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Indessen schritt sein Gast neugierig und vergnügt durchs Städtchen, pfiff einen Soldatenmarsch durch die Zähne und begann ohne Eile die Orte und Menschen aufzusuchen, die er von früher her kannte. Zunächst wandte er sich nach der steil ansteigenden Vorstadt, wo er einen armen Flickschneider kannte, um den es schade war, daß er nichts als alte Hosen zu stopfen und kaum jemals einen neuen Anzug zu machen bekam, denn er konnte etwas und hatte einmal Hoffnungen gehabt und in guten Werkstätten gearbeitet. Aber er hatte früh geheiratet und schon ein paar Kinder, und die Frau hatte wenig Genie fürs Hauswesen.

Diesen Schneider Schlotterbeck suchte und fand Knulp im dritten Stockwerk eines Hinterhauses in der Vorstadt. Die kleine Werkstätte hing wie ein Vogelnest in den Lüften überm Bodenlosen, denn das Haus stand an der Talseite, und wenn man durch die Fenster senkrecht hinabschaute, hatte man nicht nur die drei Stockwerke unter sich, sondern unterm Hause floh der Berg mit kümmerlichen steilen Gärten und Grashalden schwindelnd abwärts, endigend in einem grauen Wirrwarr von Hinterhausvorsprüngen, Hühnerhöfen, Ziegen– und Kaninchenställen, und die nächsten Hausdächer, auf die man hinabsah, lagen jenseits dieses verwahrlosten Geländes schon tief und klein im Tale drunten. Dafür war die Schneiderwerkstatt taghell und luftig, und auf seinem breiten Tisch am Fenster hockte der fleißige Schlotterbeck hell und hoch über der Welt wie der Wächter in einem Leuchtturm.

»Servus, Schlotterbeck,« sagte Knulp im Eintreten, und der Meister, vom Licht geblendet, spähte mit eingekniffenen Augen nach der Türe.

»Oha, der Knulp!« rief er aufleuchtend und streckte ihm die Hand entgegen. »Auch wieder im Land? Und wo fehlt’s denn, daß du zu mir herauf steigst?«

Knulp zog einen dreibeinigen Stuhl heran und setzte sich nieder.

»Gib eine Nadel her und ein bißchen Faden, aber braunen und vom feinsten, ich will Musterung halten.«

Damit zog er Rock und Weste aus, suchte sich einen Zwirn heraus, fädelte ein und überging mit wachsamen Augen seinen ganzen Anzug, der noch sehr gut und fast neu aussah und an dem er jede blöde Stelle, jede lockere Litze, jeden halbwegs losen Knopf alsbald mit fleißigen Fingern wieder instand setzte.

»Und wie geht’s sonst?« fragte Schlotterbeck. »Die Jahreszeit ist nicht zu loben. Aber schließlich, wenn man gesund ist und keine Familie hat –«

Knulp räusperte sich polemisch.

»Ja, ja,« sagte er lässig. »Der Herr läßt regnen über Gerechte und Ungerechte, und nur die Schneider sitzen trocken. Hast du immer noch zu klagen, Schlotterbeck?«

»Ach, Knulp, ich will nichts sagen. Du hörst ja die Kinder nebendran schreien. Es sind jetzt fünf. Da sitzt man und schuftet bis in alle Nacht hinein, und nirgends will’s reichen. Und du tust nichts als spazierengehen!«

»Fehlgeschossen, alter Kunde. Vier oder fünf Wochen bin ich im Spital in Neustadt gelegen, und da behalten sie keinen länger, als er’s bitter nötig hat, und es bleibt auch keiner länger drin. Des Herrn Wege sind wunderbar, Freund Schlotterbeck.«

»Ach laß diese Sprüche, du!«

»Bist du denn nimmer fromm, he? Ich will es gerade auch werden, und darum bin ich zu dir gekommen. Wie steht’s damit, alter Stubenhocker?«

»Laß mich in Ruh’ mit der Frömmigkeit! Im Spital, sagst du? Da tust du mir aber leid.«

»Ist nicht nötig, es ist vorbei. Und jetzt erzähl einmaclass="underline" wie ist’s mit dem Buch Sirach und mit der Offenbarung? Weißt du, im Spital hab ich Zeit gehabt, und eine Bibel war auch da, da hab ich fast alles gelesen und kann jetzt besser mitreden. Es ist ein kurioses Buch, die Bibel.«

»Da hast du recht. Kurios, und die Hälfte muß verlogen sein, weil keins zum andern paßt. Du verstehst’s vielleicht besser, du bist ja einmal in die Lateinschule gegangen.«

»Davon ist mir wenig geblieben.«

»Siehst du, Knulp –.« Der Schneider spuckte zum offenen Fenster in die Tiefe hinunter und sah mit großen Augen und erbittertem Gesicht hinterdrein. »Sieh, Knulp, es ist nichts mit der Frömmigkeit. Es ist nichts damit, und ich pfeife drauf, sag ich dir. Ich pfeife drauf!«

Der Wanderer sah ihn nachdenklich an.

»So, so. Das ist aber viel gesagt, alter Kunde. Mir scheint, in der Bibel stehen ganz gescheite Sachen.«

»Ja, und wenn du ein Stück weiterblätterst, dann steht immer irgendwo das Gegenteil. Nein, ich bin fertig damit, aus und fertig.«

Knulp war aufgestanden und hatte nach einem Bügeleisen gegriffen.

»Du könntest mir ein paar Kohlen drein geben,« bat er den Meister.

»Zu was denn auch?«

»Ich will die Weste ein wenig bügeln, weißt du, und dem Hut wird es auch gut tun, nach all dem Regen.«

»Immer nobel!« rief Schlotterbeck etwas ärgerlich. »Was brauchst du so fein zu sein wie ein Graf, wenn du doch nur ein Hungerleider bist?«

Knulp lächelte ruhig. »Es sieht besser aus, und es macht mir eine Freude, und wenn du’s nicht aus Frömmigkeit tun willst, so tust du’s einfach aus Nettigkeit und einem alten Freund zuliebe, gelt?«

Der Schneider ging durch die Tür hinaus und kam bald mit dem heißen Eisen wieder.

»So ist’s recht,« lobte Knulp, »danke schön!«

Er begann vorsichtig den Rand seines Filzhutes zu glätten, und da er hierin nicht so geschickt war wie im Nähen, nahm ihm der Freund das Eisen aus der Hand und tat die Arbeit selber.

»Das laß ich mir gefallen,« sagte Knulp dankbar. »Jetzt ist es wieder ein Sonntagshut. Aber schau, Schneider, von der Bibel verlangst du zu viel. Das, was wahr ist, und wie das Leben eigentlich eingerichtet ist, das muß ein jeder sich selber ausdenken und kann es aus keinem Buch lernen, das ist meine Meinung. Die Bibel ist alt, und früher hat man mancherlei noch nicht gewußt, was man heute kennt und weiß; aber darum steht doch viel Schönes und Braves drin, und auch ganz viel Wahres. Stellenweise ist sie mir gerade wie ein schönes Bilderbuch vorgekommen, weißt du. Wie das Mädchen da, die Ruth, übers Feld geht und die übrigen Ähren sammelt, das ist fein, und man spürt den schönsten warmen Sommer drin, oder wie der Heiland sich zu den kleinen Kindern setzt und denkt: ihr seid mir doch viel lieber als die Alten mit ihrem Hochmut alle zusammen! Ich finde, da hat er recht, und da könnte man schon von ihm lernen.«

»Ja, das wohl,« gab Schlotterbeck zu und wollte ihn doch nicht Recht haben lassen. »Aber einfacher ist es schon, wenn man das mit andrer Leute Kindern tut, als wenn man selber fünfe hat und weiß nicht, wie sie durchfüttern.«

Er war wieder ganz verdrossen und bitter, und Knulp konnte das nicht ansehen. Er wünschte ihm, ehe er gehe, noch etwas Gutes zu sagen. Er besann sich ein wenig. Dann beugte er sich zu dem Schneider, sah ihm mit seinen hellen Augen nah und ernsthaft ins Gesicht und sagte leise: »Ja, hast du sie denn nicht lieb, deine Kinder?«

Ganz erschrocken riß der Schneider die Augen auf. »Aber freilich, was denkst du auch! Natürlich hab ich sie lieb, den Größten am meisten.«

Knulp nickte mit großem Ernst.

»Ich will jetzt gehen, Schlotterbeck, und ich sage dir schönen Dank. Die Weste ist jetzt gerade das Doppelte wert. – Und dann, mit deinen Kindern mußt du lieb und lustig sein, das ist schon halb gegessen und getrunken. Paß auf, ich sage dir etwas, was niemand weiß und was du nicht weiter zu erzählen brauchst.«

Der Meister sah ihm aufmerksam und überwunden in die klaren Augen, die sehr ernst geworden waren. Knulp sprach jetzt so leise, daß der Schneider Mühe hatte, ihn zu verstehen.