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Fürst Nikolai Andrejewitsch hatte durch Mademoiselle Bourienne von all den Gerüchten, die in der Stadt umgingen, Kenntnis und hatte auch den Brief Nataschas an Prinzessin Marja gelesen, in welchem Natascha von der Verlobung zurücktrat. Er erschien heiterer als sonst und wartete mit großer Ungeduld auf die Ankunft seines Sohnes.

Einige Tage nach Anatols Abreise erhielt Pierre ein Billett vom Fürsten Andrei, der ihm seine Ankunft mitteilte und ihn um seinen Besuch bat.

Fürst Andrei hatte gleich im ersten Augenblick nach seinem Eintreffen in Moskau von seinem Vater Nataschas Brief an Prinzessin Marja erhalten, in welchem sie ihrem Bräutigam absagte (diesen Brief hatte Mademoiselle Bourienne der Prinzessin Marja entwendet und dem Fürsten übergeben), und von dem Vater die Geschichte von Nataschas Entführung mit allerlei Zusätzen zu hören bekommen.

Am Abend war Fürst Andrei angekommen, und am Vormittag des folgenden Tages fuhr Pierre zu ihm. Pierre erwartete, ihn etwa in derselben Gemütsverfassung anzutreffen, in der sich Natascha befand, und war daher höchst erstaunt, als er beim Eintritt in den Salon aus dem Arbeitszimmer des alten Herrn die laute Stimme des Fürsten Andrei hörte, der lebhaft über irgendeine Petersburger politische Intrige sprach. Der alte Fürst und noch jemand, welchen Pierre an der Stimme nicht erkannte, unterbrachen ihn mitunter. Prinzessin Marja kam in den Salon, um Pierre zu begrüßen. Sie seufzte und deutete mit den Augen nach der Tür des Arbeitszimmers, in welchem Fürst Andrei sich befand, wodurch sie offenbar ihr Mitgefühl mit seinem Kummer zum Ausdruck bringen wollte; aber Pierre sah an dem Gesicht der Prinzessin Marja, daß sie sich freute, und zwar sowohl über das Geschehene, als auch über die Art, wie ihr Bruder die Nachricht von der Untreue seiner Braut aufgenommen hatte.

»Er hat gesagt, das habe er erwartet«, sagte sie. »Ich weiß, daß sein Stolz ihm nicht erlaubt, seine Gefühle sichtbar werden zu lassen; aber er hat es doch besser, weit besser ertragen, als ich erwartet hatte. Es hat offenbar so sein sollen …«

»Aber ist denn wirklich alles ganz zu Ende?« fragte Pierre.

Prinzessin Marja sah ihn erstaunt an. Sie begriff gar nicht, wie jemand überhaupt noch so fragen konnte. Pierre ging in das Arbeitszimmer hinein. Fürst Andrei, der sehr verändert aussah und augenscheinlich gesünder geworden war, aber eine neue Querfalte zwischen den Brauen bekommen hatte, stand in Zivilkleidung vor seinem Vater und dem Fürsten Meschtscherski und debattierte mit großer Lebhaftigkeit und unter energischen Handbewegungen. Es war von Speranski die Rede; die Nachricht von seiner plötzlichen Verbannung und seiner angeblichen Verräterei war soeben nach Moskau gelangt.

»Jetzt beschuldigen und verdammen ihn alle diejenigen, die noch vor einem Monat für ihn begeistert waren«, sagte Fürst Andrei, »und nicht minder diejenigen, die nicht imstande waren, seine Ziele zu begreifen. Es ist sehr leicht, über einen in Ungnade Gefallenen den Stab zu brechen und ihm alle von anderen begangenen Fehler zuzuschieben; aber ich sage: wenn unter der jetzigen Regierung etwas Gutes geschaffen ist, so ist es alles von ihm geschaffen, einzig und allein von ihm …«

Er hielt inne, da er Pierre erblickte. Sein Gesicht zuckte und nahm sogleich einen finsteren Ausdruck an.

»Und die Nachwelt wird ihm Gerechtigkeit widerfahren lassen«, schloß er und wandte sich dann sofort zu Pierre.

»Nun, wie geht es dir? Du wirst ja immer dicker«, sagte er lebhaft; aber die neu entstandene Falte hatte sich noch tiefer in seine Stirn eingegraben. »Ja, ich bin gesund«, antwortete er auf Pierres Frage und lächelte dabei.

Pierre war sich darüber klar, daß dieses Lächeln besagte: »Ich bin gesund; aber ob ich gesund bin oder nicht, das hat für niemand Interesse.«

Er sprach mit Pierre ein paar Worte über die scheußlichen Wege von der polnischen Grenze an, und daß er in der Schweiz mit Bekannten von Pierre zusammengetroffen sei, und über einen Herrn Dessalles, den er als Erzieher für seinen Sohn aus dem Ausland mitgebracht habe, und nahm dann wieder mit großem Eifer an dem Gespräch über Speranski teil, das die beiden alten, Herren inzwischen fortgesetzt hatten.

»Hätte er wirklich Verrat begangen und lägen Beweise vor, daß er mit Napoleon geheime Beziehungen unterhalten hätte, so würde man diese Beweise vor der ganzen Welt veröffentlichen«, sagte er schnell und in lebhafter Erregung. »Ich persönlich liebe Speranski nicht und habe ihn nie geliebt; aber ich liebe die Gerechtigkeit.«

Pierre erkannte jetzt an seinem Freund eine ihm nur zu wohl bekannte Eigenheit wieder: das Bestreben, sich aufzuregen und über eine ihn nicht tiefer berührende Sache zu streiten, lediglich um seine allzu schmerzlichen seelischen Erregungen zu übertäuben.

Sobald sich Fürst Meschtscherski empfohlen hatte, faßte Fürst Andrei Pierre unter den Arm und lud ihn ein, mit ihm in das Zimmer zu gehen, das für ihn eingerichtet war. In dem Zimmer war ein Bett aufgeschlagen; geöffnete Koffer und Mantelsäcke standen auf dem Fußboden. Fürst Andrei trat an einen Koffer heran und holte eine Schatulle hervor. Aus der Schatulle nahm er ein in Papier geschlagenes Päckchen heraus. Alles dies tat er schweigend und sehr schnell. Er richtete sich gerade und räusperte sich. Sein Gesicht war finster, die Lippen zusammengepreßt.

»Verzeih mir, wenn ich dich mit einem Auftrag belästige.«

Pierre merkte, daß Fürst Andrei von Natascha reden wollte, und sein breites Gesicht nahm einen Ausdruck von Mitgefühl und Teilnahme an. Aber über diesen Gesichtsausdruck seines Freundes ärgerte sich Fürst Andrei; er fuhr mit fester, lauter Stimme in unfreundlichem Ton fort: »Ich habe von der Komtesse Rostowa eine Absage erhalten, und es sind mir Gerüchte zu Ohren gekommen von einer Bewerbung deines Schwagers um ihre Hand, oder von etwas Ähnlichem. Ist das wahr?«

»Wahr und auch nicht wahr«, begann Pierre; aber Fürst Andrei unterbrach ihn.

»Da sind ihre Briefe und ihr Porträt«, sagte er.

Er nahm das Päckchen vom Tisch und übergab es Pierre.

»Gib es der Komtesse, wenn du sie siehst.«

»Sie ist sehr krank«, sagte Pierre.

»Also ist sie noch hier?« fragte Fürst Andrei. »Und Fürst Kuragin?« fügte er schnell hinzu.

»Der ist schon lange abgereist. Sie war dem Tod nahe …«

»Ich bedauere ihre Krankheit außerordentlich«, sagte Fürst Andrei. Er lächelte in einer unangenehmen Art, kalt und böse, wie sein Vater.

»Also hat Herr Kuragin die Komtesse Rostowa nicht seiner Hand gewürdigt?« fragte Fürst Andrei.

Er schnob in der Manier seines Vaters mehrmals hörbar mit der Nase.

»Er konnte sie nicht heiraten, weil er schon verheiratet ist«, erwiderte Pierre.

Fürst Andrei lachte in unangenehmer Weise auf, wodurch er wieder an seinen Vater erinnerte.

»Und wo befindet er sich jetzt, dein Schwager? Darf ich das erfahren?« fragte er.

»Er ist nach Petersburg gereist … oder vielmehr, ich weiß es nicht«, antwortete Pierre.

»Nun, es ist ja auch ganz gleichgültig«, sagte Fürst Andrei. »Bestelle also der Komtesse Rostowa von mir, daß sie vollkommene Freiheit hatte und hat, zu handeln, wie sie will, und daß ich ihr alles Gute wünsche.«

Pierre nahm das Päckchen mit den Briefen in Empfang. Fürst Andrei sah ihn mit starrem Blick an, als besänne er sich, ob er nicht noch irgend etwas zu sagen habe, oder als wartete er, ob Pierre nicht noch etwas sagen wolle.

»Hören Sie, erinnern Sie sich noch an einen Streit, den wir einmal in Petersburg hatten?« sagte Pierre. »Erinnern Sie sich an …«

»Ich erinnere mich«, unterbrach ihn Fürst Andrei hastig. »Ich sagte, man müsse einer gefallenen Frau verzeihen; aber ich habe nicht gesagt, daß ich dazu imstande wäre. Ich kann es nicht.«

»Lassen sich denn diese beiden Dinge auf eine Stufe stellen …?« begann Pierre.