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»Adele wollte mir abreden: ›Sie kaufen und kaufen!‹ sagte sie«, berichtete Pierre.

»Wann werde ich denn den tragen?« Natascha steckte ihn sich ins Haar. »Wenn wir unsere kleine Marja in Gesellschaft führen werden; vielleicht trägt man dann wieder solche. Nun, dann komm.«

Sie faßten ihre Geschenke zusammen und gingen zuerst in das Kinderzimmer, dann zu der alten Gräfin.

Die Gräfin war schon über sechzig Jahre alt. Sie hatte graues Haar und trug eine Haube, die ihr ganzes Gesicht mit einer Rüsche umrahmte. Ihr Gesicht war runzlig, die Oberlippe eingeschrumpft, die Augen blickten trübe.

Nachdem ihr Sohn und ihr Mann so schnell hintereinander gestorben waren, hatte sie die Empfindung, sie sei ein Wesen, das nur so zufällig auf der Welt vergessen sei und keinen Sinn und Zweck mehr habe. Sie aß und trank, schlief und wachte; aber sie lebte eigentlich nicht. Das Leben machte ihr keinen Eindruck. Sie verlangte vom Leben nichts als Ruhe, und diese Ruhe konnte sie nur im Tod finden. Aber bis der Tod kam, mußte sie leben, d.h. ihre Lebenskräfte gebrauchen. Es trat bei ihr im höchsten Grad eine Eigenheit hervor, die man bei sehr kleinen Kindern und sehr alten Leuten wahrnehmen kann. Es war in ihrem Leben kein äußerer Zweck zu sehen; sichtbar war bei ihr nur das Bedürfnis, ihre mancherlei Neigungen und Fähigkeiten zu üben. Sie mußte essen, schlafen, denken, reden, weinen, arbeiten, sich ärgern usw., lediglich weil sie einen Magen, ein Gehirn, Muskeln, Nerven und eine Leber hatte. Alles dies tat sie, ohne durch eine äußere Einwirkung dazu veranlaßt zu sein, nicht so, wie das Menschen tun, die in voller Lebenskraft stehen, wo man über dem Zweck, den sie selbst verfolgen, den andern Zweck, der in dem Gebrauch der vorhandenen Kräfte besteht, nicht wahrnimmt. Sie redete nur, weil es ihr ein physisches Bedürfnis war, mit der Lunge und der Zunge zu arbeiten. Sie weinte wie ein Kind, weil es ihr ein Bedürfnis war, die Flüssigkeit aus den Augen und der Nase loszuwerden, usw. Wo Leute, die in voller Lebenskraft stehen, einen Zweck haben, da benutzte sie offenbar nur eine Gelegenheit.

So zeigte sich bei ihr morgens, namentlich wenn sie am vorhergehenden Abend etwas Fettes gegessen hatte, das Bedürfnis, sich zu ärgern, und dann wählte sie sich dazu als die nächste Gelegenheit Fräulein Bjelowas Taubheit.

Sie sagte zu ihr irgend etwas leise vom andern Ende des Zimmers her.

»Heute scheint es etwas wärmer zu sein, meine Liebe«, sagte sie flüsternd.

Und wenn dann Fräulein Bjelowa antwortete: »Gewiß, sie sind angekommen«, so brummte sie ärgerlich vor sich hin: »Mein Gott, wie taub und dumm!«

Eine andre Gelegenheit bot sich durch ihren Schnupftabak, der ihr bald zu trocken, bald zu feucht, bald schlecht gerieben vorkam. Nach diesen Gemütserregungen ergoß sich ihr die Galle ins Gesicht, und ihre Stubenmädchen wußten schon an sicheren Vorzeichen voraus, wann Fräulein Bjelowa wieder taub und der Tabak wieder zu feucht und das Gesicht der alten Gräfin wieder gelb sein werde. Ebenso wie es ihr ab und zu Bedürfnis war, ihre Galle ein wenig arbeiten zu lassen, so mußte sie auch von Zeit zu Zeit die ihr noch verbliebenen Fähigkeiten in Tätigkeit setzen, z.B. die Denkfähigkeit, und dazu bot die Patience eine geeignete Gelegenheit. Wenn sie das Bedürfnis hatte zu weinen, so war der verstorbene Graf ein passender Gegenstand. Wenn sie das Bedürfnis hatte sich zu beunruhigen, so fand sie dazu Gelegenheit bei Nikolai und seiner Gesundheit. Verlangte es sie, spitze, giftige Reden zu führen, so war dazu Gräfin Marja ein stets bereiter Anlaß. Verspürte sie das Bedürfnis, ihr Sprechorgan zu üben (dies war meist gegen sieben Uhr abends der Fall, nachdem sie zum Zweck der Verdauung sich in der dunklen Stube eine Weile ausgeruht hatte), so zog sie die Gelegenheit an den Haaren herbei, immer dieselben Geschichten denselben Zuhörern zu erzählen.

Über diesen Zustand der alten Dame waren alle Hausgenossen sich klar, wiewohl nie jemand darüber sprach und alle sich aufs eifrigste bemühten, diese ihre Bedürfnisse zu befriedigen. Nur selten fand dieses gemeinsame Verständnis für den Zustand der alten Gräfin seinen Ausdruck in einem traurigen, leise lächelnden Blick, den Nikolai, Pierre, Natascha und Gräfin Marja miteinander wechselten.

Aber diese Blicke sagten außerdem noch etwas anderes. Sie sagten, daß die alte Gräfin ihre Lebensarbeit bereits beendet habe, daß das, was man jetzt von ihr sehe, nur eine Ruine sei, daß auch sie selbst alle einmal so sein würden, und daß sie sich ihr gern fügten, sich gern überwänden, um diesem teuren Wesen gefällig zu sein, das einstmals ebenso lebensvoll gewesen sei, wie sie selbst, und jetzt ein so klägliches Schauspiel biete. »Memento mori«, sagten diese Blicke.

Unter allen Hausbewohnern waren es nur ganz schlechte und dumme Menschen und die kleinen Kinder, die das nicht verstanden und sich von der alten Gräfin fernhielten.

XIII

Als Pierre und seine Frau in den Salon kamen, befand sich die Gräfin in jenem gewohnheitsmäßigen Zustand, in dem es ihr ein Bedürfnis war, sich mit geistiger Arbeit, d.h. mit der grande patience, zu beschäftigen. Sie sagte zwar gewohnheitsmäßig die Worte, die sie immer sagte, wenn Pierre oder ihr Sohn zurückkamen: »Endlich, endlich, mein Lieber; wir haben dich ungeduldig erwartet. Nun, Gott sei Dank, daß du wieder da bist!«, und auch als ihr die Geschenke überreicht wurden, gebrauchte sie andere, ebenso gewohnheitsmäßige Redewendungen: »Noch mehr als über das Geschenk freue ich mich über die Gesinnung des Gebers. Ich danke dir, daß du mich alte Frau so bedacht hast«; aber trotzdem war es augenscheinlich, daß Pierres Kommen ihr in diesem Augenblick unangenehm war, weil es ihre Aufmerksamkeit von der noch nicht fertig gelegten grande patience ablenkte. Sie beendete die Patience und machte sich dann erst an die Geschenke. Diese Geschenke bestanden aus einem schön gearbeiteten Futteral für Spielkarten, aus einer hellblauen, mit einem Deckel versehenen Sevrestasse, auf welcher Hirtinnen dargestellt waren, und aus einer goldenen Tabaksdose mit einem Porträt des Grafen, das Pierre in Petersburg von einem Miniaturmaler hatte malen lassen. (Dies hatte sich die Gräfin schon lange gewünscht.) Sie hatte jetzt keine Lust zu weinen, und daher sah sie das Porträt gleichgültig an und beschäftigte sich mehr mit dem Futteral.

»Ich danke dir, mein Lieber; du hast mir eine große Freude gemacht«, sagte sie, wie sie immer sagte. »Aber das beste ist doch, daß du dich selbst wieder mitgebracht hast. Es war hier auch schon eine ganz tolle Wirtschaft; schelte nur deine Frau ordentlich aus. Was das nur vorstellen sollte? Wie eine Irrsinnige hat sie sich benommen, während du weg warst. Sie sah nichts und hörte nichts«, sagte sie, auch dies waren gewohnheitsmäßige Wendungen. »Sieh nur, Anna Timofjejewna, was für ein schönes Futteral uns mein Schwiegersohn mitgebracht hat.«

Fräulein Bjelowa rühmte die Geschenke und zeigte sich entzückt von dem Kleiderstoff.

Pierre, Natascha, Nikolai, Gräfin Marja und Denisow hatten allerdings den Wunsch, vieles miteinander zu besprechen, was sie in Gegenwart der Gräfin nicht wohl besprechen konnten, nicht weil sie ihr etwas hätten verheimlichen wollen, sondern weil sie mit ihren Kenntnissen auf vielen Gebieten so zurückgeblieben war, daß, wenn man anfing in ihrer Gegenwart über irgend etwas zu reden, man ihre störend eingeschobenen Fragen beantworten und ihr von neuem auseinandersetzen mußte, was ihr schon ein paarmal auseinandergesetzt worden war: daß der und der gestorben sei, der und der sich verheiratet habe, was ihr immer wieder entfiel. Aber trotz dieses Wunsches saßen sie wie gewöhnlich im Salon beim Tee um den Samowar herum, und Pierre antwortete auf die Fragen der Gräfin, die für sie selbst keinen Zweck hatten und auch sonst niemand interessierten: daß Fürst Wasili recht gealtert aussehe und Gräfin Marja Alexejewna ihm Grüße und Empfehlungen aufgetragen habe usw.