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Eingekeilt in die immer dichter werdende Menge, sah sich Sydow Hilfe suchend um. Vopos, Stacheldraht und Militärfahrzeuge, so viele, dass man mit dem Zählen beinahe nicht nachkam. Und was geschah? Nichts. Das sollte mal einer verstehen. Ein halbes Dutzend amerikanische Panzer, und Chruschtschows Lakaien, die all das hier zu verantworten hatten, würden den Schwanz einziehen. Davon war er felsenfest überzeugt. Zutiefst verbittert, hatte Sydow Mühe, seinen Groll gegen die Machthaber in der DDR zu unterdrücken. Ende der Vorstellung, Pustekuchen. An einer Konfrontation mit den Russen waren Kennedy, Macmillan43, de Gaulle und wie sie sonst noch alle hießen, anscheinend nicht interessiert. Nicht im Entferntesten. Paroli bieten ja, aber wenn, dann nicht in Berlin. So und nicht anders lautete die Botschaft, welche aus London und Washington übermittelt wurde.

Die Menge, mittlerweile mehrere Hundert Passanten stark und zusehends in Rage, dachte anscheinend ebenso wie er. Drohungen wurden ausgestoßen, Parolen skandiert, die Uniformierten vor dem Brandenburger Tor mit Schimpfwörtern überhäuft. Das Gedränge wuchs, und mit jeder Minute, die verstrich, auch die Gefahr, dass die Lage eskalieren würde. Auge in Auge mit einer wütenden, nach vorn drängenden und vermutlich zu allem entschlossenen Menge, hatten die Westberliner Polizisten alle Hände voll zu tun, um die Passanten, für die es offenbar kein Halten mehr gab, in Schach zu halten. Es hätte nicht viel gefehlt, und der Zorn, welcher sich im Angesicht der waffenstarrenden Phalanx entlud, wäre in Gewalt umgeschlagen. Sydow tat sein Bestes, um die Umstehenden zu besänftigen, aber da es für ihn Wichtigeres gab, bahnte er sich einen Weg durch die Menge und ließ das Brandenburger Tor, vor dem in diesem Augenblick Geschichte geschrieben wurde, hinter sich.

Er hatte genug gesehen, zumindest für den Augenblick. Was zählte, war allein Lea, Lea und nochmals Lea. Und natürlich Veronika. Was war mit ihr passiert, weshalb waren sie und Vroni nicht am vereinbarten Treffpunkt erschienen? War sie kontrolliert, am Ende gar von den Vopos aufgegriffen worden? Oder hatte sie vielleicht jemand denunziert? Oder hatte sie, weshalb auch immer, auf einen anderen Sektorenübergang ausweichen müssen? Nur noch von dem Gedanken beseelt, Lea ausfindig zu machen, eilte Sydow zum Potsdamer Platz, vorbei an den Vopos, welche entlang der Ebertstraße Aufstellung nahmen und die Sektorengrenze mithilfe von Stacheldraht abzusichern begannen. Noch war ihr Werk nicht vollendet, noch gab es Stellen, an denen beherzte Westberliner die Spirallagen zur Seite schoben, Lücken, durch die auf der anderen Seite wartende Ostberliner entkommen konnten. Sydow half, wo er nur konnte. Doch dann, nur einen Steinwurf vom Potsdamer Platz entfernt, tauchten mehrere Schützenpanzer auf, gefolgt von Baukolonnen, die weitere Stacheldrahtspiralen verlegten. Auf die wiederum ein Trupp Volkspolizei folgte, im Begriff, möglichst viele Ostberliner an der Flucht zu hindern.

Drauf und dran, seine Waffe zu ziehen, blieb Sydow stehen und sah den Hauptmann, der den Befehl zur Ergreifung einer vierköpfigen Familie gab, mit einer Mischung aus Wut und Entsetzen an. Vor 16 Jahren, bei Kriegsende, hatte er noch gehofft, dass sich Szenen wie diese so schnell nicht wiederholen würden. Nicht einmal im Traum hätte er damals daran gedacht, dass er eines Besseren belehrt werden würde.

»Hände weg von den Leuten!«, herrschte Sydow den Hauptmann der DVP44 an, ziemlich sicher, ihn schon einmal gesehen zu haben. Dieser wiederum, höchstens 20 Meter von ihm entfernt, dachte offenbar nicht daran, klein beizugeben, stemmte die Hände in die Hüften und näherte sich der Demarkationslinie, um Sydow zurechtzuweisen.

Sehr weit kam der schneidige, hoch aufgeschossene und dunkelhaarige Endzwanziger mit der tadellos sitzenden grünen Uniform, Prototyp des dienstbeflissenen Staatsdieners, jedoch nicht. Den Mund halb offen, blieb ihm die Antwort, die er Sydow geben wollte, gleichsam im Halse stecken. Im Licht der Scheinwerfer, welche auf östlicher Seite aufgestellt worden waren, wirkte er noch bleicher als sonst, bleicher als der forsche Absolvent der Polizeischule, den sein Gegenüber, kaum weniger überrascht als er, bereits mehrfach getroffen hatte.

Es war Sydow, der als Erstes die Sprache wiederfand, just in dem Moment, als die Ostberliner Familie eine Lücke im Stacheldraht erspähte, die Verblüffung der Uniformierten, welche ihrem Vorgesetzten fragende Blicke zuwarfen, kurzerhand ausnutzte und wohlbehalten auf die andere Seite der Demarkationslinie entkam. »Wo sind Lea und Veronika?«, schrie Sydow den Vopo an, froh über die Drahtrolle, welche ihn davon abhielt, eine neuerliche Dummheit zu begehen. Der Hauptmann, an dem seine Stieftochter aus unerfindlichen Gründen einen Narren gefressen hatte, öffnete den Mund, um etwas zu sagen, überlegte es sich jedoch anders und bedeutete seinen Leuten, die Lücke im Stacheldraht zu schließen. »Raus mit der Sprache, Viktor, sonst kannst du was erleben!«

»Wenn Sie klug sind, guter Mann, halten Sie jetzt den Mund!«, bellte der Vopo zurück und tat so, als habe er Sydow noch nie gesehen. Dies gelang ihm mehr schlecht als recht, was jenen erst richtig in Rage brachte. »Sonst sehe ich mich gezwungen, Maßnahmen gegen Ihre Provokation zu ergreifen!«

»Du sagst mir jetzt, wo die beiden sind«, knirschte Sydow, kurz davor, ausfallend zu werden, und trat gegen den Pfosten, an dem der Stacheldraht befestigt worden war, »haben wir uns verstanden, Herr Kunersdorf? Sonst …«

»Wachtmeister Kallwass, Leutnant Strelitz – weisen Sie den Mann darauf hin, dass er sich des unerlaubten Grenzübertritts schuldig gemacht und für den Fall, dass er seine Provokationen nicht unterlässt, mit ernsthaften Konsequenzen zu rechnen hat.«

»Sag mal, du Schnösel, hast du eigentlich nichts Besseres zu tun als den Hilfssheriff zu spielen?«, brüllte Sydow, während seine Hand unter dem Sakko verschwand und nach dem Halfter tastete, in dem sich seine Dienstwaffe, eine geladene Walther P4, befand. »Grenzverletzung – komm mir doch nicht mit so was. Welche Grenze denn, verdammt noch mal? Ohne Chruschtschow und die Genossen in Moskau hättet ihr doch schon lange einpacken können. Und jetzt kommt der Herr Hauptmann daher und besitzt die Frechheit, das Wort Grenze in den Mund zu nehmen. Soll ich dir was sagen, du Klugscheißer? Wenn ihr schlau seid, hängt ihr eure Uniform an den Nagel und seht zu, dass ihr die Kurve kratzt. Sonst sehe ich schwarz, junger Mann!«

»Noch ein Wort, und ich sehe mich gezwungen, von der Waffe Gebrauch zu machen!«

»Nur zu, tu dir keinen Zwang an. Zum letzten Mal, Viktor – wo sind Lea und Veronika?«

»Lea? Veronika? Nie gehört.«

»Na schön, Herr Hauptmann, du hast es ja nicht anders gewollt!«, knurrte Sydow, den Griff seiner Waffe bereits in der Hand. »Ich zähle jetzt bis drei, und dann werden wir sehen, ob du und deine Kumpels ihr Handwerk verstehen!«

»Falls du es genau wissen willst, Tom«, zischte Kunersdorf und bedeutete seinen Leuten, sich außer Hörweite zu begeben, »Vroni ist dort, wo sie hingehört.«

»Bei dir zu Hause, stimmt’s? Ohne von dem, was hier abläuft, auch nur die geringste Ahnung zu haben.«

»Du hast es erfasst.«

»Und Lea?«

»Verhaftet!«, stieß Kunersdorf mit verkniffener Miene hervor, »keine 100 Meter von meiner Wohnung entfernt.«

»Verhaftet? Von wem?«

»Na, von wem wohl?«, blaffte der Hauptmann und sah sich rasch nach allen Seiten um. »Hör zu, Tom, ich war gerade auf dem Weg zum Dienst, als es … Ob du mir’s glaubst oder nicht, ich konnte wirklich nichts für sie tun!«

»Du sagst mir jetzt, wo sie hingebracht worden ist, Viktor, oder ich jage dir auf der Stelle eine Kugel durch den …«