich. Ich verlangte den Fürsprecher. Tot. Letzte Woche» verräblet«. Wie er geheißen habe? Geheißen? Fürsprecher. Wo er beerdigt sei? Denk in Flötigen. Ich fuhr hin. Der Friedhof lag außerhalb des Dorfes. Von einer Steinmauer eingefaßt. Ein schmiedeeisernes Eingangstor. Es war kalt. Das erste Mal im Jahr, daß ich den Winter ahnte. Friedhöfe haben für mich etwas Vertrautes. Ich spielte als Kind in einem Friedhof. Er war individuell. Jeder Tote hatte sein eigenes Grab, Grabsteine, schmiedeeiserne Kreuze, Sockel, Säulen, sogar ein Engel war zu sehen. Auf dem Grab von einem Christeli Moser. Aber der Friedhof von Flötigen war ein moderner Friedhof, ein vom Gemeinderat von Flötigen vor zehn Jahren beschlossener Friedhof. Was vor zehn Jahren gestorben war, war nicht mehr vorhanden. Da der Friedhof begrenzt war und nicht mehr erweitert werden konnte — die Bodenpreise waren zu hoch —, wurde nur zehnjähriges Liegen in der Heimaterde gestattet. Dann ab in die Ewigkeit. Doch in diesen zehn Jahren mußte man strammliegen. Jedem sein gleiches Grab. Seine gleichen Blumen. Sein gleicher Grabstein. Mit der gleichen Schrift beschriftet. So lagen die Toten in Reih und Glied, sogar der, den ich suchte. Unordentlich im Leben, ordentlich als Leiche. Der letzte neben einem noch leeren Grab. Der Grabstein und die Blumen (Astern, Chrysanthemen) waren schon gesetzt. Auf dem Grabstein:

FELIX SPÄT, FÜRSPRECHER, 1930–1984.

Zu Hause las ich noch einmal das Manuskript durch. Es mußte vom Urmanuskript abgetippt worden sein. Trotz der Dichtereien, die durch den Kommandanten hineingeraten sein mochten, war es am authentischsten. Was Späts Erzählung betrifft, rühmte er sich in Stüssikofen eines Mordes, den er nicht begangen hatte, und Kohler unterschob in München seinen Mord jenem, den er mit dem Ermordeten beseitigen wollte. Ich ließ das Manuskript fotokopieren. Die Adresse des Dr.h.c. Isaak Kohler fand ich im Telefonbuch. Ich schickte ihm die Kopie. Einige Tage später erhielt ich einen Brief von Hélène Kohler. Sie bat mich, sie zu besuchen. Der Zustand ihres Vaters lasse ihre Abwesenheit nicht zu. Ich telefonierte. Anderntags betrat ich den Kohlerschen Besitz.

Es war, als träte ich ins Manuskript ein, als kommentiere es mich, als ich vom schmiedeeisernen Gartenportal der Villa entgegenging. Die Natur atmete Reichtum. Die Oktoberflora ließ sich nicht lumpen. Die Bäume durchweg majestatisch. Noch fast sommerlich. Kein Föhn. Kunstvoll zugeschnittene Hecken und Büsche. Bemooste Statuen. Nackte bärtige Götter mit jugendlichen Hintern und Waden. Stille Teiche. Ein gravitätisches Pfauenpaar. Alles totenstill und versponnen. Nur einige Vögel waren zu vernehmen. Das Haus von wildem Wein, Efeu und Rosen umrankt, vergiebelt, groß und geräumig. Innen bequem und leicht. Antike Möbel, kostbare Stücke. An den Wänden berühmte Impressionisten. Später alte Holländer (ein uraltes Dienstmädchen führte mich). Im Arbeitszimmer Dr.h.c. Isaak Kohlers hatte ich zu warten. Der Raum war geräumig. Von der Sonne vergoldet. Durch die geöffnete Flügeltür konnte man in den Park gelangen. Die beiden Fenster, die Tür flankierend, reichten fast bis zum Fußboden. Kostbares Parkett. Ein riesiger Schreibtisch. Tiefe Ledersessel. An den Wänden keine Bilder, nur Bücher bis zur Decke. Ausschließlich mathematische und naturwissenschaftliche Werke, eine beachtliche Bibliothek. In einer weiten Nische der Billardtisch, auf welchem vier Kugeln lagen. Durch die geöffnete Tür rollte sich der uralte Dr.h.c. Isaak Kohler, noch zarter, noch zerbrechlicher, noch durchsichtiger geworden, ein Phantom beinah. Er schien mich nicht zu bemerken. Er rollte sich zum Billardtisch. Er kletterte zu meinem Erstaunen aus dem Rollstuhl und begann Billard zu spielen. Aus einer Türe im Hintergrund kam Hélène. Sportlich, Blue jeans, Seidenhemd, handgestrickte Jacke mit drei großen roten, blauen und gelben Quadraten. Sie legte einen Finger an den Mund. Ich verstand. Ich folgte ihr. Ein großer Gesellschaftsraum. Wieder eine offene Flügeltüre. Auf einer Terrasse nahmen wir Platz. Unter einer Marquise. Das letzte Mal in diesem Jahr, daß ich draußen saß. Alte Korbstühle, ein Eisentisch mit einer Schieferplatte. Auf dem Rasen eine Mähmaschine. Die ersten Laubhaufen. Die Pfauen dazwischen. Sie sagte, sie gärtnere gerade. Ein Bursche stak hinten im Park Erde um. Pfiff dabei. Die Pfauen müßten sie abschaffen. Die Nachbarn reklamierten. Sie hätten ein halbes Jahrhundert reklamiert. Aber ihr Vater liebe Pfauen. Sie glaube, nur um die Nachbarn zu ärgern. Er habe die Pfauen einfach schreien lassen. Trotz der Polizei, die von Zeit zu Zeit vorgesprochen habe. Der Pfauenschrei sei das Gräßlichste, was man hören könne. Die Häuser um sie herum hätten der Pfauen wegen an Wert verloren. Der Bodenpreis sei gesunken. Ihr Vater hätte alles aufgekauft. Die Nachbarn hätten nicht mehr zu reklamieren gewagt. Dann schenkte sie mir Tee ein. Ihr Vater sei ein Ungeheuer, sagte ich. Das könne sein, sagte sie. Ob sie das Manuskript gelesen habe? Überflogen, antwortete sie. Spät habe sie geliebt, meinte ich, darüber hatte er Hemmungen zu schreiben, und auch sie habe ihn einmal geliebt. Der gute Spät, sagte sie, die einzige, die er je geliebt habe, sei Daphne gewesen, über die schreibe er auch am lebendigsten. Die Liebe zu ihr, Hélène, bilde er sich nur ein. Habe er sich eingebildet, stellte ich richtig, der gute Spät sei vor vierzehn Tagen gestorben, im Stüssital.»Der Tee ist kalt geworden«, sagte sie und goß den Inhalt ihrer Tasse über die Terrasse auf den mit gelbem Laub bedeckten Rasen, vor die Füße des Gärtnerjungen, der frech pfeifend vorbeilief.