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So denn alles glatt gegangen war.

Wohl wissend, wie makaber sein Gedankengang war, umklammerte Brannigan seinen Stock und ließ sich auf einer Bank in unmittelbarer Nähe des Abfalleimers nieder. Von hier aus hatte er den besten Überblick, sowohl was die Stadtstreicherin betraf, die auf der Suche nach etwas Essbarem war, als auch in Bezug auf Bradlee, der, so die Abmachung, aus dem hinteren Waggon steigen würde.

Wenige Sekunden später war es schließlich so weit. Genau an der Stelle, wo Brannigan es sich bequem gemacht hatte, kam der Zug zum Stehen. Die beiden Halbstarken, offenbar nicht mehr ganz nüchtern, stiegen ein, insgesamt drei Personen, unter ihnen eine aufgetakelte, offensichtlich nach Kundschaft Ausschau haltende Blondine dagegen aus.

Von Bradlee oder dem Zarewitsch, auf den er so viele Hoffnungen gesetzt hatte, keine Spur.

Ohne Eile, dafür aber mit einer gehörigen Portion Unbehagen im Bauch, erhob sich Brannigan von seiner Bank, fluchte leise vor sich hin und humpelte auf den gelbroten S-Bahn-Waggon am Ende des Zuges zu. Ausgerechnet jetzt, im alles entscheidenden Moment, meldete sich sein steifes Bein zu Wort. Ein Souvenir an seine Zeit bei den Marines, als ihm irgendein Scheißjapse bei der Landung auf Okinawa eine Kugel verpasst und sein Knie zu Brei verarbeitet hatte. Der Schmerz ging durch Mark und Bein, setzte ihn mehrere Sekunden lang außer Gefecht. Aber Brannigan ließ sich nicht unterkriegen, biss die Zähne zusammen und humpelte weiter. Ein Kriegsinvalide an der unsichtbaren Front, unterwegs in geheimer Mission!, durchfuhr es ihn mit grimmigem Spott. Das konnte ja heiter werden.

Er sollte recht behalten. In dem Waggon, auf den er zusteuerte, rührte sich nichts. Brannigan runzelte die Stirn und blieb stehen. Irgendetwas war hier faul. Das war ihm mittlerweile bewusst.

Wie faul, sollte Jim Brannigan, im Pazifikkrieg schwer verwundeter Ex-Captain des US-Marine-Korps, umgehend bewusst werden. Nämlich dann, als sein Blick auf den Fahrgast fiel, der regungslos und wie in Stein gemeißelt am Fenster saß. Sein Kopf, so man von diesem Wort in Zusammenhang mit Bradlees Quadratschädel überhaupt Gebrauch machen konnte, war leicht zur Seite geneigt, hätte Brannigan es nicht besser gewusst, wäre er vermutlich auf den Gedanken gekommen, der Texaner habe einen über den Durst getrunken. Dass dem nicht so war, wurde ihm jedoch ziemlich rasch klar. So klar, dass er sich den Blick ins Wageninnere sparen konnte.

Doch davon konnte natürlich keine Rede sein. Brannigan wandte sich ab, biss die Zähne zusammen und humpelte fluchend und schwitzend auf die Waggontür zu. Dass die gegenüberliegende Tür offenstand, nahm er nur im Vorbeigehen wahr, den Leichnam auf dem Platz am Fenster dagegen umso mehr.

Special Agent Dave Bradlee, wohnhaft in Blackwell, Texas, war nicht einfach nur getötet, sondern durch einen gezielten Kopfschuss, vermutlich aus allernächster Nähe, regelrecht exekutiert worden. Das Loch knapp oberhalb der Nasenwurzel sprach eine deutliche Sprache, und Brannigan war lange genug in der Branche tätig, um sofort die richtigen Schlüsse zu ziehen. Ohne jeden Zweifel war hier ein Experte am Werk gewesen, ein Profi aus echtem Schrot und Korn. Jemanden zu töten war eine Sache, anschließend aber noch die Kaltblütigkeit zu besitzen, sein Opfer wie eine Schaufensterpuppe in Position zu bringen, etwas anderes. Für dergleichen kam nur einer infrage, und Brannigan brauchte nicht groß nachzudenken, auf wessen Konto der Schlamassel hier ging.

Kuragin. Juri Andrejewitsch Kuragin. Brannigan stieß eine nicht gerade stubenreine Verwünschung aus. Hatte dieser gerissene Hund also tatsächlich Lunte gerochen und es geschafft, Bradlee schachmatt zu setzen. Kaum zu glauben, aber wahr.

Blieb die Frage, wie er es fertiggebracht hatte, rechtzeitig abzuhauen.

Und wohin.

Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Kaum war Brannigan bewusst geworden, dass sein ehemaliger Schützling demnächst zum Staatsfeind Nummer eins erklärt werden würde, wanderte sein Blick zum Fenster. Er musste zweimal hinsehen, war doch das, was sich auf dem gegenüberliegenden Bahnsteig abspielte, so unglaublich, dass er es zunächst nicht wahrhaben wollte.

Da stand er nun, sein Musterschüler, einen Aktenkoffer in der Hand und ein Lächeln auf dem gebräunten und mediterran anmutenden Gesicht. Deutete auf die Waggontür, über die er ins Freie gelangt war, und besaß die Dreistigkeit, den versiegelten braunen Umschlag, auf den demnächst die halbe CIA Jagd machen würde, aus dem Jackett zu ziehen und ihn seinem einstigen Mentor wie einen Köder darzubieten.

So selbstsicher und siegesgewiss, dass ein alter Fuchs namens Jim Brannigan erst gar nicht den Versuch machte, sich an seine Fersen zu heften.

VIER

›Hatte irgendein amerikanischer Geheimdienst glaubwürdige Vorausinformationen über die bevorstehende Grenzschließung besessen? Wenn der Kreis der Eingeweihten erst am Freitag, dem 11. August, erweitert wurde und die Aktion erst am Samstagnachmittag anlief, muss die Antwort nein lauten.‹

(Aus: George Bailey / Sergej A. Kondraschow / David E. Murphy: Die unsichtbare Front. Der Krieg der Geheimdienste im geteilten Berlin. Berlin 2000, S. 435)

ZAREWITSCH

Berlin / Hyannis Port,

USA / Wünsdorf,

Mark Brandenburg

(12.08.1961)

7

Berlin-Wannsee, Strandbad | 14.50 h

Am Wochenende dienstfrei, stahlblauer Himmel und ein Panorama, wie es schöner nicht hätte sein können. Die bewaldeten Höhen jenseits der Havel, über deren Wipfel eine leichte Brise strich, der Wannsee, auf dem ein halbes Dutzend Segelboote und eine Motorjacht kreuzten, die sanften, im feinkörnigen Sand verebbenden Wellen und der Geruch von gebratenen Buletten in der Luft. Die Weiße mit Schuss, deren Geschmack er sich gerade auf der Zunge zergehen ließ, nicht zu vergessen.

Und Lea, die ihm gerade den Rücken eincremte.

So konnte man es wirklich aushalten.

Tom Sydow, 48 Jahre alter Hauptkommissar der Kripo Berlin, stieß einen wonnetrunkenen Seufzer aus, bettete das Kinn auf die verschränkten Hände und schloss die Augen. Lea, mit der er auf den Tag genau acht Jahre verheiratet war, hatte den Bogen raus, das musste ihr der Neid lassen. Von ihm aus konnte es noch ein paar Stunden so weitergehen, zumindest bis heute Abend. Oder am besten bis morgen früh.

Verdient hatte er sich das traute Beisammensein allemal. Im laufenden Monat, dem anstrengendsten eines noch viel anstrengenderen Jahres 1961, hatte er keinen einzigen Tag freibekommen, und er konnte sich nicht entsinnen, jemals so viel zu tun gehabt zu haben. Bislang war ihm die befürchtete Beförderung zum Kriminalrat zwar erspart geblieben, aber das bedeutete nicht, dass er auf der faulen Haut gelegen wäre. Angefangen beim Aktenwälzen, für das er nun wirklich nicht geschaffen war, hatte er gleich ein halbes Dutzend Fälle zu bearbeiten gehabt. Betrug, Einbruch, unerlaubter Waffenbesitz, die ganze Palette sozusagen. Damit ihm nur nicht langweilig wurde. Schlimmer als die Belastungen, die sein Beruf mit sich brachte, war jedoch die Nachricht gewesen, seine mittlerweile 23-jährige Stieftochter Veronika habe sich in einen Beamten der DDR-Volkspolizei verknallt. Wohl wissend, dass Sydow auf seine Kollegen im Ostteil der Stadt nicht besonders gut zu sprechen war, hatte Lea zwar versucht, ihm die Neuigkeit so schonend wie möglich beizubringen. Geändert hatte sich an Sydows Gemütsverfassung, der während der letzten acht Jahre Veronika wie einen Augapfel gehütet hatte, jedoch nichts. Seiner Ansicht nach gehörten sämtliche Vopos auf den Mond geschossen, und zwar auf Nimmerwiedersehen. Ulbricht und Konsorten, mit denen er ohnehin auf Kriegsfuß stand, selbstredend mit inbegriffen.